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Mörderische Schifffahrt
Mörderische Schifffahrt
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eBook942 Seiten13 Stunden

Mörderische Schifffahrt

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Über dieses E-Book

Ein Ausflugsschiff, auf dem gemordet wird, eine kleine Detektei, die einen scheinbar verrückten Klienten vertritt, ein Kinderschänder und eine wilde Schießerei. Ein mörderischer Krimi der Extraklasse. Packend bis zur letzten Seite und mit Humor geschrieben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Sept. 2014
ISBN9783847697503
Mörderische Schifffahrt

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    Buchvorschau

    Mörderische Schifffahrt - Charlie Meyer

    1

    »Aber nein«, wiederholte Dickie Blume zum zigsten Mal an diesem Abend liebenswürdig und lächelte, während er seine Klarinette wie einen Tamburinstab um den Zeigefinger wirbelte. Der Boden unter seinen Füßen vibrierte, und er hörte das dumpfe Dröhnen der Schiffsmaschinen, mit denen sich die Libelle stromaufwärts durch die Dunkelheit kämpfte. »Ich komme mir in Strumpfhosen keineswegs lächerlich vor. Sie sind warm, sie haben fröhliche Farben und sie sind figurbetont.« Er wiegte sich aufreizend in den Hüften. Vier Farben hatten sie, seine Strumpfhosen, ein Bein längs geteilt halb lila, halb gelb, das andere grün und rot. Auf seinem langen Wams wiederholten sich die Farben ebenso wie auf der Kappe mit den drei Pfauenfedern hinten und der langen Spitze vorn. »Wissen Sie, was ich glaube? Noch vor Ablauf von vierzehn Tagen – ach, was sage ich denn – am kommenden Montag schon – übermorgen - wird keiner ihrer Gatten mehr ohne seine bunten Strumpfhosen zur Bank gehen wollen. Ich schwöre Ihnen: Dieser Abend macht mich - den Rattenfänger von Hameln - zum Trendsetter der Mode von morgen!«

    Prustendes Gelächter der Bankerfrauen belohnte seinen Gag, und er versuchte erst gar nicht, das selbstzufriedene Grinsen zu unterdrücken, während die Kerze auf dem Tisch bedenklich ins Flackern geriet. Er war gut in seiner Rolle, ohne Zweifel der Beste. Kein Vergleich zum Klettenkönig, diesem Stümper von einer Märchenfigur. An ihm war alles perfekt: Sein Aussehen, seine Schlagfertigkeit, und wenn er es darauf anlegte, könnte er noch am selben Abend jede dieser sechs aufgedonnerten Weiber am Tisch nacheinander flach legen. Gleich unten in der Kabine im Achterschiff, die ihm der Schiffsführer zum Umkleiden zur Verfügung gestellt hatte. Er würde ihnen die glitzernden Abendkleider vom Leib reißen, die Saphire und Diamanten vom Hals, die Spangen, Kämmchen und Perlenketten aus ihren Frisuren zerren, aus ihren Pelzstolen ein weiches Lager auf dem Fußboden bereiten – die Kabinenbetten waren gerade mal siebzig Zentimeter breit – und dann ...

    »Also, ich persönlich kann darüber nicht lachen», unterbrach die Platinblonde am Fenster seine Sexfantasien pikiert. »Im Gegenteil. Ihr Aufzug ist dermaßen peinlich, dass sich jeder anständige Mann für Sie schämen muss. Haben Sie denn keine Selbstachtung? Kein Schamgefühl, sich auf einer Charterfahrt angesehener Banker wie ein Narr aufzuführen und wie ein Clown herumzulaufen? Allein die Schnabelschuhe, ich bitte Sie.« Sie hielt inne und blickte ihn herausfordernd an, die Augenbrauen hochgezogen, zwei steile Bögen über blassblauen Augen. Die Finger ihrer rechten Hand umklammerten den Griff des Messers neben dem Teller, als bräuchte sie eine Waffe gegen das ausgelassene Stimmengewirr im Salon des Fahrgastschiffes Libelle.

    Gott, dachte er ernüchtert, während er zum Ergötzen der übrigen Frauen am Tisch abwechselnd den Rechten und den Linken seiner gelben Schuhschnäbel auf und ab wippen ließ, eine von diesen selbstverliebten Schlampen gibt es wohl in jeder Gruppe. Humorlos, verklemmt und allein zu dem Zweck unterwegs, Spaß zu verderben. Ein Bremsklotz im Getriebe der Fröhlichkeit. Er warf ihr unter der langen Spitze seiner Kappe einen forschenden Blick zu. Fünfundvierzig schätzungsweise, manikürte Fingernägel in altrosa, alle zwei Wochen ein Friseurtermin für die goldblonden Haare, deren perfekte Innenrolle knapp über den Trägern ihres Abendkleides ausschwang. Etwas weit stehende blasse Augen, eine gelungene Nase mit einer kleinen, kecken Aufwärtsbewegung, so weit gar nicht mal so übel, wenn da nicht die senkrechte Kerbe über der Nasenwurzel gewesen wäre. Mit dieser Frau war nicht gut Kirschen essen. Kein Dornröschen, das sich wach küssen ließ, und wer es trotzdem versuchte, verwandelte sich in einen Frosch. Entweder ging ihr Mann fremd oder sie war eine verkappte Lesbe, da war sich Dickie sicher.

    »Entschuldigung, ich konnte Sie kaum verstehen bei all der Fröhlichkeit um uns herum.« Sein Lächeln fühlte sich plötzlich gefroren an. »Sie behaupten doch nicht etwa, Strumpfhosen seien unmännlich?« In einer wie zufälligen Bewegung ragte er mit der Hand die Zipfel seines vierfarbigen Wamses zur Seite und ließ die Goldblonde die Beule zwischen seinen Beinen sehen. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang, und während sich die anderen Frauen vor Lachen kreischend auf ihren Stühlen zurückwarfen und gegenseitig in die Rippen stießen, erstarrte die Frau am Fenster und stieß ein ungläubiges Keuchen aus.

    »Meine Damen!« Dickie verbeugte sich galant, und die langen Pfauenfedern an seiner Kappe schwangen hoch in die Luft. »Die Pflicht ruft mich bedauerlicherweise auch an die anderen Tische. Aber wir sehen uns im Laufe des Abends wieder. Was könnte einen armen, bunten Narren wie mich verführerischer locken als so viel geballte Schönheit.« Mit Sicherheit würde er nicht noch einmal seine Perlen vor die Säue werfen, obgleich es sich um den einzigen reinen Frauentisch im Salon handelte, und die gemischten Tische für ihn viel schwieriger in Stimmung zu bringen waren. Ein Frauentisch versprach hemmungslose Ausgelassenheit, ein Männertisch Lacher bei schlüpfrigen Witzen, ein gemischter Tisch harte Arbeit. Ausnahmen bestätigten natürlich die Regel, und der Alkohol, der an diesem Abend in Strömen floss, lockerte die eine oder andere verknöcherte Bankerseele schon auf.

    Da war zum Beispiel der nette Kerl mit dem Toupet, der ihm, es lag noch keine Stunde zurück, auf die Schulter geklopft und versichert hatte, was für ein glänzender Schauspieler er doch sei. Der Ärmste selbst war nicht gerade ein Blickfang mit seinen froschigen Glupschaugen und dem fliehenden Kinn, und wenn ihn beim Kauf des Toupets seine Frau beraten hatte, waren die Turteljahre seiner Ehe längst vorbei. Während seine eigenen Haare sandfarben waren, präsentierten sich die falschen mit einem aufdringlichen Stich ins Gelbe und waren, ganz ohne Scheitel, einfach von hinten nach vorn gekämmt.

    Der Rattenfänger verbeugte sich ein zweites Mal, diesmal mit ausgebreiteten Armen, und schielte unter seiner Kappe hinweg Beifall heischend in die Gesichter der Frauen. Sie waren vom Wein und vom Zusammengepferchtsein gerötet. Unscheinbare Gesichter eigentlich, doch die Ausgelassenheit verlieh ihnen eine Lebendigkeit, die nicht unattraktiv war. Zumindest jetzt noch nicht. Wenn sie in dem Tempo weitertranken, würde die eine oder andere von ihnen über der Kloschüssel hängen und die für die Charterfahrt georderten Weine – Pinot Grigio und Bardolino - in die Weser spucken. Unter dem Schiff konnten dann die Fische weiterfeiern.

    Es war eng und voll im Salon des Fahrgastschiffes Libelle. Drei Reihen mit Sechsertischen auf einem blauen Teppichboden mit kleinen, weißen Punkten, die Chartergäste auf den blau bezogenen Kirschholzstühlen Schulter an Schulter, und die gefühlte Temperatur lag irgendwo bei über dreißig Grad Celsius. Hundertfünfzig Leute passten in den Salon, hundertzwanzig saßen drin, die frei gebliebenen Tische im hinteren Teil des Salons waren zu einem Hufeisen zusammengeschoben worden und trugen die kläglichen Reste des vormals üppigen warm-kalten Büffets. Die Geräuschkulisse unter der niedrigen Decke war ohrenbetäubend. Wie die Luft schien sich auch das Stimmengewirr zu stauen, untermalt von der Musik des DJs.

    Dickie Blume, in dessen Taufschein Benediktus Blumenthal-Röder stand, richtete sich schwungvoll von seiner Verbeugung wieder auf, die Klarinette unter den Arm geklemmt und erwartete den verdienten Applaus. Durch die breiten, niedrigen Fenster an der Backbordseite sah er die Scheinwerfer der Autos auf der B83 zwischen den Uferbäumen aufblitzen. Vor ein paar Minuten hatte sich das Vibrieren unter seinen Füßen verstärkt und das Dröhnen in seinen Ohren war angeschwollen. Der Schiffsführer im Steuerhaus über Dickies Kopf, der einsamen Lichtinsel in der Finsternis vor dem Freideck, schien Gas zu geben. Gut so, je eher der Abend zu Ende ging ...

