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Leonoras Haus: Roman
Leonoras Haus: Roman
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eBook228 Seiten3 Stunden

Leonoras Haus: Roman

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Über dieses E-Book

Die Psychotherapeutin Dorothea erbt unerwartet ein Haus von ihrer Tante, Leonora. Einige Jahre später, nach dem Tod ihres Mannes, bezieht Dorothea das Haus in dem Eifeldorf Awel. Schon bald wird sie mit einem geheimnisvollen Fall konfrontiert: Vor einigen Jahren hat Max, der Sohn des Supermarktinhabers, aufgehört zu sprechen. Als der Vater Dorothea um Hilfe bittet, ahnt sie, dass diese Tragödie auch etwas mit ihr selbst zu tun hat.
SpracheDeutsch
HerausgeberIudicium
Erscheinungsdatum24. Feb. 2012
ISBN9783862059324
Leonoras Haus: Roman

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    Buchvorschau

    Leonoras Haus - Stine Rugebregt

    STINE RUGEBREGT

    LEONORAS HAUS

    Roman

    Umschlagbild:

    Nora Roggausch

    Bibliografische Information

    der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

    Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

    ISBN 978-3-86205-932-4 (

    E-Book

    )

    © IUDICIUM Verlag GmbH, München 2012

    Alle Rechte vorbehalten

    www.iudicium.de

    Als die Zehn Gebote in Stein gemeißelt waren,

    fehlte Platz für das elfte.

    INHALTSVERZEICHNIS

    Cover

    Titel

    Impressum

    Zitat

    Irgendwann nach der

    Jahrtausendwende

    Maria

    Dorothea

    Herbert

    Dorothea

    Wilhelm

    Leonora

    Epilog

    IRGENDWANN NACH DER

    J

    AHRTAUSENDWENDE

    Er hörte, wie seine Mutter in der Küche hantierte. Hörte, wie sie einen Topf auf den Herd stellte. Er hielt den Blick auf seinen Teller gerichtet, während er langsam weiterkaute. Jetzt war sie mit dem Besteck beschäftigt. Im Geiste konnte er ihre Bewegungen genau verfolgen. Sie trocknete jedes einzelne Stück sorgfältig ab. Das Trocknen erfolgte immer nach einem festen Muster, von dem sie nie abwich. Zuerst kamen die ,Sonderteile‘, wie Suppenkelle, Fleischgabel oder Salatbesteck. Danach alle Löffel, große und kleine. Anschließend die Gabeln. Und zum Schluss die Messer. Messer ...

    Er hörte auf zu kauen. Messer. Langsam hob er den Blick. Zunächst schaute er auf den Fleischbraten, der einladend auf seinem Holzbrett wartete. „Schneid‘ mir noch eine Scheibe ab", schien er zu sagen. Neben dem Brett lag das Tranchiermesser. Einige Sekunden lang fixierte er das Messer. Dann glitten seine Augen über den Braten hinweg zu dem Platz gegenüber: dem Stuhl seiner Mutter. Auf dem jetzt Momo, die graue Katze, saß. Sobald seine Mutter aufgestanden war, war Momo frech auf ihren Platz gesprungen und starrte nun wie hypnotisiert auf den Braten.

    Sein Gesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck. Momo schien seinen Blick zu spüren, denn plötzlich wandte sie die Augen vom Braten ab und schaute ihn an. Einige Sekunden lang sahen beide, Katze und Mann, einander intensiv an. Dann stand er auf und ging um den Tisch herum. Momo machte erwartungsvoll einen Katzenbuckel. Er nahm ganz ruhig das Tranchiermesser vom Tisch und stieß mit einer fließenden Bewegung zu. Legte das Messer wieder auf den Tisch. Momo gab nur einen kurzen Laut von sich, starb fast geräuschlos.

    Seine Mutter kam aus der Küche. Nahm das Bild in sich auf. Und begann zu schreien, während sie hilflos, wie angewurzelt, dastand.

    Er starrte sie stumm an, schrie aber in Gedanken: „Hör‘ auf!"

    So laut er konnte schrie er. „Hör‘ auf, du Hexe, hör‘ auf, hör‘ auf!"

    Er legte die Hände an die Ohren, seine stummen Lippen zuckten verzweifelt. Aber sie hörte nicht auf.

    „Das halte ich nicht aus! Hör‘ auf, ich halte es nicht aus!" Seine Gedanken kreischten ohrenbetäubend. Seine Hand griff wieder nach dem Messer, drehte es zu sich selbst – und stach zu. Er schloss die Augen.

