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Wucherungen IV - Karl Karasch und Robert Ründeroth: Roman
Wucherungen IV - Karl Karasch und Robert Ründeroth: Roman
Wucherungen IV - Karl Karasch und Robert Ründeroth: Roman
eBook209 Seiten3 Stunden

Wucherungen IV - Karl Karasch und Robert Ründeroth: Roman

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Leseprobe:

Heute gehe ich Karl besuchen, dachte Ründeroth, als er aus dem Schlaf fuhr und die Dunkelheit um sich her für das Nichts hielt - es konnte auch die eigene Blindheit sein, in der er sich an diese Worte klammerte, obwohl er nicht wußte, was sie bedeuteten. Dafür spürte er eine Übelkeit, einen zunehmenden Drang, zu erbrechen. Schon schmeckte er das Saure und Vergorene, mit dem er sich gleich besudeln würde. Er fiel mehr aus dem Bett, als daß er aufgestanden wäre, und ging auch nicht, sondern kroch zum Klo hinter dem Eingangsflur, wo er sich über der Schüssel wiederfand: eine wie im Zirkus aufgerichtete Robbe, mit den Vorderflossen auf der Sitzbrille hochgestützt, erst rülpsend, dann würgend, begleitet von Tränen und Rotze, die er sich mit Papier von der Rolle abwischte.

Zurück im Bett, drehte sich ihm alles. Er klammerte sich an der Decke fest, um nicht aus diesem rotierenden Karussell herausgeschleudert zu werden, und atmete gleichmäßig. Das bewußte Luftholen und -ausstoßen schützte ihn vor einer Gefahr, die in der Tiefe der Dunkelheit lauerte: wie früher der Bullemann in seiner Kindheit, gegen den er seinen Schutzengel in den Kampf geschickt hatte. Der hatte den Unhold mit seiner Lanze zurückgestoßen und in Schach gehalten. Jetzt stand ihm nur sein angestrengtes Atmen zur Verfügung, mit dem er es tatsächlich schaffte, die Drehbewegung auszubremsen. Dafür spürte er bald eine Energie, die wie ein Strom durch ihn hindurchging, immer stärker,

bis er bebte: als schmiegte er sich an einen fliegenden Drachen, der ihn trug, solange er an den Energiestrom glaubte, der durch ihn hindurchfloß. Da verlor er sich und löste sich auf. Ründeroth begriff, daß es sich um Restalkohol in seinem Blut gehandelt haben mußte: seine Wirkung ließ allmählich völlig nach, und nur ein Sodbrennen blieb zurück.

[...]
SpracheDeutsch
HerausgeberTrotz Verlag
Erscheinungsdatum17. Feb. 2020
ISBN9783966862547
Wucherungen IV - Karl Karasch und Robert Ründeroth: Roman

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    Buchvorschau

    Wucherungen IV - Karl Karasch und Robert Ründeroth - Reinhard Knoppka

    Titelbild

    Reinhard Knoppka:

    „Wucherungen IV - Karl Karasch und

    Robert Ründeroth"

    Roman

    Für Walter!

    Verlag & Vertrieb:

    www.trotz.medien-vvg.org

    trotz@medien-vvg.org

    ISBN eBuch: 978-3-96686-254-7

    9783966862547

    © Trotz Verlag

    Köln 2015

    Alle Rechte vorbehalten

    Zwischen den Polen von Liebe und Haß der weltumspannende Äquator einer tiefen Freundschaft.

    Angesichts des Todes ist es genauso unvorstellbar, daß der Verstorbene weiter da ist, wie daß er nicht mehr existiert.

    [Robert Ründeroth]

    Für Walter

    Heute gehe ich Karl besuchen

    Heute gehe ich Karl besuchen, dachte Ründeroth, als er aus dem Schlaf fuhr und die Dunkelheit um sich her für das Nichts hielt - es konnte auch die eigene Blindheit sein, in der er sich an diese Worte klammerte, obwohl er nicht wußte, was sie bedeuteten. Dafür spürte er eine Übelkeit, einen zunehmenden Drang, zu erbrechen. Schon schmeckte er das Saure und Vergorene, mit dem er sich gleich besudeln würde. Er fiel mehr aus dem Bett, als daß er aufgestanden wäre, und ging auch nicht, sondern kroch zum Klo hinter dem Eingangsflur, wo er sich über der Schüssel wiederfand: eine wie im Zirkus aufgerichtete Robbe, mit den Vorderflossen auf der Sitzbrille hochgestützt, erst rülpsend, dann würgend, begleitet von Tränen und Rotze, die er sich mit Papier von der Rolle abwischte.