    »Hey«, fauchte eine aufgebrachte Stimme in seinem Rücken, kaum, dass er wieder stand, während etwas mit dumpfem Plumps auf dem Teppichboden landete. »Pass bloß auf deine Federn auf, du Rattenfänger, sonst rupf ich dich.«

    Er fuhr herum, und die drei langen Pfauenfedern an seiner Kappe schwangen schwungvoll mit. Dickie war sich nicht sicher, ob sie Rattenfänger oder Rattenficker gesagt hatte, das Stimmengewirr schickte sich an, das Schiff in die Luft zu sprengen. Ein leeres Glas kollerte unter den Frauentisch, und sein linker Schnabelschuh sog sich mit etwas voll, das von der Farbe her Apfelsaft sein konnte. Hinter ihm balancierte eine der Servierschnepfen ein volles Tablett überschwappender Gläser aus. Die Brünette mit den schmalen Augen und den großen, abstehenden Ohren, die sich durch die Haare schoben. Die Schnepfe in der schwarzen Hose mit den ausgebeulten Knien und dieser komischen Bluse, die mehr künstliche Knitterfalten hatte als Chartergäste. Und das waren immerhin hundertzwanzig Banker und Bankerfrauen. Aber angeblich waren Knitter gerade in.

    »Entschuldigung, gute Frau, aber ich versichere Ihnen bei den Schnäbeln meiner Schuhe, bei den Klappen meiner Klarinette und bei all den Schwänzen der Hamelner Ratten, wie unendlich zerknirscht sich meine armen Federn fühlen, einen derartigen Aufruhr verursacht zu haben. Könnten sie wohl durstig gewesen sein, so mir nichts, dir nichts in das nächstbeste Glas einzutunken?«, gurrte Dickies Mund aus lauter Gewohnheit, während er tatsächlich vor Wut einen Moment lang die Kontrolle über seine Gesichtszüge verlor und die Servicekraft wütend anfunkelte. Was wenn sie tatsächlich Rattenficker gesagt hatte? Und was unterstand sich die blöde Kuh überhaupt, seinen Auftritt zu stören? Die Gänge zwischen den drei Tischreihen waren zugegebenermaßen eng, aber sie sah doch, dass er den linken Gang blockierte, warum wich sie nicht aus? Man konnte sich auch ohne eine raumgreifende Theaterverbeugung und ohne vollem Tablett vor der Brust nur mit eingezogenem Bauch aneinander vorbeiquetschen. Gott, die verstand ja nicht einmal die Anspielung auf seinen Durst. Hatte ihn seit Beginn der Charter auch nur eine von diesen Schnepfen nach seinem Befinden gefragt? Ob er durstig sei? Oder hungrig? Oder sich einen Augenblick ausruhen möchte? Nicht eine! Es war schon ein Kreuz mit dem Servicepersonal und nicht nur mit dem. Fähige Leute wie ihn, weltgewandt, charmant und vor allem imstande, über die eigenen Schuhspitzen hinauszusehen, gab es kaum noch auf der Welt. In Hameln schon gar nicht.

    Die Brünette jedenfalls – wie hieß sie doch noch gleich? Lara, Laura? – verzog nur ihre vorlaute Schnute, dann zwängte sie sich wortlos an ihm vorbei und knallte den Gästen einen Tisch weiter die Gläser vor die Nasen. Schaum schwappte aus einem der Biere und blieb außen am Glas kleben. Der Banker hinter dem Bierglas, im Smoking mit Bauchbinde, fing den Schaum mit dem Zeigefinger auf und leckte ihn genüsslich ab. Was für ein Kretin!

    Dickie rümpfte die Nase und tanzte, nach rechts und links sich verbeugend, den Gang hinunter, während er ab und an ein paar Töne auf seiner Klarinette blies. Natürlich gingen sie wieder in der eintönigen Partymusik des DJs unter. Zum Heulen dieser Abend, dabei war ihm im Vorfeld die Aussicht, auf einem Schiff aufzutreten und von einer Gruppe Banker gebucht worden zu sein, überaus verlockend erschienen. Dazu noch sein erster Auftritt außerhalb der regulären Stadtführungen, bei denen er Gruppen von historisch-architektonischen Ignoranten die Weserrenaissance erklären musste.

    Auf den dunklen Schiffsbohlen der Tanzfläche hinterließ sein Apfelsaftschuh nasse Abdrücke. Er hörte den DJ ein entrüstetes Hey rufen, als er zur Theke schlenderte und seufzend nach einem Barhocker Ausschau hielt. Es gab keinen. Auch so ein Punkt, auf den die Hameln Marketing und Tourismus GmbH ein Auge haben sollte, bevor sie Rattenfänger vermietete. Arbeitsbedingungen. In diesem speziellen Fall waren sie miserabel. Überlaute, grauenvolle Musik von einem DJ, der auch ein gemaltes Bild an der Wand oder ein im Takt nickendes Hologramm hätte sein können. Keine Rückzugsmöglichkeit, nur die enge, ungeheizte Kabine im Unterdeck hinter der Schiffsküche, die zudem irgend so ein Depp abgeschlossen hatte, sodass er sich nicht einmal für fünf Minuten wegschleichen konnte, um auf der Koje sitzend eine Zigarette zu rauchen. Kein Barhocker, freche Bedienungen, und seine Gage war auch nicht viel mehr als ein Witz.

    Wen glaubten diese Ignoranten eigentlich vor sich zu haben. Einen Hanswurst? Er blickte sich nach dem Klettenkönig um, aber nicht einmal der stand ihm zur Verfügung, seinen Frust abzulassen. Die ganze Fahrt war ein einziges Desaster. Es fing schon damit an, dass diese Banker gleichzeitig ihn, den Rattenfänger, eine historisch verbürgte Persönlichkeit – oder doch beinahe verbürgt - und diese ulkige Märchenfigur, den Klettenkönig, gebucht hatten. Legte denn kein Aas mehr auf Qualität wert? Was trieb der Kerl eigentlich die ganze Zeit, außer alle Viertelstunde eine rauchen zu gehen, irgendwo hinter der Glastür, die zum Toilettenbereich und aufs Oberdeck führte?

    Diese Musik beleidigte seine Ohren. Klarinette oder DJ, dachte Dickie frustriert. Eins von beiden hätte an Land bleiben müssen. Zusammen vertrugen sie sich einfach nicht. Wenn es in diesem verflixten Salon wenigstens so etwas wie eine Bühne gegeben hätte, dann hätte er allen gezeigt, was Rattenfänger Dickie auf dem Kasten hatte.

    Er blickte sich im Salon um und schüttelte den Kopf. Dieses Schiff war eine einzige Enttäuschung. Er konnte sich an eine Dampferfahrt in seiner Kindheit erinnern, und was ihm dazu einfiel, waren die Worte aufregend und gemütlich. Hier aber stand er in einem großen, blauen Salon, der durchgehend vom Bug bis zum Heck reichte. Im Bug drängelten sich die Fahrgäste, auf der Tanzfläche hinter ihm herrschte gähnende Leere, und im Heck gammelten die Überreste der Schlacht am kalten Buffet vor sich hin. Der Salat welkte, der Lachs bekam wieder Schuppen, und die Dekoweintrauben schrumpelten zu Rosinen zusammen. Es stank nach Blauschimmelkäse und Harzer Roller. Der Einzige, der sich dort noch blicken ließ und zwischen seinen Zigarettenpausen seinen Wams vollschlug, war der Klettenkönig in seinem grünen, über und über mit künstlichen Kletten behängten Umhang und den braunen Pumphosen darunter. Als ob der Kerl sonst nichts zu Essen bekam.

    Soviel zur Gemütlichkeit.

    Was nun die Aufregung einer Schiffstour betraf: Draußen war es dermaßen dunkel, dass sich kaum das Wasser vom Land unterscheiden ließ. In den Fenstern sah man nichts als die Autoscheinwerfer auf der B83, den flackernden Kerzenschein und sich selbst beziehungsweise die Spiegelbilder trunkener Banker. Das Vibrieren unter seinen Füßen und das Dröhnen der Schiffsmaschinen ließen ihn nur mühsam die Augen offen halten. Zweimal zweihundertfünfzig PS Antriebleistung, hatte ihm der kleine bierbäuchige Kerl mit dem weißen Haarkranz erklärt, der Schiffsführer mit der Schnapsfahne. Neunundvierzig Meter lang, neun Meter breit, zwei Heckschrauben, eine auf der Steuerbord-, die andere auf der Backbordseite. Ein hohes, kompaktes Schiff mit dem Spitznamen Titanic. Für einen eher schmalen Fluss wie die Weser war die Libelle zweifellos ein Flussriese, ein nicht zu übersehender Störenfried, der mit seinem spitzen Bug durch das Wasser pflügte und die Kormorane und Reiher von den Ufern scheuchte. Daran änderten auch die beiden farbenfrohen Libellen nichts, die rechts und links der Bugspitze auf den Schiffsrumpf gemalt waren.

    Dickie lehnte mit dem Rücken am hinteren Teil der Theke und starrte trübsinnig in die Runde. Erhitzte Gesichter, im Kerzenschein funkelnde Rubine und Smaragde, Dekolletés bis zum Bauchnabel, verrutschte Fliegen, bekleckerte Smokingbrüste und die eine oder andere zerknüllte Serviette unter dem Tisch. Ein mieser Service, doch das Bankervolk schien sich zu amüsieren. Hinter der vorderen Theke, jenseits des Durchgangs, herrschte Hektik pur. Die Thekenschnepfen arbeiteten im Akkord, füllten mit der linken Hand Cola und mit der rechten Rotwein in Gläser, rissen die Getränkeschubladen unter der Theke auf, knallten sie mit den Knien wieder zu und zapften ganz nebenbei Dutzende von Bieren. Währenddessen spuckte die Computerkasse in ihren Rücken die Bestellungen aus, die die Servierschnepfen mit den Ordermen, den kleinen Bestellcomputern, an den Tischen aufnahmen. Der Papierschwanz ringelte sich bereits bis zum Boden. Vor der Theke bildete sich gerade ein Mob besonders durstiger Gäste, denen der Service zu lange dauerte, und in den Augen der Thekenschnepfen sah er ab und an etwas wie Panik aufblitzen.

