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Tod unter der Mönchsweide: Ein Nathaniel Montague-Krimi
Tod unter der Mönchsweide: Ein Nathaniel Montague-Krimi
Tod unter der Mönchsweide: Ein Nathaniel Montague-Krimi
eBook511 Seiten7 Stunden

Tod unter der Mönchsweide: Ein Nathaniel Montague-Krimi

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Über dieses E-Book

Ein Mord erschüttert den Ort Monks Willow. Die Sage um den rätselhaften Mönch, auf dessen Existenz und tragisches Ende sich die Entstehung des Ortes gründet, scheint nicht unerheblich an den heutigen Geschehnissen beteiligt zu sein. Denn lange nach seinem mysteriösen Tod, wandelt der Mönch des Nachts erneut durch den Ort, bringt Tod und Unheil über Monks Willow und seine Einwohner. Nathaniel, der Earl of Montague entschließt sich dazu, die Ermittlungen in die eigenen Hände zu nehmen. Gemeinsam mit seinen Freunden und der absonderlichen Angestellten Selina Imrie gerät er in einen Strudel gefährlicher Geschehnisse.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum21. Juli 2015
ISBN9783739292328
Tod unter der Mönchsweide: Ein Nathaniel Montague-Krimi
Autor

Sylvia Seyboth

Die 1971 in München geborene Autorin widmete sich von Jugend an dem Schreiben. Nach einer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau wechselte sie als Angestellte in den öffentlichen Dienst über. Der Drang zu schreiben hielt jedoch in jeder Lebensphase an. Weitere Informationen zur Autorin und ihren Projekten unter www.sylviaseyboth.cms4people.de

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    Buchvorschau

    Tod unter der Mönchsweide - Sylvia Seyboth

    Langbein

    1. Kapitel

    „Verfluchter Mönch!", murmelte, die gemütlich an den Stamm einer alten Trauerweide gelehnt sitzende Gestalt, und warf erneut die Angel aus. Sein Blick folgte der im Licht des frühen Morgens glänzenden Angelschnur, bis der Köder die Wasseroberfläche des träge dahinziehenden Stromes durchbrach und in den Fluten versank.

    Zufrieden aufatmend bewegte er seinen Rücken an dem rauen Stamm der Weide solange hin und her, bis er die optimale Sitzposition gefunden hatte, dann lehnte er den Kopf zurück und blickte hinauf in den Himmel. Wolken, die einen ruhigen Spätsommertag verhießen, zogen gemächlich über ihm dahin. Der für den heutigen Tag vorhergesagte Sturm schien die Prognosen der Meteorologen Lügen strafen zu wollen. Vielleicht hatte er sich kurzerhand umentschieden und suchte lieber einen anderen Flecken Englands heim?

    Nathaniels Gedanken drifteten, gleich den glänzenden Wellen vor ihm, durch ein Flussbett aus wirren Ideen und Erinnerungen. Wie jeder anständige Junge aus Monks Willow, musste auch er während seiner Schulzeit, die Sage des verfluchten Mönches auswendig lernen und unzählige Male aufsagen. Trotzdem fiel es ihm in diesem Moment schwer, die Worte erneut zusammenzufügen und ihnen einen Sinn zu verleihen. Seine Schulzeit lag eben doch schon einige Jahre zurück. Mit seinen knapp vierzig Jahren hatte er sich emotional weit von der ehemals unheimlichen Sage entfernt.

    Ja, als Kinder fürchteten sie die Sage und konnten doch nie genug davon bekommen. Wie oft bat er seine Mutter abends, halb unter der Bettdecke versteckt, sie ihm noch einmal zu erzählen.

    Ein wehmütiger Seufzer entkam ihm. Seine Mutter! Sie war eine unvergleichliche Persönlichkeit gewesen. Hoch aufgeschossen, von edler Statur, das weizenblonde Haar immer elegant zu einem Knoten geschlungen, was ihr seltsamerweise nie einen strengen Ausdruck verlieh. Von einer unbeschreiblichen Sanftmut und doch beseelt von sprühendem Humor. Er konnte sich sogar an die Lachfältchen erinnern, die ihre grünen Augen immer zu umgeben schienen. Sie waren wohl auch das Einzige, was er von seiner Mutter geerbt hatte: die grünen Augen.

    Er selbst war zwar ebenfalls sehr groß gewachsen, ganze 1,89 m, jedoch nicht unbedingt von edler Statur. Sein insgesamt eher als schmal zu bezeichnender Körperbau, wies ihn auf den ersten Blick als nicht unbedingt sportlich aus. Außer Reiten und Fahrrad fahren, ging er keiner weiteren sportlichen Betätigung nach. Sein von Kindesbeinen an, durch angeborene Tollpatschigkeit geprägter Bewegungsablauf, hinderte ihn daran, an den abwechslungsreichen Aktivitäten seiner Klassenkameraden teilzunehmen, ohne mit Hohn und Spott überschüttet zu werden. Einzig sein ebenfalls sportlich äußerst unmotivierter Freund Arthur Adlington leistete ihm damals wie heute auf seinen stundenlangen Ausflügen Gesellschaft.

    Mit dem Zeigefinger schob er die Brille auf der Nase zurecht und warf einen zweifelnden Blick auf seine kostbare, wenn auch bereits reichlich mitgenommene Armbanduhr. Wo blieb Arthur nur? Er hätte bereits vor einer halben Stunde hier unter der Weide auftauchen sollen. Normalerweise war er die Pünktlichkeit in Person.

    Die alte Trauerweide, nahe dem breiten Fluss, war von jeher ihr geheimer Treffpunkt gewesen. Hier kam man zusammen, wenn die Last des kindlichen Alltags wieder einmal zu groß wurde. Was sich meistens nur auf einen Tadel seitens Nathaniels Vater bezog, der allzu gerne einen Sohn besessen hätte, den er ohne Scham vorzeigen hätte können. Doch dieses Geschenk verweigerten ihm Mutter Natur und der Schoß seiner Ehefrau. Nathaniel blieb das einzige Kind und so musste sich sein ehrgeiziger, überaus prachtvoller und in jeder Beziehung vollkommener Vater mit dem missratenen Sprössling abfinden und das Beste daraus machen. Immerhin blieb dem krampfhaft um Zurückhaltung gegenüber seinem Nachkommen und Erben bemühten Mann, der immer gleiche Satz: „Wieder einmal der Beste seines Jahrgangs!", was sich selbstverständlich nur auf Fächer bezog, die Wissen und keine körperliche Anstrengung voraussetzten.