    Mit einem Mal war Ruhe. Er lag auf dem Rücken und er schwebte. Irgendwo tat ihm etwas weh, aber es war nicht unerträglich. Er schwebte, und als er die Augen aufmachte, sah er ein sanftes Licht. Plötzlich wusste er mit großer Gewissheit, warum er schwebte. Weil er auf diesem Licht lag, auf diesem angenehmen Licht. Er fragte sich, wie das möglich war, was es auf sich hatte mit diesem Licht. Es war so beruhigend. Er lächelte. Das Licht wurde heller, aber nicht grell. Je heller das Licht wurde, desto mehr zog sich der Schmerz zurück.

    Jemand kam auf ihn zu. Nein, schwebte auf ihn zu.

    Sein Vater. Er machte ein bekümmertes Gesicht. „Mein Sohn ..." Sein Vater kniete sich an seine Seite. Er wollte ihn nicht sehen, wandte den Blick ab, schloss die Augen wieder.

    „Nein, zuerst hör‘ mir zu, sagte sein Vater. „Oder uns.

    Uns? Er öffnete die Augen. Seine Mutter. Bleib mir bloß weg!

    Auch sie hatte sich niedergekniet. Sie rang verzweifelt ihre Hände.

    „Hör uns zu, Max! Bitte, hör‘ uns zu! Geh‘ nicht so. Das ist doch keine Lösung!"

    Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Doch, es war eine Lösung. Wieder schloss er die Augen. Endlich Ruhe!

    Er wünschte, sie würden gehen! Ihn mit diesem wunderbaren Licht alleine lassen. Das mussten sie doch verstehen!

    Sie wollten reden? Na, dann los! Er würde tun, als ob er schon tot wäre!

    „MAX!" rief jemand. Er zuckte zusammen. Nein! Sein Körper wand sich vor Angst. Diese Stimme! Er wollte flüchten. Aber, ach ja, das Messer! Er konnte sich nicht bewegen. Dieser Teufel. Dieser Dämon!

    „Max ..." Oh, dieser schmeichelnde, flehende Ton. Der stählerne Klang darin. Rasiermesserscharf. Angst, Angst, Angst!

    Er stellte sich tot.

    „Max ..." Flehend. Aber anders als damals. Irgendwie anders. Was war das? Damals gehörte der flehende Ton zum Spiel. Zum teuflischen Vorspiel. Dieses Flehen klang anders. Klang echt.

    Jetzt knieten sie alle drei an seiner Seite. Max spürte Hass. Einen Hass, so tief, dass er Raum und Zeit zu transzendieren vermochte. Auf einmal erfüllte ihn eine Klarheit, die er sein Leben lang nicht gekannt hatte. Auf einmal wusste er, dass er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich lebendig war. Und plötzlich wusste er mit absoluter Gewissheit, dass er diesen Hass, diesen leidenschaftlich tiefen Hass mitnehmen würde. Oder umgekehrt: Dass dieser Hass ihn ins nächste Leben zerren, mit ihm tanzen und ihn herumwerfen würde ...!

    Nein, seine Eltern hatten recht: Es war keine Lösung. Es würde weiter gehen, immer weiter. Nichts war zu Ende!

    Er spürte, wie sich, tief in seiner Brust, ein Schluchzen Bahn brach. Ein Schluchzen, verzweifelt und erschütternd, das wie ein Erdbeben seinen Widerstand zertrümmerte. Und aus dem Grund seines Herzens stieß er den uralten Ruf der Menschheit aus, so wie die letzte Wehe das Baby aus der Gebärmutter treibt:

    „Herr, hilf mir!"

    Und sieh da: Wie die Antwort Gottes spürte er schlagartig, wie sich Raum und Zeit, Vergangenheit und Zukunft auflösten. Aus dem Licht trat eine Gestalt und näherte sich ihm. Eine weibliche Gestalt. Er erkannte sie. Dorothea! Jetzt weinte er vor Erleichterung. Sie sah ihn mit unendlichem Mitgefühl an. Und sagte:

    „Höre zu ..."

    MARIA

    Ja, ich bin schuldig. Das sage ich mal gleich vorweg. Und feige bin ich auch. Denn ich hoffe, dass diese Geschichte erst nach meinem Tod, wenn überhaupt, gelesen wird. Ich möchte keine Fragen und keinen Kommentar. Papier kann man einfach ohne Erklärungen abgeben. Warum ich sie erzählen will? Obwohl alles zu spät ist? Natürlich weil es zu spät ist. Weil ich Reue empfinde. Und weil Dorothea mich darum gebeten hat.