    Miese Organisation, dachte Dickie nicht ohne Häme. Der Service ist sträflich unterbesetzt.

    Fünfundneunzig Prozent der Anwesenden feierten, wenn man das Herumsitzen und Saufen denn Feiern nennen konnte, fünf Prozent, zu denen auch er gehörte, schufteten, bis ihnen der Stirnschweiß in die Augen lief, und wenn er so in die Runde blickte, fing er nicht einen teilnahmsvollen Blick auf, der ihm gegolten hätte. Selbst der DJ auf der anderen Seite der Tanzfläche blickte wieder um Zentimeter an ihm vorbei. Die Gäste hatten sich längst in das Stadium getrunken, in dem sie sich sogar mit denjenigen Arbeitskollegen angeregt unterhielten, die sie nüchtern keines Blickes würdigten. Der Rattenfänger von Hameln fühlte sich verkannt, deprimiert und überflüssig. Wenn er jetzt über Bord fiele, krähte kein Hahn nach ihm. Vermissen würde man ihn wahrscheinlich erst, wenn er die schwammige, gesichtslose Konsistenz vollgesogener Wasserleichen angenommen hatte.

    Eigentlich war der Rattenfänger schon seit mindestens einer Stunde entbehrlich. Er hatte die Chartergäste auf dem Busparkplatz neben dem Anleger mit seinem Klarinettenspiel empfangen und war wie ein Narr zwischen ihnen herumgehüpft. Er hatte sie aufs Schiff und zu ihren Tischen geleitet. Er hatte sie zum Trinken animiert und sich in den vergangenen knapp drei Stunden alle Mühe gegeben, die Trantüte von DJ zu ersetzen und Stimmung in den Laden zu bringen, während sich der Klettenkönig, dieser faule Sack, auf dem Oberdeck die Fluppen reinzog. Oder wo auch immer. Und ihn, den Rattenfänger, hatten Skrupel davon abgehalten, sich zu dem netten, hässlichen Kerl mit dem Toupet zu setzen, als er eingeladen wurde. Schließlich war es sein Job, die ganze Gesellschaft zu unterhalten und nicht nur einen einzigen Tisch. Ehrlicherweise hatte es ihn auch nicht besonders gereizt, ausgerechnet am Tisch des Bankerchefs zu landen, der ihn engagiert hatte und ihn seit Beginn der Charter mit seinen Blicken regelrecht verfolgte. Ein eingebildeter Fatzke. Sie hockten zu dritt am Tisch: der Kerl mit dem Toupet, der Bankerchef mit seinen blonden Strähnchen und ein braun gebrannter Glatzkopf mit schwarzem Haarschatten in etwas wie einer Admiralsjacke mit Schulterklappen, Streifen und Sternen. Seine goldbetresste Uniformmütze lag mittlerweile unter dem Stuhl. Mitte dreißig, schätzungsweise, hockte er die meiste Zeit mit trübsinnigem Gesicht inmitten der fröhlich zechenden Banker und Bankerfrauen, und nur ab und an bekam er einen Anfall übertriebener Leutseligkeit, riss einen Witz und klopfte seinem Nachbarn derart auf den Rücken, dass Dickie beschwören konnte, dessen Toupet hochhüpfen zu sehen. Ansonsten hielt er sich an seinem Bierglas fest und winkte ab und an eine Servicekraft heran, um ihr etwas zuzuflüstern, das sie nicht eben glücklicher machte. Ihn auch nicht, so wie es aussah.

    Rattenfänger war kein leichter Job und das lag nicht nur an den albernen Strumpfhosen, den Schnabelschuhen und der blöden Kappe, unter der seine Kopfhaut permanent juckte. Was ihn am meisten nervte, waren die miesen Bedingungen, unter denen er auftreten musste. Sobald ihn die Berliner Philharmoniker oder die New Yorker Sinfoniker als Klarinettisten einstellten, würde er den Job an den Nagel hängen, egal, ob sein Chef bei der Stadt auf die Knie fiel und ihn anflehte zu bleiben, weil er so herausragend war. Der geborene Entertainer, ein begnadeter Schauspieler, ein brillierender Musiker, und was seine architektonischen Kenntnisse und pädagogischen Fähigkeiten betrafen, musste er sich auch nicht gerade hinter der Tapete verstecken. Einen Moment lang hörte er in der Albert Hall den Applaus aufbranden, die Standing Ovations für den Paganini der Bläser.

    Er lächelte seinem Ebenbild an der verspiegelten Wand hinter der Theke zu, während seine Finger geistesabwesend das kalte Metall der Klarinette streichelten, die vor ihm auf dem Tresen lag. Da stand er, Dickie Blume, und lächelte sich zu. Römisch irgendwie im Profil, mit seiner starken, gekrümmten Nase und den vollen Lippen, mit den pechschwarzen Haaren, den dunklen Augen und der olivfarbenen Haut. Die beiden, nicht eben kleinen, Leberflecken neben dem linken Mundwinkel und etwas höher neben dem Auge störten so gut wie gar nicht. Im Gegenteil, sie gaben seinem Gesicht eine interessante Note, der Frauen kaum zu widerstehen vermochten.

    Klarinettist des Jahrhunderts, dachte er und atmete schwer. Albert Hall, Sydney Opera, Metropolitan Theatre. Natürlich musste er erst noch vorspielen und diese alberne Einstellungsbürokratie hinter sich bringen, aber dann, wenn er erst ein Star war ...

    Ein Penthouse in Cannes, eine Jacht in Malibu, Urlaub auf den Kapverden, die Welt lag ihm zu Füßen. Er musste sich nur bücken. Morgen. Oder übermorgen. Erst einmal brauchte er etwas zu trinken, bevor er vollends austrocknete, ein Gedanke, der ihn flugs zurück in die Realität brachte. Getränke würden doch wohl im Buchungsvertrag enthalten sein, wenn schon kein Stuhl.

    Ein Alster vielleicht. Nein, nichts mit Bier, ein Künstler, der aus dem Mund nach Bier stank, war allenfalls ein Klampfe spielender Bourgeois. Ein Straßenmusiker. Ein zweiter Klettenkönig. Behauptete Patty, seine Verlobte, und damit hatte sie ausnahmsweise mal recht.

    »Wird abserviert, sobald ich meinen Vertrag mit den Philharmonikern unterschrieben habe«, murmelte Dickie. Eine Patrizia Müller passte einfach nicht zu einem Star, eher schon eine Thurn und Taxis oder ein Mädel aus dem Welfenhaus. Eine von und zu jedenfalls oder wenn sich nichts Ansehnliches unter dem Adel fand, tat es auch eine Hilton oder Gates. Ein Geld-Adel-Jet-Set-Mädel mit gewissen Gelüsten. Patrizia Müller war nichts als ein Stoffel vom Land, auch wenn sie sich Patty nannte. Puttchen Brammel eben.

    Sollte er einen Apfelsaft trinken wie die Goldblonde, diese Dumpfbacke am Weibertisch? Igitt. Er legte die Unterarme auf die Theke und stützte sich schwer ab. Er war jetzt seit sechzehn Stunden auf den Beinen. Drei Stadtführungen am Vormittag, zwei am Nachmittag und jetzt die Charterfahrt. Während sich der hauptamtliche Rattenfänger auf einer Promotiontour durch Amerika mit Dagobert Duck fotografieren ließ, musste er schuften. Seine Füße brannten und die Banker hatten das verdammte Schiff bis ein Uhr nachts gebucht. Ihn auch. Er trug keine Armbanduhr, natürlich nicht in einem Kostüm aus dem dreizehnten Jahrhundert, aber bei einer vorübereilenden Serviceschnepfe erhaschte er einen Blick auf die Zeit.

    Großer Gott, erst Viertel vor elf. Er blickte sich verzweifelt um. Keine Spur vom Klettenkönig. Entweder rauchte er draußen oder schleimte sich wieder bei den Bankern ein, denen er hinterherstürzte, sobald auch nur einer von ihnen den Salon verließ. Oder er legte unten in der Küche oder Kombüse, oder wie immer man das auf Schiffen nannte, die Pumphosenbeine hoch und spielte vor den Küchenschnepfen den großen Macker. Kein Ehrgeiz der Kerl und nicht einmal die Hälfte seiner Gage wert. Wie war Nimsch überhaupt an den Job gekommen, und wer hatte jemals von einer Märchenfigur gehört, die Klettenkönig hieß? Roland Nimsch, du lieber Himmel, den kannte er schon, seit er ein Knirps gewesen war, zumindest vom Sehen und Hörensagen. Ein Raufbold, ein Krimineller ohne Moral und Anstand. Mittlerweile war er mit seinen sechzig Jahren schon fast ein alter Herr und offenbar solide geworden. Aber damals, vor vielleicht fünfzehn Jahren, als er, hatte er eine ganze Zeit lang in der Fußgängerzone auf einer Pappe gesessen und gebettelt, von zwei schwarzen Dobermännern flankiert, sein Rattengesicht mit den kleinen dunklen Knopfaugen zu einer Grimasse verzogen, die er wohl für ein freundliches Grinsen hielt. Dickie konnte sich noch daran erinnern, dass damals Nimschs lange Stirnnarbe ganz frisch und noch blutrot gewesen war. Fingerdick, mit schwarzen Fäden genäht und so Angst einflößend, dass er das Bettelgeschäft schließlich aufgeben musste, weil es die Leute gruselte und sie einen großen Bogen um ihn schlugen. Bis heute kursierten haarsträubende Gerüchte über Roland Nimsch. Schlägereien, eine Messerstecherei in seiner Zeit als Rausschmeißer in einer Dorfdisco, zwei Jahre Santa Fu, dem Knast in Hamburg-Fuhlsbüttel, und was sich sonst noch so fand.