    Ein Knacken riss Nathaniel aus seinen Gedanken. Hastig wandte er den Kopf und stieß prompt mit der Schläfe an die raue Rinde der Weide, was dazu führte, dass er sich die Haut an dieser Stelle aufschürfte. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken an diesen minimalen Makel, es kamen jeden Tag neue dazu und andere verblassten und verheilten in derselben Zeit. Man hätte ihn schon in ein künstliches Koma versetzen und auf einem aufblasbaren Bett festschnallen müssen, um zu verhindern, dass er sich auf irgendeine hanebüchene Weise eine Verletzung zuzog.

    Dem Knacken folgten wohlbekannte schlurfende Laute und Nathaniel musste sich nicht mehr die Mühe machen, um den Stamm des Baumes herum, nach dem Verursacher der Geräusche Ausschau zu halten. In gewohnt schleifender Art schlurfte Arthur um den Baumstamm herum und ließ sich neben ihm ins Gras plumpsen. Diese Bewegung wurde wie immer begleitet vom Knacken seiner Knochen, die bereits in diesem Lebensalter mächtige Verschleißerscheinungen aufwiesen.

    „Old Monky war wieder unterwegs", nuschelte er nahezu unverständlich in seinen braunen Spitzbart.

    Einen Augenblick wanderte Nathaniels Blick über das knochige Gesicht seines Kameraden aus Jugendtagen. Er kannte jede Unebenheit in diesem absonderlichen Gesicht und doch schien er immer wieder eine neue Besonderheit zu entdecken. Heute blinkte ihm ein unübersehbarer Pickel auf Arthurs Nasenspitze entgegen und schien förmlich danach zu rufen, dass man ihn ausdrücken sollte.

    Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fluss zu und sagte: „Ich versuche bereits den ganzen Morgen mich an die Sage zu erinnern, aber irgendwie bekomme ich nicht einmal den Vers zusammen, den wir in der Schule lernen mussten."

    Nun war es an Arthur, seinen alten Freund genauer in Augenschein zu nehmen. „Du blutest an der Schläfe."

    „Selbstverständlich, ich bin gegen den Baumstamm geknallt."

    „Ach so." Derartige Aussagen konnten ihn nicht mehr erschüttern. Er hatte bereits des Öfteren versucht, sich seinen Freund mit makellosem Äußeren vorzustellen, aber irgendwie tauchte sofort ein blauer Fleck in seiner Fantasie auf, oder es zogen sich blutige Striemen über die Haut, wenn er diesen Versuch startete. Sogar heftigste Konzentration führte zu keinem Erfolg versprechenden Ergebnis.

    „Die Mär, die Mär, hütet Euch sehr!", hauchte Arthur in die klare Morgenluft.

    „Wie bitte?", fuhr Nathaniel erstaunt herum und sah seinen Freund fassungslos an.

    „Du wolltest es doch wissen? So beginnt der Vers."

    Nathaniel kramte in seiner Erinnerung und tatsächlich, kaum dass er die ersten Worte durch Arthur in sein Gedächtnis zurückgerufen bekam, fanden sich auch die restlichen Worte, wie durch ein Wunder wieder an. Er kräuselte in angestrengter Konzentration die Stirn und begann den Vers aus seiner Erinnerung abzurufen:

    „Die Mär, die Mär, hütet Euch sehr!

    Dereinst ein Mönch vom rechten Weg abkam.

    Schuld auf sich lud, die Sünden begrub, unter Lug und Trug.

    Doch kam die Wahrheit ans Licht und der Mönch trat vor ein höheres Gericht.

    Er floh vor der weltlichen Strafe, auf dass der Hass ihn nicht traf.

    Wählte den Strang als Buße,

    erhängte sich an einer Weide und machte ein Ende dem Leid.

    Erbaut auf sündigem Grund,

    tut bis heute Monks Willow kund:

    Wer dem Mönch auf seinen unseligen Wegen,

    tut des Nächtens begegnen,

    wird nimmermehr Frieden finden,

    bis dass er sich vereint unter den Weiden, mit den Gebeinen des Einen,

    der all dies verschuldet.

    Drum hütet Euch vor Monks Willow,

    wenn wandert der Mönch durch die Gassen,

    solltet Ihr Heim und Hof nicht verlassen."

    Wie gebannt hatte Arthur der melodischen Stimme seines Freundes gelauscht. Sie war wohl das Ansprechendste an Nathaniel. Mit dieser Stimme konnte man jede Person in seinen Bann ziehen, da wurde reines Aussehen zur Nebensache. Wobei er Nathaniel keineswegs als durchschnittlich oder gar schlecht aussehend bezeichnet hätte. Ganz im Gegenteil. Das rotbraune Haar floss in natürlichen Locken bis in seinen Nacken und kringelte sich dort vorwitzig. Die strahlend grünen Augen wurden umschattet von langen dunkelbraunen Wimpern. Der Bogen seiner Augenbrauen verhieß einen durchsetzungsfähigen Charakter, ebenso wie das energische, spitze Kinn. Insgesamt schlug Nate eindeutig seinem Vater nach. Von seiner Mutter schien er nur die feingliedrigen Hände und die angeborene Kurzsichtigkeit geerbt zu haben, die er durch eine modisch randlose Brille in Zaum hielt. Einer Laserbehandlung widersetzte er sich vehement, da er eine geradezu phobische Angst vor Krankenhäusern besaß. Unter anderem!