    Nachdem sie Max in der Psychiatrie eingeliefert hatten, begann ich, meine Entscheidung anzuzweifeln. „Es ist doch nicht für immer, hatte der Psychiater beruhigend gesagt. „Nur für eine Weile. Damit er die Ruhe bekommt, die er so dringend braucht.

    Trotzdem. Als ich Max sah, wie ihn ein Pfleger sanft beim Arm nahm, als ich sah, wie ergeben er sich wegführen ließ ...; da wusste ich, dass wir ihn verloren hatten. Selbst wenn er bald wieder nach Hause kommen würde.

    „Warum sollten wir unsere Geschichten erzählen fragte ich Dorothea. Sie schaute mich mit ihren ruhigen, dunklen Augen an. „Für Max, antwortete sie. „Und für alle Anderen. Fülle einfach meinen Kopf mit euren Geschichten, und ich sorge dafür, dass sie zu gegebener Zeit weitergeleitet werden. Das war nun wieder typisch für Dorothea. Sie sagt manchmal Dinge, die ich einfach nicht verstehe. „Oder schreib‘ deine Geschichte auf.

    Aber für so etwas bin ich nicht gebildet genug. Also lass ich Dorothea schreiben. Sie ist eine nette Frau. Sie hat versucht, Max zu helfen, so gut sie konnte. Und vielleicht wäre es ihr gelungen, ihn wieder gesund zu machen, wenn ich mich nicht quergestellt hätte. Wenn ich ein bisschen mutiger hätte sein können. Ich hätte Herbert, meinen Mann, dazu bringen können, ein klares Machtwort zu sprechen. Aber ich habe mich einfach nicht getraut. Genau genommen habe ich mich Vieles nicht getraut im Leben. Es war ja auch nie nötig. Immer hat jemand für mich gesorgt oder mir die Entscheidungen aus der Hand genommen. Es kam mir einfach nie in den Sinn, mal selbst etwas zu entscheiden. Wenn ich andere Frauen sehe, auch solche in meinem Alter, wundere ich mich über deren selbstbewusste Art. Bin ich denn wirklich so anders?

    Neulich habe ich seit längerer Zeit wieder an einer Pfarrfahrt nach Köln teilgenommen. Oh, das war wirklich schön! Da haben wir unter anderem den Dom besichtigt und ein Museum. Nachher tranken wir Kaffee auf einer Terrasse in der Sonne. Um uns herum hörte ich allerlei Sprachen. Ich fühlte mich fast wie ein Weltenbummler. Da es so voll war, saß auch eine fremde Dame an unserem Tisch. Sie war ganz freundlich, fragte, wo ich her kam. „Aus Awel in der Eifel", sagte ich.

    „In der Eifel? Sie machte große Augen. „Das ist ja weit weg von Köln!

    „Nah genug für einen Tagesausflug", meinte ich. Trotzdem schaute sie mich an, als ob ich vom Mond käme. Sie war auch ganz modisch gekleidet. Trug Jeans wie die jungen Leute. Ich trage immer Röcke oder Kleider, und nur manchmal eine Hose bei der Gartenarbeit. Dann runzelt der Herbert aber die Stirn, und obwohl er nichts sagt, ist es mir trotzdem unangenehm. Herbert mag es nicht, wenn ich Hosen trage. Das darf ich nur beim Wandern.

    Einmal hab ich gesagt: „Ach Herbert! Schau dir nur diese Hosen an. Da blätterte ich gerade in einem Otto-Katalog. „Die Zeiten haben sich doch geändert!

    „Nicht in Awel!" sagte er kurzangebunden. Punkt. Ich kenne diesen Ton. Ich widersprach also nicht.

    Herbert ist ein echter Aweler. Seine Familie – sie heißt Heiml – lebt hier schon seit Generationen. Ganz früher waren die Heimls Bauern, wie übrigens meine Familie auch, aber schon Herberts Vater hatte einen kleinen Supermarkt im Zentrum vom alten Awel. Den hat Herbert übernommen, kurz nach unserer Heirat. Wenn wir von Awel sprechen, meinen wir immer noch das ursprüngliche Dorf Awel. Aber die Gemeinde Awel ist viel größer. Sie umfasst mehrere Ortschaften. Ich komme nicht aus Awel. Ich komme aus Kall. Als Herbert noch um mich geworben hat, hab ich mal spaßeshalber gesagt: „Im Vergleich zu Awel ist Kall doch eine Großstadt!" Da war er richtig beleidigt, stell dir vor!