    Zurück im Bett, drehte sich ihm alles. Er klammerte sich an der Decke fest, um nicht aus diesem rotierenden Karussell herausgeschleudert zu werden, und atmete gleichmäßig. Das bewußte Luftholen und -ausstoßen schützte ihn vor einer Gefahr, die in der Tiefe der Dunkelheit lauerte: wie früher der Bullemann in seiner Kindheit, gegen den er seinen Schutzengel in den Kampf geschickt hatte. Der hatte den Unhold mit seiner Lanze zurückgestoßen und in Schach gehalten. Jetzt stand ihm nur sein angestrengtes Atmen zur Verfügung, mit dem er es tatsächlich schaffte, die Drehbewegung auszubremsen. Dafür spürte er bald eine Energie, die wie ein Strom durch ihn hindurchging, immer stärker,

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    bis er bebte: als schmiegte er sich an einen fliegenden Drachen, der ihn trug, solange er an den Energiestrom glaubte, der durch ihn hindurchfloß. Da verlor er sich und löste sich auf. Ründeroth begriff, daß es sich um Restalkohol in seinem Blut gehandelt haben mußte: seine Wirkung ließ allmählich völlig nach, und nur ein Sodbrennen blieb zurück.

    Das Ziehen in der Magengegend und der schale Geschmack im Mund erinnerten ihn an sein Saufen in der letzten Nacht. Er spürte einen Druck im Bauch und rasende Herzschläge: eine Mahnung, die sich mit dem Schmerz in seinem Kopf verbündete und zur Drohung wurde - Warnung vor dem Alkohol und zugleich ein dringender Appell, endlich damit aufzuhören. Da wurde ihm klar, daß er dazu gar nicht in der Lage war, und erschrak darüber. Eigentlich wußte er es schon lange, hatte es aber stets verdrängt und sich mit guten Vorsätzen beschwichtigt - über die er dann schulterzuckend hinweggegangen war. Gegen Abend, wenn er seinen Kater von gestern überwunden hatte, erwachte die Lust auf ein weiteres Weinchen wieder neu in ihm. Ehe etwas in ihm protestierte, war er schon unterwegs zum Supermarkt, notfalls auch zu einem Kiosk oder einer Tankstelle, und besorgte sich gleich zwei Flaschen, wobei es nicht auf den Geschmack ankam, sondern auf die Größe und den meisten Alkoholgehalt. Er hielt sie dann wie ein Dieb sein Raubgut in einer Tüte versteckt: nicht nur vor fremden Leuten, sondern auch vor sich selber, seinem schlechten Gewissen, das ihn zur Umkehr zu bewegen versuchte. Aber es machte ihn nur noch störrischer: jetzt erst recht! Um vollendete Tatsachen zu schaffen, schraubte er gleich nach der Rückkehr in seiner Wohnung den Deckel

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    von der ersten Flasche (Korken hatten die immer seltener) und goß das noch vom Vortag in der Spüle stehende, hastig ausgewaschene Glas mit diesem unvergleichlichen Gluckern voll: es hob sofort seine Stimmung. Er schnupperte daran und hielt es gegen das Küchenlicht: eine gläserne, golden leuchtende Tulpe, mit Wassertropfen wie Tau an der glatten, spiegelnden, runden Form. Seine Blume duftete einladend, und es blitzte wie ein Edelstein: Nektar, wenn auch ziemlich sauer - trotzdem ein Göttertrank. Das Süße dabei war die Zauberkraft, die eine aufhellende, alle Bedrückung verbannende Macht besaß und sein Fernsehzimmer für diesen Abend in Refugium verwandelte, in das er nicht ging, sondern schritt. Er stellte das Glas auf den Hocker neben seinem Sessel, so wie der Priester seinen Kelch auf dem Altar absetzt, und schaltete den Fernseher auf 3sat ein. Dort hatte gerade ein Oratorium begonnen: himmlischer Chorgesang zu Ehren seines Lieblingsgottes - Dionysos, zu dem er nun prostend sein Glas erhob, ehe er es grinsend an die Lippen setzte.