    Kein Wunder nach all dem, was er bis zum Tod seines Vaters mitgemacht hatte. Zuerst starb seine Mutter nach einem Autounfall und Monaten im künstlichen Koma, die nichts daran ändern konnten, dass sie bereits bei Einlieferung in das Krankenhaus hirntot gewesen war. Dann stürzte sein gramgebeugter Vater im Kummersuff die breite Steintreppe zum Garten hinunter und brach sich das Genick. Innerhalb weniger Wochen verlor er beide Elternteile und blieb in einem Alter von 15 Jahren unter der Vormundschaft seiner äußerst skurrilen Tante Dorothea einsam und verlassen zurück. Nun gut, den letzten Teil der Geschichte hatte er leichterdings übertrieben dargestellt, denn letztendlich liebte ihn Nathaniels Tante auf eine merkwürdig absurde Weise. Und wenn er ganz ehrlich war, dann stand Nathaniel zu keiner Sekunde unter Dottys Vormundschaft, er übernahm vom Todestag seines Vaters an die Geschäfte, erledigte neben Schule und später Ausbildung alles, was den Erhalt des Besitzes sicherstellte. Natürlich nicht gänzlich ohne Unterstützung durch Dritte, er beschäftigte Angestellte, die nach seinen Wünschen und Befehlen handelten.

    Dotty überließ ihm diese Bürde allzu gerne, da sie selbst über keinerlei Geschick verfügte. Und das meinte er wörtlich! Denn es waren nicht nur die geschäftlichen Dinge des Lebens, denen sie sich nicht gewachsen fühlte, es waren alle Dinge des Lebens. Unter der Führung des 15-jährigen Nathaniel und als Dauergast in seinem Heim verweilte die mittlerweile grau gewordene Dorothea in ihrer unnachahmlich verdrehten Weise unter seinem Dach.

    „Ja, so lautete der Vers", kam Arthur auf das eigentliche Thema zurück.

    Nathaniel starrte weiterhin nachdenklich auf den Fluss. Seine Angelschnur trieb sinnlos auf den Wellen, lockte jedoch keinen noch so kleinen Fisch an. Was Arthur nicht wunderte. Ein Grinsen schlich sich auf seine für einen Mann zu vollen Lippen. Fast liebevoll glitt sein Blick über den neben ihm sitzenden Freund.

    „Wo hat man ihn denn diesmal gesehen?", hakte Nathaniel nach, da ihn das Thema wirklich interessierte. Es war nun mittlerweile die siebte Sichtung des geheimnisvollen Mönchs und niemand vermochte zu sagen, wer oder was sich unter der Kutte verbarg. Denn eines stand für ihn fest: Keinesfalls handelte es sich um einen Geist!

    Arthur legte den Kopf nach hinten gegen den Stamm der Weide und blickte durch die fast bis zum Boden hängenden Äste, mit ihrem herbstlich gelben Laub. Immer wenn ein Windstoß den Vorhang aus zarten Zweigen erfasste, wurde ihm ein Blick in den blauen Himmel gewährt. Vom angedrohten Sturm war keine Spur auszumachen. Zufrieden schloss er die Augen und atmete tief ein. „Es riecht schon nach Herbst, findest du nicht?"

    Ein wenig unwirsch fuhr Nate den Freund an: „Wo?" Er hasste es, wenn von einem angeschnittenen Thema plötzlich abgelenkt wurde, ohne eine Antwort auf seine Frage erhalten zu haben.

    „Vor der Metzgerei."

    „Seltsamer Ort für einen Mönch", hing Nathaniel seinen Gedanken nach.

    „Ich weiß nicht, er wurde inzwischen an den unterschiedlichsten Stellen im Ort gesichtet, immer weit nach Mitternacht. Die Metzgerei ist kein schlechterer Ort als jeder andere", hielt Arthur dagegen.

    Die grünen Augen wanderten zu seinem Freund ab, der weiterhin mit geschlossenen Augen neben ihm gegen den Stamm lehnte und einfach den Tag genoss. Seltsam, dass sich ausgerechnet zwei Menschen derart gut verstanden, die von ihren Charakteren her doch so grundverschieden waren. Er, der manchmal aufbrausende, tollpatschige Adelige, der immer bemüht war, sich möglichst selbstsicher zu präsentieren, obwohl Selbstsicherheit nun wahrlich nicht zu seinen Stärken zählte. Und dort, Arthur Adlington, die Selbstsicherheit in Person, der alles in stoischer Ruhe auf sich zukommen ließ, nur um dann mit absoluter Präzision den richtigen Weg zu wählen, ohne dabei in irgendeiner Form anzuecken. Ganz im Gegensatz zu ihm, der es immer irgendwie bewerkstelligte im falschen Moment das Falsche zu sagen und es dann durch eine linkische Bewegung und ein darauf folgendes Missgeschick zu untermalen.

    Freunde eben, vereint in ihrer Unvereinbarkeit, ging es ihm durch den Kopf. Lächelnd widmete er sich wieder seinem Studium der Wolken, die er nun immer öfter durch den Weidenvorhang sehen konnte. Der Wind nahm an Intensität stetig zu und auch die Wolken verdichteten sich mittlerweile.

    Vorsorglich zog er sich die karierte Tweedmütze etwas tiefer in die Stirn. Auch so eine Eigenart, die ihn von seinem Freund unterschied. Er hatte eine Vorliebe für Kopfbedeckungen jeglicher Form, während Arthur nur im äußersten Notfall etwas auf seinem Kopf duldete. Auch kleidungstechnisch trennten sie Welten voneinander. Er trug nur vorzügliche maßgeschneiderte Kleidung aus besten Stoffen am Leib, die jedoch niemals dem derzeitigen Modetrend Folge leistete, während Arthur sich stets locker nach der Mode des Jahres kleidete, dabei allerdings nie allzu viel Wert auf die Qualität der Stoffe legte. Ohne es selbst zu merken, zog ein breites Lächeln über sein Gesicht. Verrückt, wie unterschiedlich man sein konnte, und gab trotzdem das perfekte Gegenstück für den anderen ab.

    „Kannst du dich noch an die Sage erinnern?" Arthur kehrte unvermittelt zum eigentlichen Thema ihrer Unterhaltung zurück.

    Nachdenklich schüttelte Nathaniel den Kopf. „Nein, das ist zu lange her. Aber es befinden sich mit Sicherheit Unterlagen dazu in meiner Bibliothek. Und wenn wir dort nicht fündig werden, kann uns Cameron bestimmt die passende Lektüre besorgen."