    Einen Moment lang schoss es Dickie Blume durch den Kopf, dass auch er nur um Haaresbreite daran vorbeigeschrappt war, in die Kriminalität abzurutschen, aber dieses kurze Aufblitzen kritischer Selbsterkenntnis erlosch sofort wieder. Seine Situation war eine ganz andere gewesen. Kein Vergleich. Wirklich nicht. Den Klettenkönig jedenfalls spielte Nimsch, wie Dickie gerüchteweise gehört hatte, nur sporadisch, während Rattenfänger ein Vollzeitjob war, wenn auch nur zur Aushilfe, um die Arbeit für den Hauptamtlichen zu machen, der sich Gott weiß wo herumtrieb.

    Körperlich und geistig ermattet beobachtete er die beiden Thekenschnepfen. Sie sahen gestresst aus, und die ungeduldigen Gäste vor dem Tresen wurden mit grimmigen Blicken abgefertigt. Der sympathische Kerl mit dem Toupet drängelte sich gerade vor. Sein Gesicht leuchtete so rot wie die Laterne vor einem Puff und glänzte wie eine polierte Tomate, während seine lebhaften Froschaugen, solange er auf sein Getränk wartete, auf Wanderschaft gingen. Als er zu ihm herüberblickte, hob Dickie die Hand zu einem müden Gruß, und der Kerl grinste plötzlich wie ein Honigkuchenpferd, während der Kopf zum Gegengruß heftig nickte. Wie hieß er doch noch gleich? Irgendein so ein Hundename. Lassie? Quatsch. Rintintin wohl ebenso wenig. Hasso! Ja, richtig Hasso Sowieso, an den Nachnamen erinnerte sich Dickie nicht mehr.

    Eben bekam er seinen Longdrink – Whiskey mit Cola? – in die Hand gedrückt, und Dickie rückte an der Theke erwartungsvoll zur Seite, da drehte ihm der Kerl doch einfach den Rücken zu und wankte breitbeinig zu seinem Tisch zurück, wo er sich mit einem Seufzer zwischen dem trübsinnig blickenden Glatzkopf in der Admiralsjacke und dem Bankerchef im schwarzen Armanismoking auf einen Stuhl plumpsen ließ.

    Das hell erleuchtete Schnellboot der Wasserschutzpolizei brauste an den Backbordfenstern vorbei, eine Frau mit langen blonden Haaren am Ruder, und die Libelle begann wild zu schaukeln. Dickie glaubte Heidi Klum erkannt zu haben und runzelte irritiert die Stirn. Seine Laune sank auf einen neuen Tiefpunkt, als er zu dem Tisch mit dem untreuen Toupet blickte und den bösen Blick des Bankerchefs auf sich gerichtet sah. Leck mich, du Wichser, dachte er verärgert und konzentrierte sich wieder auf die Thekenschnepfen. Sie beachteten ihn nicht, und als ihn dann doch plötzlich der Blick der kleinen Pummeligen traf, schrak er unwillkürlich zurück. Du lieber Himmel, wenn Blicke töten könnten, wäre er jetzt, in diesem Augenblick, von hundert Pfeilen durchbohrt, hintenüber gekippt. Wenn sie dem Stress nicht gewachsen war, dann sollte sie eben putzen gehen. Wie kam diese Schnepfe überhaupt dazu, ihn herumkommandieren zu wollen, wenn auch nur mit Blicken. Steh nicht so faul rum! Mach dich gefälligst auf deinen albernen Schnabelschuhen vom Acker und unterhalte die Gäste. Er war schließlich keins ihrer schwarz-weißen Gänschen, die eben jetzt mit vollen Tabletts in alle Richtungen davonstoben.

    Du mich auch, dachte Dickie Blume empört und zwinkerte ihr lächelnd zu. Der eher farblose Typ Frau mit dünnen, glatten Haaren unbestimmter Farbe – aschblond oder schmutzig braun? - die strähnig und ungewaschen aussahen. Ein Vollmondgesicht mit mehr Sommersprossen, als der Nachthimmel Sterne hat, mit Pausbacken und zehn Kilo zu viel auf den Hüften von der täglichen Tafel Schokolade. Der Typ, der absichtlich nichts aus sich macht, damit ihm kein Schwanzwesen auf die Pelle rückt. Die Augen allerdings waren ein Hit: so leuchtend blau wie Bergseen im Sonnenschein.

    Kommt schon, Mädels, ihr werdet doch einen so attraktiven Mann wie mich nicht verdursten lassen. Dickie Blume verbreiterte sein Lächeln.

    Die sommersprossige Pummelige, die in einem knielangen schwarzen Rock und einer weißen Wickelbluse steckte – beides brachte jede einzelne ihrer Speckrollen prächtig zur Geltung - blickte angewidert zur Seite. Dafür erbarmte sich ihre Kollegin seiner, eine magere Bohnenstange mit hageren Gesichtszügen und einem dünnen, schwarzen Pferdeschwanz, die Mareike hieß, wie er sich dunkel erinnerte. Wenn man denn ihre gebrüllten Worte »Was willste?« als Erbarmen deuten mochte. Sie visierte ihn mit den traurigen Triefaugen eines Spaniels an, und auf jeder ihrer Wangen blühte ein kreisrunder, knallroter Fleck.

    Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich taub zu stellen, doch dann siegte der Durst.

    »Der Rattenfänger von Hameln könnte ein Glas Sekt vertragen, wenn’s genehm ist!«, brüllte er zurück und zeigte in einem letzten Aufbäumen seines Charmes all seine strahlend weißen Zähne in einem bewährten Grinsen von Ohr zu Ohr. Sekt war perfekt. Keine Fahne, sein Kreislauf würde angeregt, und vielleicht hob sich seine Stimmung sogar dermaßen, dass er die verflixte Goldblonde vom Frauentisch mitsamt ihrer steilen Falte ein weiteres Mal ertrug.

    Zehn Sekunden später perlte Sekt in einem langstieligen Glas, und die hagere Mareike knallte ihm die halb leere Piccoloflasche auf den Tresen.

    »Fünf Euro fünfzig«, brüllte sie gegen den DJ an, der, urplötzlich zum Leben erwacht, Reinhard Mays Gute-Nacht-Freunde in voller Lautstärke spielte und zu allem Überfluss auch noch mitsang. Höchstwahrscheinlich war er dem Irrtum erlegen, es ginge auf eins zu und seine Schicht sei beendet. Dabei war es erst Viertel vor elf – für einen Rausschmeißer viel zu früh.

    »Was?«, brüllte Dickie zurück, der glaubte, sich verhört zu haben, während der DJ ... und ein letztes Glas im Stehen ins Mikro jaulte.

    »Fünf Euro fünfzig«, brüllte Mareike ein zweites Mal. »Umsonst gibt’s für Angestellte nur Mineralwasser oder Kaffee!« Sie holte ein großes, schwarzes Kellnerportemonnaie unter der Theke hervor und klatschte es auf den silberfarbenen Ablauf der Zapfanlage.

    Rattenfänger Dickie starrte ungläubig auf den perlenden Sekt im Glas, dann auf das Portemonnaie und schließlich in Mareikes hageres Gesicht. Sah sie nicht aus wie ein gieriger Raubvogel mit ihrer langen, krummen Nase? Die Spitzen seiner Pfauenfedern zitterten vor Entrüstung.

    »Ist nicht dein Ernst!«

    »Hey, Mareike, wir haben Gäste!«, brüllte die kleine Pummelige mit dem Sommersprossengesicht und den strahlend blauen Augen von der vorderen Theke herüber. »Schwing deinen Arsch hierher aber ein bisschen dalli.«

    »Komme sofort, Inga.« Mareike blickte noch immer in Dickies Gesicht, und zu seiner Überraschung sah er ganz plötzlich diesen leicht glasigen Blick, den die Mädels bekamen, sobald sie sich in seinen dunklen wimpernbewehrten Augen verloren. Na also, klappte doch. Der Raubvogel hatte sich verguckt.

    Inga, der Pummel, verdarb ihm den Spaß. Wer sonst! Ein paar eilige Schritte, dann schubste sie Mareike mit grimmigem Blick zur vorderen Theke hinüber und fauchte Dickie ein böses Fünf Euro ins Gesicht. »Aber mach hin, mein Lieber. Zechpreller gehen bei uns über die Planke!«

    Dickie zuckte zusammen und fauchte ebenfalls: »Schreib’s auf, du ...« Er hielt gerade noch inne und atmete tief durch. »Mein Geld ist unten in der Kabine und die hat irgend so ein Depp, den ich nicht ausfindig machen kann, abgeschlossen. Übrigens werde ich mich bei der Stadt über die Knickrigkeit hier bei euch an Bord beschweren.«

    »Tu das«, brüllte die Sommersprosse ungerührt zurück. Sie hatte die Ärmel ihrer weißen Wickelbluse hochgekrempelt, und ihre Hände tropften vom Gläserspülen. »Aber bedenke eins: Hinter dir stehen jede Menge arbeitsloser Schauspieler Schlange, um Rattenfänger zu werden. Talentierte Schauspieler, meine ich.« Sie schrieb Piccolo auf einen Bestellblock, machte einen Strich dahinter und notierte darunter: RF. »Spätestens halb eins will ich das Geld sehen. Bevor wir anlegen, nur damit das klar ist.« Dann war sie weg.