    Aus der seligen Stimmung des letzten Abends schien er am nächsten Morgen umso tiefer gestürzt zu sein, je höher er geflogen war und sich gleichsam auf den Flügeln seiner Betrunkenheit wie auf den thermischen Luftströmungen hinaufgeschraubt hatte. Dabei hatte ihn die Musik ebenfalls erhoben, und der Anblick der seraphischen Sänger im Fernsehen hatte die Wirkung noch zusätzlich gesteigert und ihn in das Zentrum sphärischen Wohlklangs versetzt. Außerdem hatte ihm der Alkohol eine Art Schubkraft in die Höhe gegeben, in der er sich freischwebend inmitten himmlischer Heerscharen gefühlt hatte, die ihn jubelnd um

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    kreist hatten. Ihm war feierlich zumute gewesen, und er hatte eine Gänsehaut verspürt - bis ihn der Pinkeldruck gezwungen hatte, sich aus dem Sessel zu erheben und hinauszuschwanken. Das hatte ihn aus seinen Phantasien gerissen - doch dafür hatte er die Wonne des Pissens genossen: fast so schön wie ein Orgasmus! Nur war es vielzu schnell vorbei gewesen - auch sowas wie eine Erlösung aus dringender Not. Etwas ernüchtert, war er zurück ins Fernsehzimmer getappt und hatte sich gleich nachschenken müssen, um die Euphorie wieder auf ihrem Höhepunkt zu treiben: die hatte er künstlich hochgehalten, bis auch die zweite Flasche zur Neige gegangen war. Allerdings hatte der nun in seinem Blutkreislauf kursierende Wein bereits seine volle Wirkung entfaltet und ihn plötzlich so besoffen gemacht, daß er irgendwann die Besinnung verloren und das Ende des Oratoriums verschlafen hatte. Erst das abschließende Pauken- und Trompetengetöse hatte ihn wieder aufgeweckt, und belämmert hatte er auf den Abspann vor dem Hintergrund des Konzertsaals in der Totalen geglotzt: ein einziges Gold- und Rubinrotfiligran und die passende Kulisse für Hymnen schmetternde Cherubim - entzückende Engelsknaben mit Flügeln aus Stimmen wie Glockenklang, von denen er geglaubt hatte, zu träumen. Ächzend war er aufgestanden und hatte sich an den Wänden festgehalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

    Und jetzt diese Erbärmlichkeit, in der er hier lag in seinem Elend aus Übelkeit und Gestank. Die Depression war das Schlimmste: sie suchte ihn heim wie eine Verwesung bei lebendigem Leibe - nur daß es eine seelische Verrottung war, die ihn mit Panik erfüllte. Daraus war der Gedanke: „Heute

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    gehe ich Karl besuchen, wie ein letzter Hoffnungsschimmer aufgestiegen, zu dem es ihn hinzog und an dem er sich wärmen konnte. Denn ihn wehte wie von ferne eine Kälte aus der Dunkelheit an, als sei es der Tod persönlich, der da nach ihm griff - nicht nur von außen, auch aus der eigenen Tiefe. Nein, es war Karls Tod, um den es sich handelte, wie ihm plötzlich aufging. Vor einem halben Jahr war er gestorben, und diese Tatsache hatte nichts von ihrer Grausamkeit verloren. Vielmehr war sie ihm immer schrecklicher vorgekommen mit der Zeit, die nicht alle Wunden heilt" - die Erinnerung hielt sie offen, so daß sie eitrig zu werden und sich mit chronischem Schmerz bis ins Innerste hineinzufressen schienen. War es da nicht natürlich, sich mit Wein betäuben zu wollen? Für den Moment gelang es ja auch - doch der Absturz danach war umso schrecklicher: als wäre nicht sein Körper (der mußte bloß kotzen), aber sein Nervensystem wie gehäutet, seines schützenden Kostüms beraubt und dem nackten Grauen preisgegeben. So lag er nicht nur heute, sondern schon die ganze Zeit zuvor morgens unter seiner Decke, die seinen Leib zwar umhüllte, aber nicht seine Psyche, verseucht mit diesem Gift: Alkohol, ein falscher, mephistophelischer Freund, der ihm erst alles versprach, dann aber nichts einhielt - im Gegenteil jetzt seine wahre Fratze zeigte. Er würde ihn noch zerstören, wenn er seinen Schmeicheleien nichts entgegenzusetzen hätte, und sei es bloß ein: Heute gehe ich Karl besuchen!