    „Wäre nett den alten Wymark mal wieder zu besuchen. Sein Laden platzt bestimmt schon aus allen Nähten", hing Arthur einer Erinnerung nach, die eigentlich erst vier Tage alt war. Denn vor vier Tagen betrat er zum letzten Mal den Laden von Cameron Wymark, dem Buchhändler von Monks Willow.

    Wie unter Schmerz verzog sich das Gesicht Nathaniels. „Heute auf gar keinen Fall. Tante Dotty hielt es für angebracht, die halbe Ortschaft zu uns einzuladen, um über die Vorfälle zu beratschlagen. Ihrer Meinung nach muss unbedingt etwas gegen den wandelnden Mönch unternommen werden. Heute Nachmittag zum Tee wirst du keinen aus dem Ort mehr im Ort selbst antreffen, die tummeln sich dann alle in meinem Haus."

    In seinem Haus, welch verniedlichende Umschreibung für das größte Anwesen weit und breit. Arthur konnte sich nicht erinnern jemals in einem Gebäude gewesen zu sein, das weitläufiger, hölzerner oder gar beeindruckender gewesen wäre. Hölzern nur in Bezug auf die Einrichtung zu sehen, denn es gab wohl keinen einzigen Raum, der nicht bis unter die Decke mit Regalen, herrlichen Wandtäfelungen oder sonstigen Einrichtungsgegenständen aus Holz bestückt war. Waren die Rahmen der kostbaren Gemälde nicht auch aus Holz?

    „Das lasse ich mir nicht entgehen! Tante Dotty wird zur Höchstform auflaufen und wie gewohnt am Ende auch noch den letzten Krümmel von der Kuchenplatte futtern", lud sich Arthur selbst zu diesem Vergnügen ein. Seit er denken konnte, ging er in Nathaniels Haus ein und aus, wie es ihm gerade beliebte. Er verfügte sogar über ein eigenes Zimmer, das er jederzeit nutzen konnte. Es bedurfte keiner extra ausgesprochenen Einladung, um ihn an dem Teestündchen teilhaben zu lassen.

    „Fünf Uhr", bestätigte Nathaniel.

    Gab es einen anderen Tee, als den Fünfuhrtee? Arthur musste ein Schmunzeln unterdrücken. Bei der Erziehung blieb seinem Freund wohl gar nichts anderes übrig, als den urenglischen Sitten und Gebräuchen Folge zu leisten.

    Der Vorhang aus Weidenästen teilte sich und ein runder Kopf schob sich in das Blickfeld der Freunde. Der rotgesichtige Mann grunzte freundlich: „Dachte ich mir’s doch, dass ich Eure Lordschaft hier antreffen würde. Hab die Stimmen gehört. Und wer, außer Eurer Lordschaft, könnte es sich leisten, schon um diese Zeit angelnd am Fluss zu sitzen?"

    Man hätte die Worte als despektierlich auffassen können, zumal die Bezeichnung „Lordschaft absolut unzutreffend war, aber Nathaniel hatte es aufgegeben, auf seinen korrekten Titel hinzuweisen. Die gesamte Einwohnerschaft von Monks Willow betitelte ihn mit „Eure Lordschaft. Und es hätte auch ein wenig zu viel Zeit in Anspruch genommen, ihn jedes Mal mit: Duke of Devinshire Earl of Montague, anzusprechen.

    „Und was treibt Sie um diese Zeit am Fluss um, Mr. Spencer?", ging Nathaniel der Höflichkeit halber auf den Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht, ein. Obwohl er sich bereits in diesem Moment dessen bewusst war, dass der Spott nicht lange auf sich warten lassen würde. Es schien zu Lewis Spencers Lieblingsbeschäftigungen zu gehören, über alles und jeden, einen dummen Witz zu reißen.

    Augenblicklich verzog sich das runde Mondgesicht zu einer grienenden Maske und prustete die nächste Unverschämtheit aus seinem, mit einer geschwollenen Zunge ausgestatteten Mund. „Dachte der Mönch, hat sich vielleicht ein zweites Mal an einer Weide erhängt und diese fiel mir als Erste ein. Wollt Euer Hochwohlgeboren davor bewahren, so kurzsichtig, wie Sie ja nun einmal sind, stundenlange unter einer baumelnden Leiche zu sitzen. Reicht ja schon, wenn Eure Lordschaft, wie immer erfolglos angelt."

    Die Worte entlockten Arthur ein wissendes Lächeln. Sein Blick wanderte automatisch die Angelschnur entlang, zu dem im Wasser abgetauchten Ende.

    Wie immer in Gegenwart Lewis Spencers musste Nathaniel zuerst all seine Würde aufbieten, um dann die passende Erwiderung von sich zu geben. Er erhob sich, wischte seine Kleidung sorgfältig mit den Händen ab und wandte sich dann mit einem leicht überheblichen Lächeln an den Bauern: „Keine Sorge, Mr. Spencer, es gehörte jahrhundertelang zu den Aufgaben eines Duke of Devinshire Earl of Montague, seine Leibeigenen und Bediensteten zu befehligen. Dazu benötigt man auch ein scharfes Auge, um Diebstahl und Wilderei vorzubeugen. Ich hätte also im Zuge meiner Ausbildung zum Lehnsherrn niemals eine über mir baumelnde Leiche übersehen, selbst wenn sie nicht einen derart feisten Körperbau wie den Ihren aufgewiesen hätte."

    Der keineswegs versteckte Hinweis auf Wilderei, die Spencer in reinster Passion betrieb, versetzte dem dreisten Landjunker gerade eben den Stoß, dessen er bedurfte, um sich auf seine dezente Weise zurückzuziehen. „Hab noch ne Menge zu tun. Wollt nur gesagt haben, dass sich so eine Angelrute als wesentlich wirksamer erweist, wenn man auch am anderen Ende mit Hirn zu Werke geht." Sprachs und warf dem nunmehr stehenden und ihn weit überragenden Duke eine Handvoll Regenwürmer vor die Füße, ehe er sich schleunigst aus dem Staub machte.

    So sehr sich Arthur auch anstrengte, er konnte das Lachen nicht allzu lange zurückhalten, dann brach es sich Bahn und erfüllte das Weidenzelt. Als er sich soweit beruhigt hatte, dass er Worte formen und auch aussprechen konnte, meinte er an seinen indigniert dreinblickenden Freund gewandt: „Du musst dich nicht wundern, wenn dir mit deiner Art zu angeln Spott zu Teil wird."