    RF heißt mit Sicherheit Rattenficker, dachte der Rattenfänger leicht betäubt und sehr bitter und nippte vorsichtig am teuren Sekt. Talentierte Schauspieler, meine ich. Pah, ein Scheißjob, alles in allem. Einem spontanen Einfall folgend, schnappte er sich Glas und Flasche, fuhr auf den Hacken herum – und erstarrte. Die Tanzfläche hinter ihm war rappelvoll mit schwofenden Bankerpaaren. Der Kerl mit dem Toupet schwankte mit der selig lächelnden Goldblonden im Arm vorüber, der Kahlköpfige im Admiralskostüm tastete sich das Rückendekolleté einer Schwarzhaarigen hinunter, und der Bankerchef warf ihm im Vorübertanzen einen grimmigen Blick zu. Am Rand der Tanzfläche posierte einer der Nautiker, der weißblonde Zweimetermensch, Arm in Arm mit Bankern für Kamera und Blitzlicht.

    Wie kamen all die Leute plötzlich hinter ihn? Irgendetwas musste er, Dickie, in der Zwischenzeit verpasst haben, und er fragte sich beunruhigt was und wieso. Kopfschüttelnd und so unauffällig wie möglich schlängelte er sich mit seinem Sekt zwischen den Paaren hindurch, und eilte am gerupften Büffet vorbei zur Glastür, die die Toiletten und die steile Eisentreppe zum Oberdeck vom Salon trennte. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel und der Krach abrupt endete, atmete er tief durch. Das Dröhnen der Schiffsmaschinen störte ihn nur unwesentlich.

    Dickie stellte Flasche und Glas auf einem Tischchen vor den Toiletten ab und schob die breite Tür auf. Auch das noch, dachte er frustriert. Roland »Der Klettenkönig.« Nimsch stand vor einem der drei Urinale, den Rücken durchgebogen, die Hüfte vorgeschoben, die Pumphosen auf den Knien und erleichterte sich. Er trug Boxershorts mit gelb-schwarzen Bienchen, aber die täuschten Dickie nicht darüber hinweg, dass Nimsch alles andere als harmlos war. Unter der grünen Waldschratkappe mit den Kletten lugte ein eisgrauer Bürstenschnitt hervor, und seine Nase war an einer Stelle eingedellt, die Mutter Natur so nicht vorgesehen hatte. Über seine Stirn lief schräg die berühmte Narbe und das Kinn im breiten Gesicht zierten schmutzig graue Stoppeln, aber die mochten auch zu seiner Rolle gehören.

    »Tag Klettenkönig«, sagte Dickie ergeben. »Scheißjob, was?« Er zog sich die bunten Strumpfhosen bis auf die Knie und fummelte am Schlitz seiner Unterhose herum.

    »Hallo Blumenthal«, grüßte Nimsch zurück und es klang wie heul doch, du kleiner Scheißer.

    Dickie Blume presste die Lippen zusammen und schob die Hüfte vor. Ein gewaltiger Strahl plätscherte in das Porzellanbecken des Urinals, und er fragte sich irritiert, woher all die Flüssigkeit kam, wo er doch seit Stunden nichts mehr getrunken hatte.

    »Wie sind Sie denn an den Job hier gekommen, wenn ich mal fragen darf?«, fragte Dickie wie nebenbei, während er die perfekte Rundung seines Strahls bewunderte. Das Siezen diente zur Wahrung der Distanz, einem karrierebewussten Rattenfänger tat es nicht gut, sich mit gemeinen Klettenkönigen zu verbrüdern.

    Nimsch zuckte die Achseln und stopfte sein bestes Stück in die Boxershorts zurück. »Geschäftsbeziehungen«, entgegnete er forsch und grinste breit. Seine Stimme klang so rau, wie man es von einem Klettenkönig aus des Waldes düsterer Tiefe erwarten durfte. »Hier und da das passende Wort an passender Stelle, ein paar Investmentfonds und schon laden unsereins die Banker zu ihren Charterfahrten ein.« Er zog die Pumphosen hoch und ordnete seinen klettenbenähten Umhang. »Wer ist denn dein Anlageberater? Herr Pleitegeier?« Damit drehte er sich um und schlenderte zur Tür.

    »Sehr witzig«, knurrte der Rattenfänger verschnupft und zeigte dem Rücken des Klettenkönigs den Stinkefinger.

    »Ich hoffe nicht, dass der für mich bestimmt ist«, knurrte der Chef der Banker, der sich in genau diesem Moment an Nimsch vorbei ins Klo schob. Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann, dem man es ansah, dass er seine Freizeit mit einem Tennis- oder Golfschläger verbrachte. Wie hieß er noch gleich? Von ... Sowieso? Auch egal. Eins musste ihm der Neid lassen: Der teure Smoking stand ihm ausgesprochen gut.

    »Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Dickie zu sagen, und überlegte gerade, ob er noch eine abfällige Bemerkung über seinen Kollegen, den Klettenkönig, anhängen sollte, als ihm der Banker zuvorkam.

    »Rivalität unter Märchenfiguren?«

    »Höflichkeiten unter alten Bekannten«, entgegnete Dickie Blume steif. »Außerdem ist der Rattenfänger von Hameln eine Sagengestalt von historischem Wert – beinahe schon eine historisch verbürgte Persönlichkeit - während der Klettenkönig ...« Er brach ab, zuckte abwertend die Achseln und konzentrierte sich dann auf seine Strumpfhosen, die auf halbem Oberschenkel festsaßen.

    »Verstehe.« Der Banker zog mit schlanken, gebräunten Fingern den Reißverschluss seiner Hose herunter. Er mochte um die vierzig sein. Seine blond gesträhnten, welligen Haare waren aus dem schmalen braunen Gesicht nach hinten gekämmt, und der breite Goldring an seinem Finger ein Vermögen wert.

    Mit dem goldenen Löffel im Mund geboren, dachte Dickie Blume neidisch. Ein Ferrari in der Garage, eine Villa am Stadtrand, und in der Bank lässt er arbeiten und betreut allerhöchstens VIP-Kunden. Zu allem Überfluss war er von Adel, ein Baron oder Graf oder so. Wie auch immer. Jedenfalls fuhr er eines Morgens bei der Tourist-Information vor und ließ sich ihn, Dickie, den Aushilfsrattenfänger, der zufällig gerade anwesend war, vorführen. Vom Chef der Tourist-Information persönlich, dieser arrogante Arsch. Als Erstes war Dickie die leise, kultivierte Stimme aufgefallen, ein Produkt Jahrhunderte währender Stammbaumplanungen, als Zweites der Name unter dem Kontrakt.

    Ein von und zu, der sich zwei Minuten Zeit nahm, um Dickies Eignung für den Job zu überprüfen. Gott, wie er solche Arschlöcher hasste. Er verkniff sich die Frage, ob dem Herrn seine Charter denn gefalle, die Antwort glaubte er ohnehin zu kennen. Ein Pfau, der sich für einen Abend unter die Hühner mischte, aber in ihrem Rücken kalt lächelnd ein Rad schlug.

    Kalt, dachte der Rattenfänger, genau so ist sein Lächeln hinter der Fassade. Und kalt sind auch seine Augen. Genauer gesagt waren sie grau – stahlgrau. Eines strahlten sie mit Sicherheit nicht aus: Wärme. Oder Herzlichkeit oder irgendetwas anderes, das einen willkommen hieß, wenn man den Kerl ansah.

    »Ich geh dann mal wieder«, murmelte er, weil ihm nichts Besseres einfiel, und konnte sich einen letzten Blick auf den aristokratischen Penis nicht verkneifen. Er lächelte. Weder blau noch verziert, sondern rot und schrumpelig wie sein Eigener, und es sprudelte auch kein flüssiges Gold aus ihm, sondern, genau wie bei ihm, stinkender Urin.

    »Herr Blumenthal!«

    Dickie stoppte. »Blumenthal-Röder.« So viel Zeit musste sein. »Ja?«

    »Sie planen aber noch nicht, sich für heute zur Ruhe zu setzen, nicht wahr?«

    Wie er sie hasste, diese leise kultivierte Stimme, die Kehle, aus der sie kam, den Körper, zu dem die Kehle gehörte und diese ganze arrogante Aristokratie. »Nein«, erwiderte er forsch, ohne sich umzudrehen. »Ich mache lediglich die von der Gewerkschaft der Sagen- und Märchenfiguren vorgeschriebene Pause. Unser Vorsitzender, der Herr Rübezahl, reagiert ein wenig eigen auf die Nichteinhaltung gewerkschaftlicher Vorschriften.«

    Felix von Hohenroth lachte, aber es war kein nettes Lachen. Es hallte dem Rattenfänger noch immer in den Ohren, als er in der Schiebetür dem Kahlkopf in der Admiralsjacke auswich, der seinem Tischnachbarn beim Pinkeln wohl Gesellschaft leisten wollte. Schwul, dachte Dickie voll Abscheu. Beide höchstwahrscheinlich stockschwul. Igitt.

    Er zwängte sich hastig an dem Kahlköpfigen vorbei und verzog das Gesicht, als ihre Arme sich streiften. Ganz hinten im Schiff, noch hinter der Eisentreppe zum Oberdeck, gab es eine Glastür, die auf ein kleines Achterdeck führte. Am Glas klebte ein Schild: Zutritt ausschließlich für Personal. Dickie sah sich verstohlen um. Als die Luft rein war, stieß er die Tür schnell auf, schlüpfte hindurch, schloss die Tür hinter sich und trat rasch einen Schritt zur Seite. Raus aus der Lichtschneise, nicht, dass ihn gleich noch die Pummelige in einer verbotenen Zone erwischte. Er stand auf einem halbrunden Minideck, keine zwei Meter lang, auf dem, am Rand der Lichtschneise, ein uralter Grill vor sich hinrostete. Unter dem Grill stand ein grün verschmierter Farbeimer. Auf dem Grillrost lag ein grün verschmiertes Messer mit schwarzem Griff und langer Klinge. An der hinteren Reling, die erst zur Hälfte gestrichen war, hing ein Rettungsboot, nur unwesentlich größer als ein Schuhkarton.