    Begegnet bin ich Herbert zum ersten Mal, als ich in einem Sommer mit meinen Eltern, Annegret und Hans Stockmann, einen Ausflug machte. Awel entwickelte sich damals allmählich zu einem Touristendorf; malerisch genug war es. Meine Eltern wollten in Awel Rast machen, aber zuerst im Supermarkt einkaufen. Ich bot an, dies zu erledigen, so dass sie sich schon mal auf eine Terrasse setzen konnten. Ich war etwas schlecht gelaunt; es war mir ein Rätsel, warum mein Vater unbedingt diesen Wanderausflug machen wollte. Denn da, wo wir gewandert waren, sah es genauso aus wie in Kall und wie überall in der Eifel. Herbert sagte später, er hätte mir meine schlechte Laune angesehen und wollte mich aufheitern. Er war gerade dabei, die Fächer zu füllen, während sein Vater an der Kasse saß. „Darf ich der schönen jungen Frau vielleicht helfen?" fragte er. Dabei hat er so schelmisch gelächelt. Meine schlechte Laune war wie weggeblasen, und so sind wir ins Gespräch gekommen. Meine Eltern haben sich gewundert, dass der Einkauf so lange dauerte ... Herbert und ich tauschten Adressen aus. Er wollte mich anrufen und besuchen. So begann es mit uns.

    Meine Eltern waren schon bei seinem ersten Besuch sehr angetan von ihm. Er war höflich und freundlich. Und ich war stolz auf ihn und sehr verliebt. Er sah in meinen Augen auch sehr gut aus: Groß und stark war er, mit dichtem, blondem Haar – ja, das könnte man sich heute nicht mehr vorstellen – und lebhaften blauen Augen, die gerne lachten.

    Bald schon ermutigten meine Eltern uns, zu heiraten. Herbert sei eine gute Partie, sagten sie. Er würde eines Tages den Laden seines Vaters übernehmen, und da er in der Nähe wohne, würde ich nicht allzu weit wegziehen. Und auch ich wäre eine passende Ehefrau für ihn. Nach der Volksschule hatte ich in verschiedenen Stellungen gearbeitet. Zum Beispiel in einer Bäckerei, bei einem Metzger und in einem Kurzwarengeschäft. Mit Kassen und Kunden kannte ich mich also aus. Als ich Herbert kennenlernte, war ich Kellnerin in einem Café. Warum ich nicht weitergelernt habe? Ach, das hat mein Vater so entschieden. Er war Tankwart und ganz zufrieden mit seinem Leben. Er war zufrieden und gläubig. Er sagte oft, er habe die Kirche im Dorf und Brot auf dem Tisch, was will man mehr? Warum sich den Kopf mit kompliziertem Zeug voll stopfen? Meine Mutter habe das auch nicht gemacht; sie wollte nur eine gute Hausfrau und Mutter sein. Ich hatte ja immer die Ehe meiner Eltern vor Augen. Sie vertrugen sich gut und waren sich meistens über alles einig. Manchmal hatte ich zwar das Gefühl, dass meine Mutter Vater zustimmte, obwohl sie eigentlich anderer Meinung war, aber es ging dann meistens um unwichtige Dinge. Sie kümmerte sich um Haus und Garten und engagierte sich in der katholischen Kirche. Mehr brauche sie im Leben nicht, sagte sie, und das gelte auch für mich. Ich kannte also kein anderes Leben.

    Manchmal kamen Touristen durch unseren Ort, junge und ältere Leute. Mit Wanderrucksäcken und so. Die waren immer so begeistert von unserer Landschaft: Das Hügelige, die Weite, der Wald. Die kamen aus der Stadt. Dann fragte ich mich schon mal, wie es wohl sein mochte, in einer großen Stadt zu leben. Und wenn es auch noch Ausländer waren ... Ja, dann hab ich es manchmal schon bedauert, nicht weitergelernt zu haben. Es wäre doch schön, ein bisschen Englisch zu können.

    Aber ich sollte weitererzählen. Es kam der Sonntag, an dem Herbert mich mitnahm zu seiner Familie, um sie ,offiziell kennen zu lernen‘. Ich wusste, dass er eine Schwester hatte, Helga, die auch noch bei den Eltern lebte. Seinen Vater hatte ich im Laden ja schon einmal gesehen. Natürlich war ich etwas nervös, als Herbert mich an diesem Tag abholte. Er kam immer in dem alten Ford seines Vaters und versäumte es nie, bei meinem Vater zu tanken.