    Von Spencers Gegenwart befreit sackte Nathaniel wieder in eine bequemere Haltung zurück und begann die Angelschnur aufzurollen. Als sich das letzte Stück Schnur aus den Fluten erhob, wurde ersichtlich, worauf sowohl Lewis Spencer, wie auch Arthur Adlington angespielt hatten. Er pflegte, ohne Köder zu angeln. Natürlich war er sich des sicheren Misserfolges bewusst, aber er brachte es eh nicht übers Herz einen gefangenen Fisch kaltblütig umzubringen, oder ihm auch nur den Haken aus dem Maul zu ziehen. Wozu also einen Haken ans Ende der Schnur hängen und womöglich auch noch mit einem hilflos zappelnden Wurm versehen, der entweder ersäuft wurde, oder aber von einem Fisch gefressen, der dann wenig später ebenfalls ermordet wurde?

    2. Kapitel

    Interessiert beobachtete der Duke of Devinshire Earl of Montague von seinem Platz am Kamin aus, die tröpfchenweise eintreffenden Gäste der Teegesellschaft, die seine Tante für diesen Abend geladen hatte. So langsam fand sich in seiner Halle halb Monks Willow ein. Darunter ein paar höchst kuriose Gestalten, die jedoch meist seiner eigenen Familie angehörten, neben denen die Dorfbewohner sich geradezu normal ausmachten.

    Als da wären, sein Onkel Ethan, der blau wie eine Standhaubitze neben der Bar in einem großen Sessel lümmelte, den verschwommenen Blick weiterhin begehrlich auf die Whiskeykaraffe gerichtet. In jener Hand, die nicht fest mit dem Whiskeyglas verwachsen war, hielt er gefährlich unsicher eine dicke Zigarre, die bei der kleinsten Ablenkung mit Sicherheit ihren Weg auf den sündhaft teuren Teppich finden würde. Eines musste man Onkel Ethan jedoch lassen, sein Geschmack, was Kleider und Whiskey anging, war von erlesener Güte. Ein seidenes Halstuch, welches Nathaniel erstaunlich bekannt vorkam, schmückte seinen fleischigen Hals. Er hätte sich schon sehr irren müssen, wenn dieses Halstuch nicht noch vor wenigen Tagen seinen eigenen Hals aufgewertet hatte. Ein dezent kariertes Wolljackett mit aufgesetzten Taschen, Flanellhose und Lederschuhe komplimentierten das Ensemble. Der typische Landedelmann der vierziger Jahre hätte man denken können, wäre dem zur Fülle neigenden Mann nicht hin und wieder ein leiser, dennoch genussvoller Rülpser entkommen. Sein angegrautes, ehemals sandfarbenes Haar hing ihm aufgrund der täglichen Anstrengung seinem gediegenen Lebensstil nachzugehen, den er einzig der Großzügigkeit seines Neffen zu verdanken hatte, inzwischen wirr ins Gesicht. Auch, was seine Frisur anging, ließ sich Onkel Ethan nicht lumpen, er leistete sich jede Woche einen Haarschnitt, den er großzügigerweise über das Kundenkonto Nathaniels abrechnen ließ.

    Dann war da natürlich die Grande Dame des Hauses, seine Großmutter Lucinda. Irgendwie war die Erkenntnis, dass Queen Victoria bereits seit einigen Jahren tot war, spurlos an ihr vorübergegangen. Sie trug ein Besuchskostüm im Stile der Kleidung um 1877, ein Zeitalter, das sie niemals erlebt hatte. Sie scheute nicht davor zurück ein Kleid mit langem Fischbeinmieder, das eng über den Hüften lag, zu tragen. Von dem Plisseekragen ganz zu schweigen. Der Rock verjüngte sich nach hinten und lief in einer Schleppe aus, die mit einer Garnierung aus Biesen, Quasten, Fransen und Borten versehen war. Und als hätte all dies noch nicht gereicht, trug sie dazu einen Hut mit großen abstehenden Federn. Im Haus!

    Kopfschüttelnd wandte Nathaniel seine Aufmerksamkeit der Gastgeberin der heutigen Teestunde zu. Seiner altjüngferlichen Tante Dorothea. Ihr Geschmack beschränkte sich auf Teegebäck jedweder Sorte. Was Kleidung, Schmuck oder andere Stilfragen anging, wandelte sie in einer ganz eigenen Welt. Für ihre Verhältnisse zeigte sie sich heute geradezu aufgedonnert. Das silbergraue Haar zu einem lockeren Knoten geschlungen, stand sie in ihrem lavendelfarbenen Tweedkostüm, rank und schlank, man konnte auch weniger schmeichelhaft sagen, knochendürr, in der Mitte der Halle und überwachte das Eintreffen der geladenen Gäste. Allesamt Bewohner von Monks Willow.

    Bei den seltenen Gelegenheiten, die zu einer Einladung nach Montague Hall führten, ließ es sich kaum einer der Dörfler nehmen, dieser Einladung auch nachzukommen. Wie es schien, bevölkerten sie inzwischen in rauen Mengen die große Halle, trampelten mit ihren nassen Schuhen auf dem teuren Teppich und was noch viel schlimmer war, auf dem Nussbaumparkettfußboden herum.

    Dieser Anblick ließ in Nathaniel den Beschluss reifen, den morgigen Tag auf alle Fälle außer Haus zu verbringen. Er verspürte keine Sehnsucht danach, den gesamten Vormittag die laute Stimme von Mrs. Ellie Granger durch die Räume donnern zu hören, wenn sie ihre mannigfaltigen Anweisungen an das Dienstpersonal weiterleitete. Die Köchin übernahm irgendwann ganz automatisch zusätzlich die Funktion einer Haushälterin und hielt fortan das Heft so fest in der Hand, das man es ihr schon mit der gesamten Hand hätte abhacken müssen, um es zurückzuerobern.