    Und die übrigen hundertfünfzehn Banker und Bankerfrauen schwimmen hinterher, dachte Dickie, um Selbstaufmunterung bemüht, während er in der dunklen Ecke zwischen Schiff und Reling nach der dicken Taurolle tastete, von der er wusste, dass sie dort lag. Seufzend ließ er sich nieder. Wie tief war die Weser eigentlich? Zwei Meter? Oder drei? Und was für einen Tiefgang hatte das Schiff? Konnten sie überhaupt sinken? Der kleine Dicke mit der Fahne, der Schiffsführer aus dem Steuerhaus, hatte etwas von sechzig Zentimeter Tiefgang gesagt, wenn er sich richtig erinnerte und von einem platten Kiel, einem Flachgänger, was immer er sich darunter vorzustellen hatte.

    Ach was, wen interessierte das eigentlich? Schließlich fuhr er nicht auf der wirklichen Titanic und aller Wahrscheinlichkeit nach kam auch kein Eisberg die Weser heruntergeschwommen. Er kramte eine Schachtel Pall Mall und ein Feuerzeug aus dem grünen Filzbeutel an seinem Gürtel, schnippte gegen die Schachtel und zog mit spitzen Lippen eine Zigarette heraus. Sein einziges Laster, zurzeit jedenfalls und nicht mehr lange. Als erster Klarinettist würde er das Rauchen aufgeben müssen. Schade eigentlich.

    An dieser Stelle seiner Überlegungen fiel ihm ein, seine Klarinette auf dem Tresen liegen gelassen zu haben. Einen kleinen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, das Instrument vor dem Bankerpöbel im Salon in Sicherheit zu bringen. Doch er blieb sitzen. Diese Klarinette war das Ehrfurcht gebietende Instrument des Rattenfängers, und wer bestahl schon den Rattenfänger? Nicht einmal Banker. Zudem musste jeder potenzielle Dieb an den Thekenschnepfen vorbei, und an der Sommersprossigen vorbeizukommen schien Dickie gefährlicher als ein Spaziergang über eine Weide, auf der Bullen mit den Hufen scharrten. O nein, seine Klarinette lag dort drinnen so sicher wie der Goldschatz in Fort Knox. Dazu noch im Warmen.

    Ihn hingegen fror. Im Sommer musste es Spaß machen, hier draußen auf der Taurolle zu sitzen und den Rauch in den Fahrtwind zu blasen. Ein lauer Abend, ein Glas Sekt, eine zutrauliche Möwe auf der Reling, Dickie Blume sehnte sich nach Wärme und Geborgenheit. Anfang Mai, um elf Uhr abends, war das zugige Achterdeck eine Strafe, die man notgedrungen über sich ergehen lassen musste, wenn die Sucht rief. Das neue Nichtrauchergesetz war schuld. In Gaststätten durfte nicht mehr geraucht werden, und der bewirtschaftete Salon eines Dampfers zählte als Gaststätte. Zwar handelte es sich bei den Chartergästen um eine geschlossene Gesellschaft, für die eigene Regeln galten, aber seit es dieses Nichtrauchergesetz gab, gingen die Nichtraucher viel radikaler zur Sache. Eine weitere dieser Zumutungen. Vom Oberdeck, zwei Meter höher, hörte er Füße scharren und jemanden halblaut fluchen. Noch so ein Süchtiger, dem vor Kälte die Knochen klapperten. Der Fahrtwind pfiff Dickie um die Ohren, das Wasser um ihn herum strahlte eine Kälte ab, die seine Zähne klappern ließ, und Möwen gab es keine weit und breit.

    Als er um neunzehn Uhr aufs Schiff gekommen war, hatte er als Erstes ein verstecktes, gemütliches Plätzchen gesucht, und um neunzehn Uhr war das kleine Achterdeck von den Temperaturen her tatsächlich noch ein gemütliches Plätzchen gewesen. Ein Rattenfänger durfte sich ganz einfach nicht in aller Öffentlichkeit eine Fluppe zwischen die Lippen stecken. Zumindest nicht kostümiert und im Dienst. Er repräsentierte schließlich die Stadt und nicht zuletzt die Jahrhunderte des Mythos vom bunten Vagabunden, der Hameln von einer Rattenplage befreite, von den Stadtvätern um seinen Lohn betrogen wurde und aus lauter Rache die Hamelner Kinder entführte. Wohin auch immer. Darüber stritten sich die Gelehrten bis heute, und genau dies, das Mystische, Geheimnisvolle, das offene Ende der Sage, lockte die Touristen, auf den Spuren des Rattenfängers durch die schmalen Gassen der Altstadt zu wandeln.

    Der Rattenfänger von Hameln, ein Serienkiller?, fragte sich Dickie plötzlich milde erheitert. Oder ein Kinderschänder? Vielleicht sogar beides? Verheimlichten die Stadtoberen möglicherweise diesbezügliche Forschungsergebnisse, um keine Touristen zu vergraulen? Im Jubiläumsjahr 725 Jahre Rattenfängersage hatte es sogar eine neue Werbekampagne zum Thema mystisch-magisch gegeben. Riesige Plakate in schwarz und weiß mit überdimensionalen Ratten, von unten mit gebleckten Zähnen fotografiert. Darunter dann die Schrift: Schatz, wo sind unsere Kinder geblieben? Eine Umfrage hatte in Bezug auf bunte, wie Narren herumspringende Rattenfänger gewisse Ermüdungserscheinungen ergeben. Rückläufige Besucherzahlen. Vielleicht, so schienen sich die Stadtmanager überlegt zu haben, kamen die Touristen ja wegen der Ratten zurück, auch wenn sie der Fänger zu langweilen begann. Ignoranten, alle miteinander.

    Eine Saison. Höchstens, nahm sich Dickie Blume, der Aushilfsrattenfänger, vor. Im Herbst bin ich weg. Spätestens.

    Es war stockdunkel in seiner Ecke. Der schwache Lichtschein aus dem Gang schlug, zwei oder drei Meter neben ihm, eine schmale Schneise in die Finsternis. Dickie blickte seufzend gen Himmel. Nachtschwarz! Da blinkte kein Stern, da leuchtete kein Mond, ein Himmel wie ein schwarzes Leichentuch. Einfach nur deprimierend. Der Fahrtwind zauste die drei langen Pfauenfedern an seiner Kappe, die er sich zwischen die Füße geklemmt hatte. Diese alberne rot-grüne Kappe, die vorn in einer dermaßen langen Spitze auslief, dass sie bei hochstehender Sonne einen Schatten auf seine Schnabelschuhe warf.

    Von oben hörte er eine Stimme etwas murmeln. Es klang wie Komm schon, du Wichser, und als er vorsichtig nach oben lugte, sah er eine schwarze Gestalt sich über die Reling beugen. Dickie Blume rührte keinen Muskel, bis sich die Gestalt mit etwas, das wie ein gemurmelter Fluch klang, zurückzog. Die Stimme gehörte Roland Nimsch. Dickie verzog das Gesicht. Die wievielte Zigarette rauchte der Kerl da oben schon? Die Zwanzigste oder Dreißigste? Was für ein erbärmlicher Faulpelz. Die Kohlen einheimsen, aber andere für sich schuften lassen.

    Die Schrauben der Libelle wühlten das dunkle Wasser auf. Eine helle Gischtspur folgte dem Schiff.

    Dickie beugte sich weit vor und steckte den Kopf zwischen die Knie, in der Hoffnung, irgendwo dort unten eine halbwegs geschützte Stelle zu finden. Der Wind blies ihm ständig das Feuerzeug aus. Während er sich vorbeugte und sein Gewicht verlagerte verrutschten die Tauschlingen unter seinem Hintern, und als er sie wieder zu ordnen suchte, quiekte er erschrocken auf. Etwas, was aus den Schlingen gerutscht war, hatte seine Finger gestreift. Mit klopfendem Herzen tastete er in der Finsternis danach. Ganz vorsichtig. Nicht dass es ein Fell hatte, einen langen Schwanz und Nagezähne. In seinem Vertrag stand nichts von echten Ratten. Die Ratten, die dem hauptamtlichen Rattenfänger sonntags auf der Rathausterrasse hinterher krabbelten, wurden kurz vorher von ihren Eltern in graue Kapuzenkostüme gesteckt und kicherten die Hälfte der Zeit albern. Kinder eben.

    Dickie stupste das Etwas in der Mitte der Tauschlingen vorsichtig an, doch nach und nach sickerte die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass Plastiktüten in den seltensten Fällen bissen. Seine Finger wurden mutiger, seine Neugier erwachte. Es kribbelte ihn allerdings nicht nur in den Fingern, es kribbelte ihn vor allem hinter der Stirn. Heimlichkeiten weckten in Dickie Blume den unwiderstehlichen Drang, des Pudels Kern zu enthüllen. Ein Geheimnis zu lüften. Eingeweiht zu sein. Da versteckte irgend ein Jemand etwas, und Dickie wollte wissen was. Jetzt und hier. Ob es den echten Rattenfänger ebenfalls gekribbelt hatte, als er auf Hameln zumarschierte und die Silhouette der Stadt aus dem Frühnebel auftauchen sah? Und hatte es ihn unheilvoll gekribbelt?

    Dickie ließ sich wieder häuslich auf der Taurolle nieder und begann das unerwartete Geschenk auszupacken. Zwei Einweckgummis hielten Plastiktüte und Inhalt zusammen, und als er die Gummis abgestreift und in die Tüte gelangt hatte, hielt er einen dicken, braunen Briefumschlag in der Hand.