    Karl Karasch, der Ründeroths Leben dreiunddreißig Jahre lang bestimmt und ihm gesagt hatte, wo es langging, fehlte dem vierundzwanzig Jahre jüngeren Freund so sehr, daß er ohne ihn nicht weitermachen zu können meinte. Doch zu

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    seinem Unbehagen bestand die eigene Existenz zwangsläufig fort. Allerdings fühlte er sich jetzt wie eine rückgratlose Schlingpflanze, deren Halt weggebrochen war, so daß er am Boden, in Schatten und Fäulnis, dahinvegetierte und so wenig Licht und Sauerstoff bekam, daß es weder zum Leben noch zum Sterben reichte. Er konnte noch nicht mal in Weltschmerz versinken und sich seiner Schwermut hingeben, dem melancholischen Gemisch aus Masochismus und Romantik - einer wollüstigen Tragik. Stattdessen war es bloß banal, ein stilles Vor-die-Hunde-gehen - noch nicht mal das: ein Schrecken ohne Ende. Hinzu kamen allmähliche Verwahrlosung und Zerrüttung der Gesundheit durch übermäßiges Saufen mit allen Begleitumständen körperlichen Übels und stummer Einsamkeit: eine besonders gemeine Folter. Doch damit nicht genug: Höllenängste und Lähmungserscheinungen suchten ihn heim. Karl fehlte ihm in allem - abgesehen von seinem persönlichen Fehlen überhaupt. Ründeroth hatte ihn auf unfaßbare Weise ganz und gar verloren: nur ein Häuflein Asche in einer biologisch wieder abbaubaren Urne in einem vierzig Kilometer entfernten Waldgebiet war von dem Freund übriggeblieben - ein Nichts, das er heute besuchen gehen wollte.

    Das Waldstück lag eingepfercht zwischen Autobahn und Bundesstraße und wurde noch zusätzlich von lärmenden Flugzeugen beim Starten und Landen auf dem nahen Flugplatz tief überflogen. Die ihres Laubs beraubten Bäume erinnerten im Novembernebel an riesige Hexenbesen. Ihre verwitterten, teilweise von grünleuchtendem Moos überzogenen Stämme endeten im Teppich ihrer eigenen braungewordenen Blätter, die das feuchte, kalte, schwarze Erdreich

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    bedeckten, in dem ihr Wurzelwerk steckte und Halt fand: verborgen in der finsteren Unterwelt, in der nun auch die Urne mit Karls Asche ruhte, die nicht mal mehr als seine Überreste bezeichnet werden konnte. Eher war sie eine Handvoll Staub: Dreck, wie Ründeroth ihn beim Fegen vom Fußboden seiner Wohnung kehrte, und er diente als Nährstoff für die Lärche, unter der sie begraben war - wenn sich das Gefäß über die Jahre hin einmal aufgelöst hätte. Dann würde Karasch bzw. sein Überbleibsel in abgewandelter Form durch das innere Kanalsystem des Baumes hochsteigen, in seine äußersten Enden und Kapillare vordringen und von den Spitzen seiner frischgrünen Nadeln wieder ausgedünstet werden: nunmehr als dieser typische Waldgeruch, der sich mit den Abgasen und Geräuschen der wie ein entfernter Wildbach tosenden Autos und Flugzeuge vermischte - bis Karl sich ganz und gar verflüchtigt und den ihn besuchenden, immer noch nach ihm Ausschau haltenden Freund vollkommen verlassen hätte. Das würde Ründeroths Einsamkeit in kosmische Dimensionen anwachsen lassen - dagegen erschien ihm die Vision der ewigen Verdammnis fast noch anheimelnd: in ihr heulte und wehklagte man doch wenigstens noch mit seinen Leidensgenossen in wenn auch unglücklicher Gemeinschaft, während ihn dieses universelle Alleinsein in aller Fürchterlichkeit anschwieg. Trotzdem zog es ihn dorthin, klammerte er sich an sein Vorhaben, Karl heute zu besuchen: zum zweiten Mal seit seiner Bestattung, nur diesmal ohne Christian, was er sich vorher noch nicht getraut hatte - auch wenn es ihm ein mulmiges Gefühl bereitete. Er fühlte sich nicht stark genug dafür, sondern nur so verzweifelt, daß er selbst davor nicht mehr zurückschreckte, diesen Wald aufzusuchen, der für ihn etwas Mythisches bekommen hatte und

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    den allein zu betreten ihm wie eine unerhörte Mutprobe vorkam. Nicht mal in Begleitung hatte er es ausgehalten und war panikartig umgekehrt.