    Unter den Gästen befand sich an diesem frühen Abend auch die Putzfrau von halb Monks Willow, Montague Hall eingeschlossen. Die Vorzüge eines Gastes, die Mrs. Olivia Stewart heute genoss, würde sie morgen unter Mrs. Grangers Fuchtel schwer schuftend abarbeiten müssen. Und wahrlich, sie genoss in vollen Zügen, derzeit eine seiner dicksten Zigarren. Der Prügel hing aus ihrem schnoddrigen Mund und stieß ähnlich einem Dampfzug in unregelmäßigen Abständen Rauch aus. Anscheinend entging ihr während ihres Rauchexzesses vollkommen, die zu Boden fallende Asche. Aber was kümmerte es ihn. Morgen würde sie mit ihren eigenen Gichtkrallen das ganze Malheur wieder beseitigen müssen. Darauf freute er sich jetzt schon. Vielleicht war es doch kein so guter Gedanke, den morgigen Tag außer Haus zu verbringen?

    Unbewusst schlich sich ein feines Lächeln auf sein Gesicht. Das sofort verschwand, als sein Blick eine sich ihm nähernde Person erfasste, die im schwankenden Gang einer Verführerin auf ihn zurollte. Mia York! Der Schrecken all der unverheirateten Männer im Umkreis mehrerer Meilen. Bevorzugt sein Schrecken, denn bei jeder sich bietenden Gelegenheit, und er bot ihr so wenige wie möglich, streckte sie ihre feuerrot lackierten Nägel nach ihm und vor allem seinem Titel aus. Dabei beschränkten sich ihre Verführungskünste ausschließlich auf ihre Konditoreiwaren, denn diese waren wahrlich ein Hochgenuss. Ganz im Gegensatz zu ihrem Erscheinungsbild, das dem der sprichwörtlichen Walküre glich. Beinahe glaubte er, im Hintergrund Wagners Ritt vernehmen zu können. Nicht unpassend diese Untermalung, wie er fand.

    Gerade noch rechtzeitig schob sich Arthurs Gesicht in sein Blickfeld und verdrängte die raumfüllende Erscheinung Mia Yorks aus seinem Dunstkreis. Er nahm aus dem Augenwinkel noch den Schmollmund wahr, den sie zog, als sie sich umwandte und notgedrungen nach einem neuen Opfer Ausschau hielt.

    Mia Yorks Bedürfnis nach einer baldigen Eheschließung nahm von Jahr zu Jahr heftig zu. Sollte sich nicht alsbald ein halb blinder, geistig minderbemittelter Selbstmordkandidat finden, würde Mia York mit Sicherheit Vikar Finlay Weeks dazu nötigen einer Zwangsehe seinen Segen zu erteilen.

    Dumm und halb blind, wie er war, würde Weeks durch seine Brille mit den fingerdicken Gläsern nicht einmal erkennen, dass der zukünftige Ehemann unter Einfluss von Schlafmitteln, auf eine Sackkarre gespannt, dem Ende seiner Junggesellenzeit entgegenschlummerte. Amen!

    „Ach, ist es nicht immer wieder ein Vergnügen unsere liebe Dorfgemeinschaft so hautnah erleben zu dürfen?" Man musste nicht in Arthurs Gesicht blicken, um zu erkennen, dass nicht nur sein Tonfall Hohn und Spott über dem Schauspiel ausschüttete.

    „Getrennt durch eine zwanzig Zentimeter dicke Plexiglaswand könnte sogar ich etwas Ähnliches wie Vergnügen dabei empfinden", murrte Nathaniel angespannt. Seine Augen wanderten um den Freund herum, auf der Suche nach Mia York, die jedoch offensichtlich ihren Heiratsbeschuss auf eine andere Person abgelenkt hatte.

    Vorsichtshalber wagte er allerdings noch einen Blick um die andere Seite Arthurs herum und wäre mit seiner Nase beinahe mit dem Stift von Emma Argyll zusammengestoßen. Selbst zu klein, um auch nur annähernd an ihn heranzureichen, streckte sie ihren Arm in seine Richtung und tippte herausfordernd mit der eingefahrenen Spitze ihres Kugelschreibers gegen seine Schulter.

    Ihre schrille Stimme fuhr ihn derart laut an, dass keinem der Anwesenden entgehen konnte, was sie von sich gab: „Was sagen Sie zu den Vorkommnissen in Monks Willow, Eure Lordschaft?"

    Genervt wich seine Lordschaft zurück, bis er das Kaminsims in seinem Rücken spürte und einer weiteren Rückzugsmöglichkeit somit beraubt wurde. An die ständige unzutreffende Anrede hatte er sich längst gewöhnt, er ließ sich nicht mehr dazu herab, diese richtigzustellen. An was er sich jedoch niemals gewöhnen würde, war die penetrante Art und Weise in der Emma Argyll ihren Job als Schmierblattjournalistin versah. Sie betrieb die einzige Zeitung in Monks Willow, den Monks Divulger, und übernahm sämtliche Aufgaben, außer dem Druck der Zeitung, höchstpersönlich. Sie war Reporterin, Kolumnistin, Lektorin, Kummerkastentante (dafür benutzte sie sogar ein Pseudonym, obwohl nun wirklich jeder im Ort wusste, dass es sich dabei um sie drehte). Es gab nichts, was Emma Argyll nicht eigenhändig erledigte. Wie gesagt außer dem Druck!

    „Emma! Könnten Sie sich endlich einmal angewöhnen, mit Ihrem Stift außerhalb meines Einflussbereiches zu bleiben?", fuhr Nathaniel sie harscher an, als er beabsichtigt hatte.

    Sofort wandten sich ihnen einige der Köpfe zu, die nicht gerade mit Futterfassen beschäftigt waren. Neugierige Blicke und erwartungsvolle Gesichter harrten der Dinge, die da kommen würden.

    Sie wurden enttäuscht. Ausnahmsweise wollte sich Emma nicht dazu herablassen, zur Unterhaltung von Monks Willow beizutragen. Sie war gewohnt, für die Unterhaltung, die sie bot Geld zu erhalten, und diese mehrmals die Woche auf Papier gedruckt zu servieren. Daher sprach sie sehr leise und nur für Arthur und Nathaniel verständlich weiter: „So ein geisterhafter Mönch wird doch auch Sie nicht kalt lassen?"