    Wow, dachte er aufgeregt, während seine Finger den Inhalt zu ertasten suchten. Geheimpläne? Drogengeld? Ein Packen Liebesbriefe? Er ließ sich ein kleines bisschen Zeit, zögerte den Höhepunkt der Spannung hinaus, doch dann riss Dickie den Umschlag beherzt auf, griff hinein und zog etwas heraus, was sich nach Fotos anfühlte. Sehen konnte er in der Finsternis so gut wie nichts.

    Plötzlich hielt er inne. Ihm war, als habe er für einen Moment das gedämpfte Stimmengewirr aus dem feiernden Salon gehört. Im war auch, als habe ein versteckter Teil seines Unterbewusstseins das Zuklappen einer Tür gehört, und zwar der Glastür, die auf sein Achterdeck führte. Dickie erstarrte, wandte dann ganz langsam den Kopf und versuchte Löcher in die Finsternis zu starren. Unter seinen Füßen dröhnten und vibrierten die Schiffsmaschinen. Als vom Ufer der Flügelschlag eines aufgeschreckten Vogels erklang – ein Reiher vielleicht – zuckte er erschrocken zusammen, und ihm war, als ob ganz in seiner Nähe ein anderer Jemand ebenfalls zusammengezuckt war. Als sich seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen begannen, kristallisierte sich vor dem Rettungsboot eine Gestalt aus dem Schwarz heraus. Das Gesicht seines Besuchers konnte er nicht erkennen, nur die Umrisse eines Menschen, der reglos in der Dunkelheit stand. Der Kopf sah seltsam eckig aus. Geradeso, als ob der Kerl einen flachen Hut oder eine Kappe trug.

    Betrunken und verlaufen, dachte Dickie verärgert. Hier ist nur Zutritt fürs Personal. Konnte der Kerl nicht, wie alle anderen auch, aufs Oberdeck gehen?

    Totstellen, dachte er gleich darauf und presste sich mit dem Rücken gegen das kalte Metall der Schiffsaufbauten. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Ein paar Sekunden passierte nichts, dann spürte Dickie mehr als er sah, wie sich der Mann in seine Richtung drehte und auf ihn zukam. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ein durch und durch verpfuschter Abend. In Windeseile spielte er seine Optionen durch. Er konnte sich weiterhin tot stellen, dann stolperte der Banker über seine Schnabelschuhe. Im unglücklichsten Fall verlor er das Gleichgewicht, stürzte über die Reling und ertrank. Im zweitunglücklichsten Fall stolperte er über die Schnabelschuhe, ohne über die Reling zu stürzen. Doch dann beschwerte er sich bei seinem Chef darüber, das der Rattenfänger tatenlos im Dunkeln herumsaß und zuließ, dass man über ihn stolperte.

    »Hallo«, sagte er schwach in die Finsternis und verlor prompt die Zigarette aus dem Mundwinkel. »Nicht erschrecken, aber hier in der Ecke sitzt bereits jemand. Ein frischluftbedürftiger, bunter Geselle, der gelbe Schnabelschuhe trägt und geplagte Mütter und Väter von ihren Kindern befreit. Aber treten Sie näher, immer hereinspaziert in die gute Stube, obgleich hier eigentlich nur Zutritt fürs Personal ist. Aber was kümmert uns schon die verdammte Bürokratie. Leisten Sie mir Gesellschaft, beichten Sie Ihre Sünden, gestehen Sie die Leichen in Ihrem Keller. Wer Ratten fängt und Kinder entführt, besitzt auch die Lizenz zur Absolution.« Mein Gott, dachte er beeindruckt, du könntest dich glatt vom Galgen reden. Unauffällig schob er mit dem Fuß die Piccoloflasche gegen die Reling. Der Kerl durfte zwar alles hören aber keineswegs alles sehen.

    Im nächsten Moment blinzelte Dickie Blume gegen den gebündelten Strahl einer starken Taschenlampe an, der direkt auf sein Gesicht gerichtet war.

    »Hey«, protestierte er irritiert, »geht’s auch weniger grell? Ich bin’s nur, der Rattenfänger.« Keine Antwort. Dickies Frust wuchs, und seine Stimme klang plötzlich ausgesprochen scharf: »Sagen Sie mal, haben Sie Ihre Zunge verschluckt?« Er zog sich wütend an der Reling in die Höhe und registrierte, dass er nach wie vor den Packen Fotos aus dem Briefumschlag in der Hand hielt. Auf eben jene Hand aber konzentrierte sich kurz der Lichtstrahl, bevor er wieder hochzuckte und auf Dickies Gesicht zielte. Die Zeit reichte aus, Dickie das oberste Foto erkennen zu lassen, und sein Puls schoss in die Höhe.

    Ein kleiner Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, der nackt rücklings auf einem Schaffell lag und ein nackter Mann, der neben ihm kniete und ...

    »Scheiße«, murmelte er erschlagen, während sein Herz zu rasen begann und ihm übel wurde. »Verdammte, verfluchte Scheiße.«

    Der Schatten vor ihm kam näher, und Dickie wich instinktiv zurück. Nach einem Schritt setzte die Reling seinem Rückzug ein frühes Ende.

    »Hören Sie«, krächzte Dickie und streckte die Hand mit dem Päckchen aus. »Das gehört mir nicht, ich bin nur der Finder.« Er wies vage in Richtung Taurolle. »Ich weiß, wonach es aussieht, wenn man so was Schweinisches in Händen hält, aber ich schwöre beim Grab meiner Mutter, das sind nicht meine Fotos. Damit habe ich nichts zu tun, das kann ich wirklich und wahrhaftig beschwören. Und wenn ich wüsste, welchem skrupellosen Kinderverführer die Ware gehört, dann würde ich das Arschloch beim Kragen packen und schnurstracks zu den Bullen schleifen, das können Sie mir ... Ach, du Scheiße!«

    An dieser Stelle dämmerte ihm, dass es zurzeit vielleicht sein geringstes Problem war, selbst in Verdacht zu geraten. Was, wenn dem Typen vor ihm die Fotos gehörten? Welcher harmlose Banker trug auf einer Charterfahrt eine Taschenlampe in seiner Anzugjacke spazieren? Oder war es einer der Nautiker? Das Ding auf seinem Kopf hatte die Umrisse einer Uniformmütze. Und wieso redete er kein einziges Wort? Sein, Dickies, Hirn hatte in eine vollkommen falsche Richtung gedacht. Dabei war alles ganz einfach. Jemand hatte das Päckchen in der Taurolle hinterlegt, und der Kerl da vor ihm war gekommen, es abzuholen.

    »Ach wissen Sie, Sie dürfen natürlich das, was ich sage, nicht allzu ernst nehmen. Ich bin nur der Aushilfsrattenfänger in seinem dämlichen Kostüm. Wissen Sie was? Nehmen Sie das Päckchen einfach und wir vergessen die Sache. Ich meine, ich weiß natürlich, dass es auf keinen Fall Ihnen gehören kann. Aber mir gehört es auch nicht, und einer muss es doch nehmen, damit es nicht in falsche Hände gerät. Ich jedenfalls will nichts damit zu tun haben, und ich wäre ausgesprochen dankbar, wenn sich irgendwo ein verantwortungsvoller Kerl fände, der ...« Seine Stimme erstarb mit einem Kicksen, und als er neu ansetzte, brachte er die Worte kaum über die Lippen. Sein ganzer Mund war urplötzlich staubtrocken. Außerdem wurde ihm vage bewusst, dass er Unsinn redete, nur aufhören konnte er nicht. Solange er redete und sich reden hörte, solange stürzte dieser schweigsame Kerl vielleicht nicht los, um Gott weiß was mit ihm anzustellen. Kopf einschlagen. Kehle durchschneiden. In Todesangst krächzte er weiter. »Sehen Sie, ich muss gleich wieder rein, ich bin nämlich der Rattenfänger von Hameln, und da drin auf dem Tresen, da liegt meine Klarinette. Ich meine, ich muss spielen, dafür werde ich schließlich bezahlt, und drinnen werden mich schon alle vermissen. Wenn Sie also so nett sein könnten, dieses blöde Päckchen zu nehmen und dann einen Schritt zur Seite zu treten, dann könnte ich vorbei und ...«

    Seine Stimme erstarb ein zweites Mal, und beinahe hätte er sich schützend die Hände vors Gesicht gerissen, als ihm sanfte Finger den Packen Fotos aus der Hand nahmen. Dickies Gedärme krampften sich vor Furcht zusammen und er schmeckte die bittere Magensäure im Mund. O Gott, das war bestimmt einer von diesen verfluchten Ausländern. Einer von der Russenmafia oder so, weshalb sich der Kerl auch nicht traute, den Mund aufzumachen. Nur für den Fall, dass er, Dickie, das Kehle durchschneiden überlebte und seinen Mörder anhand des Akzents identifizierte.

    Dickie erwartete keine Antwort mehr, aber er bekam eine. »Na, dann hopp. Da liegt übrigens noch etwas auf dem Boden, das mir haargenau wie die Narrenkappe des Rattenfängers aussieht.«

    Dickie Blume wäre vor Erleichterung um ein Haar ohnmächtig geworden. Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Nie war es ihm schöner vorgekommen, eine bekannte Stimme zu hören. Kein Russe, kein Ausländer, noch nicht einmal ein Mafioso. »Mann o Mann, und ich dachte schon, die Russenmafia will mir die Kehle durchschneiden. Wie kann man jemanden dermaßen zu Tode erschrecken? Was, wenn mein Herz urplötzlich in Streik getreten wäre?« Er hätte immer so weiterplappern können, und eigentlich war er auch nicht wirklich böse. Im Gegenteil, am liebsten wäre er diesem Nichtrussen um den Hals gefallen, aus lauter Dankbarkeit, eben kein Russe zu sein. Der Kerl war jetzt so nah, dass Dickie die goldenen Knöpfe einer Uniformjacke schimmern sah.