    Awel war ein Dorf, wie aus einem Reiseführer. Die Häuser im Ortskern sahen ganz schmuck aus, waren allerdings manchmal auch sehr klein. Obwohl der Ort heute viel größer ist, hat er seinen gemütlichen Charakter nicht verloren. Die Heimls bewohnten ein Haus am Rand des Dorfs, ein ganz normales Satteldachhaus wie unseres: Freistehend und mit einem Garten ringsherum. Nur dass es viel größer war und viel gepflegter. Der weiße Putz war weiß und die Garage sah solide aus. Vater meinte immer, wenn er einmal pensioniert sei, werde er endlich die Renovierung unseres Hauses in Angriff nehmen. Für Profis hätten wir kein Geld.

    „Es ist ein Zweifamilienhaus, sagte Herbert. „Schon seit Generationen. Wir werden auch hier wohnen. Das war ein kleiner Schreck für mich. Irgendwie hatte ich mir immer vorgestellt, dass Herbert und ich ein Häuschen für uns selbst finden würden. Und jetzt sollten wir mit drei anderen zusammenleben? Aber ich sagte erst mal nichts. Durch den Schreck vergaß ich, den schönen Garten zu betrachten, und außerdem erschienen gerade Herr und Frau Heiml in der Türöffnung. Er groß und kräftig wie Herbert, und sie ebenfalls groß, aber sehr schlank. Sie begrüßten mich herzlich, Frau Heiml umarmte mich sogar. Sie waren fast genauso angezogen wie meine Eltern, als Herbert sich bei ihnen vorgestellt hatte. Herr Heiml hatte ein Sonntagshemd mit Krawatte an, und Frau Heiml trug zu ihrer weißen Bluse eine Goldkette. Herbert zog mich ins Wohnzimmer und als ich bewundernd auf den hübsch gedeckten Kaffeetisch schaute, übersah ich fast die junge Frau, die sich zögernd von einem Sofa erhob. Sie streckte mir die Hand entgegen und sagte leise und verlegen: „Nett, Sie kennen zu lernen ... Herbert räusperte sich. „Das ist meine Schwester Helga. Ihre Hand fühlte sich ganz schlaff an, und sie zog sie schnell zurück.

    Vielleicht hab ich es mir eingebildet, aber ich hatte den Eindruck, dass die Familie in diesem Moment den Atem anhielt. Ich hab sofort gesehen, dass mit Helga etwas nicht stimmte. Sie sah Herbert sehr ähnlich, aber sie hatte überhaupt nichts von seiner energischen, lebhaften Ausstrahlung. Ihre Schultern waren gebeugt, sie hatte ein nervöses Zucken um die Lippen, und sie blickte die meiste Zeit nach unten, als wolle sie niemandem ins Gesicht sehen. Im Laufe des Besuches merkte ich, dass sie nur einsilbige Antworten gab, wenn man sie etwas fragte. Herbert hatte nicht viel über sie erzählt; nur, dass sie noch zu Hause wohnte und in einer Gärtnerei arbeitete.

    Beim Kaffee plauderten Herr und Frau Heiml ungezwungen, und ich war sehr bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Wenn Herbert seine Eltern hin und wieder gutmütig neckte, zwinkerte er mir schelmisch zu. „Maria hat schon viel Erfahrung im Umgang mit Kunden, Vater, sagte er und erzählte, wo ich überall gearbeitet hatte. „Und du hast dir eine Kundin geschnappt, witzelte Herr Heiml. Alles in allem verlief der Besuch recht entspannt. Helga hob ab und zu den Blick, um mich scheu zu beobachten. Abgesehen von einem gelegentlichen „Möchtest du noch was Kaffee? oder „Noch ein Stück Kuchen, Helga?, wurde sie von der Familie ignoriert.

    Ich schaute mich verstohlen um. Das Wohnzimmer der Heimls war größer als unseres, aber die Möbel waren durchaus ähnlich. Es waren vorwiegend Eichenmöbel, vielleicht schon viele Jahre im Besitz der Familie, wie bei uns. Die Vorhänge waren deutlich höherwertig als unsere, aber ansonsten befanden sich hier keine wirklich kostbaren Gegenstände.

    Nach dem Kaffee wurde ich durch den Garten geführt. Es gab einen großen Kirschbaum und die kleineren Pflaumen-, Mirabellen- und Apfelbäume. Und jede Menge Obststräucher: Himbeeren, Johannisbeeren und Brombeeren. Auch ein Quittenbaum fehlte nicht.

    „Mutter verbringt viel Zeit im Garten", sagte Herbert. Das konnte man sehen. Die Beete, Obstbäume und Sträucher waren sehr gut gepflegt.

    „Sie haben im Sommer sicher ganz viel Arbeit mit dem Obst, Frau Heiml? fragte ich. „Wie meine Mutter, die hat alle Hände voll zu tun mit Einmachen und Einkochen.

    „Und

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