    „Er erhitzt mich auch nicht gerade. Aber falls Sie damit fragen wollten, ob ich daran interessiert bin, was hinter dieser Mönchsgeschichte steckt, kann ich nur sagen: so sehr wie jeder andere in diesem Raum."

    Mit einer fahrigen Bewegung strich sich Emma ihr aschblondes Haar nach hinten aus dem Gesicht und rückte die Hornbrille zurecht. Dann kam sie sofort zurück zum Kern der Sache: „Haben Sie einen Verdacht, wer sich hinter der Maskerade verbergen könnte?"

    Nathaniels Augen weiteten sich vor Erstaunen. Wie kam die verrückte Person nur auf den Gedanken, dass er auch nur einen Funken von Verdacht haben könnte? Ganz und gar unschuldig äußerte er: „Wenn ich ehrlich sein soll, ging mein Verdacht in die Richtung, dass hier aus dem Ort nur eine Person dringend Schlagzeilen benötigt und sie sich vielleicht auf diesem Wege selbst schafft."

    Ehe sich Arthur kontrollieren konnte, prustete er seinen Whiskey in die Flammen. Er musste heftig husten, um das Brennen in seiner Kehle zu beruhigen. Mit gerötetem Gesicht wandte er sich Nathaniel und Emma Argyll zu, die mit offenem Mund, dafür ungewohnt tonlos vor ihnen stand und voll Entsetzen den Earl of Montague ansah. Sie japste ein paar Mal nach Luft, ließ ihren einsatzfreudigen Kugelschreiber sinken und zog sich dann kopfschüttelnd in eine andere Ecke der Halle zurück.

    Da die leise gesprochenen Worte für die Umstehenden kaum wahrnehmbar gewesen waren, verfolgten sie verständnislos die Kapitulation vor dem Feind und richteten danach ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Kuchenbüfett, welches doch wesentlich verlockender erschien, als ein paar undeutliche Gesprächsfetzen.

    Obwohl Tante Dorothea dieses ganze Spektakel nur inszeniert hatte, um an Informationen zu gelangen und gleichzeitig einen Schlachtplan erstellen wollte, mit dem man dem unheimlichen Mönch beikommen konnte, schien auch für sie derzeit das zuckersüße Angebot auf dem eigens hierfür errichteten Tisch, verlockender. Ihr Blick ruhte auf dem übervollen Teller in ihrer Hand, ein zufriedenes Lächeln auf den bleistiftstrichdünnen Lippen.

    Erst als ihr über ein erstaunliches Fassungsvermögen verfügender Magen restlos mit klebrigem Süßkram angefüllt zufrieden grummelte, stellte sie ihren Teller auf dem Tisch ab, nahm ihre Teetasse auf und klopfte klirrend mit dem Teelöffel gegen das kostbare Porzellan.

    „Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf. Ich möchte jetzt, unseren allseits geschätzten Sergeant Derek Langford bitten, das Wort zu ergreifen, um uns über die Geschehnisse in Monks Willow aufzuklären." Mit einer einladenden Geste übergab Dorothea Montague das Wort an den stocksteif neben ihr verharrenden Dorfpolizisten.

    Langford fühlte sich offensichtlich unwohl in seiner Haut. Mit zwei Fingern fuhr er sich unter den Uniformkragen und versuchte das einengende Gefühl zu vertreiben, das plötzlich von ihm Besitz ergriffen hatte. Nur mühsam würgte er die ersten Worte hervor: „Nun, im Grunde handelt es sich hierbei mit Sicherheit um einen Dummejungenstreich. Aber erst einmal zu den Fakten. Es gibt vertrauenswürdige Zeugen, die eine Person, bekleidet mit einer Mönchskutte, an verschiedenen Plätzen, zu unterschiedlichen Zeiten, aber jeweils des Nachts, weit nach Mitternacht, gesichtet haben. Die Aussagen stimmen insofern überein, da alle Zeugen einhellig die besagte Person als groß, schlank und sehr agil beschreiben. Mehrmals entzog er sich einem Zugriff, da er mühelos über Mauern, Weidezäune oder Dächer entkam."

    „Nicht gerade typisch für einen Geist", murmelte Nathaniel nur für Arthur hörbar.

    Dieser nickte, folgte jedoch weiterhin aufmerksam den flüssiger werdenden Ausführungen des Sergeants.

    „Daher auch die Vermutung, dass es sich schlicht um einen dummen Streich handeln muss. Ein Geist wäre schließlich nicht darauf angewiesen, äußerst weltlich zu fliehen. Außerdem entstand weder Sachschaden, noch erfolgte ein in irgendeiner Form gearteter Angriff auf eine Zivilperson." Sergeant Langford kratzte sich nervös am Kopf. Er war es nicht gewöhnt, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. In all seinen vergangenen Dienstjahren ereignete sich niemals etwas Spektakuläreres als Nachbarschaftsstreitigkeiten, der eine oder andere kleine Diebstahl und Beleidigungen über den Gartenzaun hinweg. Alles kein Grund zur Aufregung. Ganz im Gegenteil, inzwischen fragte er sich ernsthaft, wie er jemals auf die wahnwitzige Idee verfallen konnte, dem Polizeidienst beizutreten. In seinen jungen Jahren träumte er von gefährlichen Verfolgungsjagden, spannenden Mordfällen, Konfrontationen mit echten Verbrechern, all das, was der Polizeidienst zu versprechen schien. Doch dann wurde er hierher versetzt, kaum dass er die Polizeischule hinter sich gebracht hatte. Und seit diesem Tag lebte er in diesem abgelegenen Flecken Erde, konnte von einer Beförderung nur träumen und langweilte sich von Tag zu Tag mehr.

    Erst mit Einsetzen der merkwürdigen Auftritte des sagenumwitterten Mönchs kam ein wenig Leben in die Bude und er fühlte sich zum ersten Mal, wie ein richtiger Ermittler. Er war tatsächlich von Haus zu Haus gegangen und hatte die Bewohner verhört. Endlich nutzte er seinen Notizblock mal nicht nur, um kleine Verwarnungen darauf zu notieren. Ganz automatisch straffte er die Schultern und drückte das Rückgrat ein wenig mehr durch.