    »So wie’s sich anhört, schlägt das Herz ja noch. Und Tschüss! Ab durch die Mitte.«

    Die Taschenlampe erlosch, und vor Dickies Augen schwirrten nichts als Sterne durch die Schwärze der Nacht. Noch immer gegen die Reling gelehnt, beugte er sich vor und tastete mit bebenden Fingern nach seiner Rattenfängerkappe mit den langen Pfauenfedern. Beschämt und glücklich zugleich. Herrjemine, was war er doch für ein Angsthase, aber gab es da nicht das Sprichwort: lieber ein lebender Feigling als ein toter Held? Und wer hätte sich nicht gefürchtet in dieser Situation? Superman vielleicht oder James Bond, okay, aber wie viele Supermänner oder James Bonds gab es denn auf der Welt? An dieser Stelle seiner Überlegungen bekam er eine der Pfauenfedern zu fassen.

    Gleichzeitig hörte er die hastigen Schritte. Instinktiv schoss er hoch, die Hände abwehrend ausgestreckt. Doch da waren andere, kräftigere Hände als die seinen, und ehe er sich versah, wirbelten sie ihn herum. Während ihn der Körper des Mannes gegen die Reling presste, bog ihm eine Hand in seinem Nacken den Kopf weit über das Wasser.

    Dickie trat und schlug nach hinten aus, doch als er das Gleichgewicht zu verlieren und ins Wasser zu fallen drohte, konnte er seine Finger nicht davon abhalten, sich Halt suchend an der Reling festzuklammern. Die fremden Hände drückten ihn tiefer und tiefer über die Reling. Die oberste Stange presste sein Zwerchfell zusammen und zwischen den Stangen hindurch starrte er keuchend auf sein eigenes Wams. Die linke Hälfte war rot mit einem grünen Ärmel, die rechte Hälfte lila und der Ärmel gelb. Es schüttelte ihn vor Ekel. Wie konnte er nur in so einem Aufzug herumlaufen?

    Dann plötzlich ließ ihn die Hand los. Doch, noch bevor er den Kopf hochreißen und gegen den Krach der Schiffsmaschinen anbrüllen konnte, traf ihn ein harter Schlag genau dort, wo ihn die Finger eben noch gepackt hielten. Etwas drang durch Haut, Fleisch und Knorpel, und kam ihm vorn aus der Kehle wieder heraus. Als er danach griff, schnitt er sich an der kalten Schneide eines Messers.

    Dickie gurgelte in Panik, während ihm das Blut in die Luftröhre floss. Mitten im Gurgeln aber, während seine Hände hektisch versuchten, die scharfe Messerspitze dorthin zurückzuschieben, woher sie gekommen war, fühlte er sich emporgehoben. Einen Moment lang hing er schwerelos in der Luft. Dann stürzte er über Bord, mit dem Kopf zuerst. Noch immer bei Bewusstsein durchstieß er die Wasseroberfläche und sackte am Schiffsrumpf nach unten. Auf dem Kopf stehend registrierte er den Rost und die Algen auf dem Eisen. Er sah sie von ganz nah, keine zehn Zentimeter entfernt. Rost und Algen. Immer weiter sackte er nach unten, während Unmengen kleiner Luftbläschen nach oben trieben. Er wehrte sich nicht. Kopfüber ließ er sich einfach nach unten sacken, die Ellenbogen neben den Ohren, während seine Hände den Griff des Messers im Nacken umklammerten, und es herauszuziehen versuchten. Kälte breitete sich in seinem Körper aus, und ihm war, als gefriere ihm das Mark in seinen Knochen.

    Dann plötzlich spürte er einen starken Sog, und Dickie Blume, der talentierteste Rattenfänger von Hameln, fand keine Kraft mehr, sich dem Sog zu widersetzen. Das Wasser um ihn herum begann zu brodeln.

    Nein, dachte er, noch immer jenseits der Grenze zur Bewusstlosigkeit. Nicht die Schiffsschraube. Bitte nicht die Schiffsschraube, lieber Gott ...

    2

    Privatdetektei Roderich, Hupe und von Rhoden stand in bunten Buchstaben auf einem handgefertigten Tonschild.

    Fred Roderichs Großvater hatte seine berufliche Karriere als armer Töpfer begonnen und als reicher Steuerberater beendet. Der Brennofen stand noch immer im Keller der Villa an der Klütstraße und half Fred Roderichs Freund Axel, seine Tage mit Anstand hinter sich zu bringen. Einer bezahlten Beschäftigung ging er nicht nach.

    Fred Roderichs Äußeres entsprach dem eines in die Jahre gekommenen Yuppies, sein Ego litt unter den verpassten Chancen, die ihm das Leben geboten hatte. In jungen Jahren hatte er Gott weiß was werden wollen – und können -, war aber an seiner eigenen Trägheit gescheitert. Die dreistöckige Villa hatten ihm seine Großeltern hinterlassen, als sie sich auf ihren Altersruhesitz in Kitzbühel zurückzogen. Wer weiß, mochten sie gedacht haben, vielleicht ist dieses Geschenk für unseren Versager von Enkel so etwas wie ein Fußtritt in den Allerwertesten, der ihn zu großen Taten anfeuert. Das war vor drei Jahren gewesen.

    Das Konzept ging seltsamerweise auf. Fred Roderich gab sich und seinem Leben einen entschiedenen Ruck nach vorn. Er vermietete die beiden oberen Etagen der Villa und – obgleich er von den Mieteinnahmen locker hätte leben können - eröffnete er im Erdgeschoss eine Privatdetektei. Detektiv schien ihm der geeignete Beruf für jemanden ohne Ausbildung, vor allem, wenn er sein eigener Herr sein wollte und ein einigermaßen interessantes Tätigkeitsfeld suchte. Preislich unterbot er die schon länger in Hameln ansässigen Privatdetekteien, und die Auftragslage erwies sich im ersten Jahr als unerwartet gut. Die Kriminalitätsrate stieg ebenso an wie die Scheidungsrate, und Nachbarschaftsstreitigkeiten mit nächtlichen gegenseitigen Attacken explodierten geradezu.

    Roderichs erster Fall, eine Frau, die ihren Mann der Untreue verdächtigte und für zweihundert Euro täglich den Privatdetektiven Fred Roderich in Anspruch nahm, löste sich quasi von selbst. Dem fremdgehenden Ehemann, Herrn Kaminski, fiel die knallgrüne Ente auf, die ihm den lieben, langen Tag folgte und es kam zu einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen Detektiv und observierter Person, in dessen Verlauf Fred Roderich sich ein blaues Auge einfing und dankend auf sein Honorar verzichtete. Danach fuhr Herr Kaminiski nach Hause, gestand Frau Kaminiski nicht nur einen, sondern gleich drei Seitensprünge und reichte die Scheidung ein. Frau Kaminiski zeigte sich beeindruckt von diesem detektivischen Blitzerfolg, auch wenn sie sich gar nicht hatte scheiden lassen wollen.

    Obgleich er kläglich versagt hatte bei dieser seiner ersten Observierung, zog sie einen Schwanz ähnlicher Anfragen aus dem Umfeld der Kaminskis nach sich. Auf nachdrückliches Bitten seiner Eltern stellte Roderich im Jahr darauf seine Cousine zweiten Grades, Alice Hupe, ein, die nach einem schweren Schicksalsschlag aus der Metropole München in die Heimat zurückgezogen war. Er und Alice hatten sich schon als Kinder nicht ausstehen können, und daran änderte sich auch im Verlauf ihrer Zusammenarbeit nichts. Welcher Schicksalsschlag sie bewogen hatte, ins Weserbergland zurückzukehren, dorthin, wo der Bär nicht mal dann tobte, wenn man ihm Knallfrösche in den Hintern schob, erfuhr er nie. Vielleicht gab es gar keinen, und seine Eltern waren Alices Lügen ebenso aufgesessen wie er den Tränen und Beschwörungen seiner Mutter. Zwei Wochen nach Alice Hupes Einstellung fuhr sein Vater den Familienvolvo frontal gegen eine Platane, und Fred war Waise.

    In der Detektei allerdings erwies sich Alice Hupe als äußerst effektiv, womit sie ihm keine Chance gab, ihr Angestelltenverhältnis wegen Unfähigkeit aufzukündigen. Um sie zu ärgern und einen Gegenpol zu schaffen, stellte er im dritten Jahr eine weitere Frau ein, obgleich die Auftragslage gerade eben zwei Vollzeitdetektive auslastete. Melanie von Rhoden war der letzte Spross eines total verarmten Adelszweiges und lebte vom Frühjahr bis zum Herbst in einem Gartenhäuschen der Kleingartenkolonie Am Heideweg. Ganz oben auf dem Berg im letzten Haus vor dem Feld. Wo sie im Winter abblieb, würde sich herausstellen, sie arbeitete erst seit vier Wochen in der Detektei, und der Kalender zeigte gerade mal die erste Maiwoche an.

    Damit die Detektei größer und bedeutender klang, ließ Fred Axel ein Schild töpfern, auf dem Roderich, Hupe und von Rhoden stand, was allein schon rein rechtlich eine Falschaussage war. Eingetragener Gründer und Betreiber der Detektei war einzig und allein Fred Roderich. Die Ergänzung Hupe und von Rhoden diente lediglich der Augenwischerei. Eine Kragenechse stellt ihren Kragen auf, um größer und bedrohlicher zu wirken, Fred ließ Axel ein Schild mit drei Namen töpfern.

    An diesem Morgen schloss Melanie von Rhoden die Tür zu Freds Gründerzeitvilla auf und nahm jene heilige Handlung in Angriff, die in jedem Büro zu Beginn der Arbeitszeit in Angriff genommen wird: Wasser in die Maschine füllen,

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