    „Sieh einer an, unser allseits geschätzter Sergeant Derek Langford nimmt Haltung an", scherzte Arthur hinter vorgehaltener Hand.

    „Laut den Schilderungen der Zeugen scheinen sich die Auftritte des Mönchs grundlegend voneinander zu unterscheiden. Manchmal flieht er beim kleinsten Anzeichen eines Beobachters, ein andermal geht er seelenruhig seinen Weg weiter und verschwindet urplötzlich, ohne irgendwelche Zeichen seiner Existenz zu hinterlassen." Diesen Einwurf musste Nathaniel einfach platzieren, da ihm diese merkwürdige Diskrepanz aufgefallen war und nicht zur Ruhe kommen ließ.

    Sergeant Langfords Mimik verfinsterte sich merklich. Er schätzte es ganz und gar nicht, wenn sich Zivilisten in seinen Job einmischten, schon gar nicht in diesen Fall, den eigentlich ersten relevanten seiner gesamten Dienstzeit. Daher antwortete er auch ein wenig mürrisch: „Wir gehen den Hinweisen aus der Bevölkerung noch nach, aber, wie Sie ganz richtig feststellten, unterscheiden sich die Begegnungen auf frappante Weise. Diesem Rätsel werden wir noch auf den Grund gehen."

    Ein satter Rülpser, der aus dem Sessel neben der Bar drang, zog die gesammelte Aufmerksamkeit auf sich. Doch nur solange, bis alle erkannten, dass es sich bei dem peinlichen Störenfried nur um den Onkel ihres Gastgebers handelte, der in gewohnter Manier spätestens ab der Teestunde sternhagelvoll, einer weiteren alkoholumflorten Nacht entgegenhickste.

    Nathaniel empfand dieses Verhalten schon lange nicht mehr als störend oder unangenehm, er nahm es hin, wie er auch den Sturm hinnahm, der derzeit den Aussagen der Meteorologen doch noch alle Ehre machte und in wütenden Böen um das Anwesen wehte. Ein Blitz erhellte für einen kurzen Moment die Fensterfront, die sich in Richtung des weitläufigen Gartens wandte.

    Ein hysterischer Schrei ertönte und Mia York sank sehr treffsicher in die Arme des einzigen Junggesellen in ihrer Nähe. Kyle Hastings, seines Standes Pferdepfleger seiner Lordschaft, griff beherzt zu, blickte dann jedoch ein wenig ratlos in die Runde. Was sollte er mit der drallen Frau in seinen Armen nun um Himmelswillen anfangen?

    Ehe er einen Entschluss fassen konnte, kehrte Leben in die bewusstlose Frau zurück und er half ihr auf die Beine. Gespielt schwächelnd lehnte sich die Konditorin, mit den schwarz gefärbten Haaren, gegen ihn und sandte einen herzzerreißenden Augenaufschlag gen Nathaniel. Offensichtlich streckte sie ihre Fangarme nach allen Seiten aus und war nicht gewillt sich auf ein potenzielles Opfer zu versteifen.

    Dann schien sie sich an das zu erinnern, was zu ihrem Zusammenbruch geführt hatte und sie streckte den Arm in Richtung der Fensterfront aus und zeigte mit bebendem Finger auf den abendlichen Garten, der nur hin und wieder von einem Blitz erhellt wurde. „Der Mönch! Es war der Mönch!"

    3. Kapitel

    Mia Yorks Worte waren soeben verklungen, als jemand begann, heftig mit den Fäusten gegen die Glasscheibe der Terrassentür zu hämmern. Es zeichnete sich nur ein unförmiger Schatten, vor dem Fenster, ab, der ohne Weiteres, die Umrisse eines Mönchs darstellen hätte können.

    Für kurze Zeit schienen alle Anwesenden wie festgefroren auf ihren Plätzen zu verharren, dann fiel Mia York der Einfachheit halber und aus ganz praktischen Erwägungen heraus, einfach noch einmal in Ohnmacht. Zielsicher sackte sie erneut in Kyle Hastings Arme, um dort Schutz und womöglich lebenslangen Halt zu finden.

    Schlurfenden Schrittes setzte sich Arthur als Erster in Bewegung, gefolgt von seinem Freund Nathaniel, der allerdings sicherheitshalber zuvor nach dem Schürhaken gegriffen hatte.

    Je näher sie der Terrassentür kamen, desto deutlicher zeichnete sich der unförmige Schatten gegen den Hintergrund aus zu Boden zuckenden Blitzen ab. Es handelte sich um einen mittelgroßen, nicht unbedingt schlank zu nennenden Schatten, der lauthals schimpfend weiterhin gegen die empfindliche Glastür hämmerte. Der Stimme konnte man in diesem Moment unmöglich ein Geschlecht zuordnen, da der unentwegt erklingende Donner alles übertönte, was diese Person von sich gab.

    An der Tür angekommen, drehte Arthur den Schlüssel im Schloss herum und zog die Tür nach innen auf. Augenblicklich wehte eine nasse Brise in Menschengestalt, in ein unförmiges Regencape gehüllt, an ihnen vorbei in die Halle. Die Gummistiefel des ungebetenen Gastes gaben quietschende Geräusche auf dem edlen Parkett von sich und nicht nur das, sie verteilten Schlamm und Kies in Mengen in der Halle.

    Bisher restlos unauffällig in der Nähe des Tisches agierend, machte sich nun Jacob Williamson, der Butler, eilends davon, um Putzlumpen zu holen und das Schlimmste zu verhindern. Sein ordentlich nach hinten gekämmtes Haar geriet bei dieser ungewohnten Anstrengung in Aufruhr.

    Wie ein nasser Hund schüttelte sich die merkwürdige Person vor ihren Augen, zog dann die Haube des Regencapes herunter und offenbarte somit wenigstens ihr Geschlecht. Es handelte sich eindeutig um ein weibliches Wesen, wenn auch um ein reichlich derangiertes. Das nasse schwarze Haar klebte an ihrem Kopf, floss über ihre Schulter bis unter das Cape. Ihr blasses herzförmiges Gesicht wurde von herrlichen veilchenfarbenen Augen dominiert, die von langen Wimpern umflort einen Augenaufschlag ermöglichten, um den

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