    Er weiß noch, wie er Christian, der Mitte Juli, zweieinhalb Monate nach Karls Tod, bei ihm zu Besuch gewesen war, gefragt hatte, ob sie Karasch bzw. seine Urne im Friedwald nicht mal aufsuchen sollten - ein Vorschlag, der Ründeroth so tollkühn wie der spontane Entschluß zu einem Sprung vom Zehnmeterbrett im Freibad vorgekommen war, und den sein Gast nicht nur unterstützt, sondern auch gleich in die Tat umzusetzen gefordert hatte, so daß Ründeroth, von seiner eigenen Courage erschrocken, nicht mehr zurückgekonnt und nach einigem Zögern nachgegeben hatte. Als wäre es erst gestern gewesen, sah er sich in seinem Auto, das er für Karl gekauft und der es so geliebt hatte, dorthin fahren. Schon unterwegs hatte er Zustände bekommen, war es doch zum Teil die gleiche Strecke nach Wiehl gewesen, wohin er so oft mit Karasch zu ihrem Lieblingsplatz mit der herrlichen Aussicht ins oberbergische Land gefahren war: alles erinnerte ihn so quälend an diese euphorischen Ausflüge, daß er sich am Lenkrad mehr festhielt, als daß er steuerte - um nicht die Besinnung zu verlieren. Zum Glück war es nicht so schwer, da er es auf der leeren Autobahn einfach nur immer geradeaus halten mußte. Auch die Luftnot in seiner Beklemmung, die in regelrechte Schnappatmung ausartete, erklärte er dem Beifahrer als Gähnanfälle vor Müdigkeit: wegen seiner vor Trauer neuerdings aufgetretenen Schlaflosigkeit - während er ihm seine wirkliche Gemütsverfassung verheimlichte. Doch als sie von der Bundesstraße links ab in den unasphaltierten Weg zum

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    Waldfriedhof abbogen, ließ ihn nur der Umstand, daß er wegen der Schlaglöcher Schrittempo fahren mußte, nicht die Kontrolle über das Fahrzeug verlieren. Als er es endlich auf dem Parkplatz vor der rotweißen Baumschranke abstellte, erschien es ihm unmöglich, hier auszusteigen, und er stand kurz davor, mit durchdrehenden Reifen zurückzusetzen und diesen Ort fluchtartig wieder zu verlassen. Wie er es trotzdem schaffte, aus dem Wagen zu kommen, ohne die Haltung zu verlieren und sich den Sturm, der in ihm tobte, auch nur anmerken zu lassen (er mochte lediglich ein wenig bedrückt und blaß auf seinen Begleiter wirken), wußte er im nachhinein nicht mehr - bloß daß er jetzt wirklich fast ohnmächtig geworden wäre. Nur die mechanischen Reaktionen seines Körpers hielten ihn aufrecht und trugen ihn wie automatisch fort - wahrscheinlich durch die frische Luft und die Bewegung neu belebt und dadurch in der Lage, weiter einwandfrei zu funktionieren. Hätte er nur kurz angehalten, wäre er auf der Stelle zusammengeklappt, wie er genau spürte und weshalb er vorwärtslief, ohne sich nach Christian umzuschauen (er sollte auch sein zuckendes und verzerrtes Gesicht nicht sehen), der ihm ahnungslos folgte, vorbei an dem jetzt geschlossenen und als Verwaltungsbüro umfunktionierten Bauwagen, dahinter in den Wald, einen schmalen, teilweise vom letzten Regen aufgeweichten Pfad unter den raschelnden Blättern entlang, den ein Holzsteg mit Geländer über einen Bach (eigentlich bloß eine Drainage zur Trockenlegung dieses ehemaligen Sumpfgebietes) führte und der sich dann zwischen den locker auseinanderstehenden Bäumen verlor: hauptsächlich Buchen und Eichen, durch die sie die ungefähre Richtung einhielten, in der Ründeroth Karls Grab (falls man so eine Urnenstätte überhaupt als solches bezeichnen konnte) vermutete. Den

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    lenkte die Gefahr, sich zu verirren und es zu verfehlen, von seinem inneren Aufruhr ab, und seine Aufmerksamkeit richtete sich stattdessen so sehr auf die äußeren Orientierungspunkte, daß sein seelischer Ausnahmezustand vorübergehend wie aufgehoben war und er nur noch, angespannt wie ein witterndes Waldtier, konzentriert voranging, gefolgt von Christian, der ihn mit seinem ängstlich zweifelnden Nachfragen nun sogar ein wenig nervte.

    Um sich seine Unsicherheit nicht allzu sehr anmerken zu lassen, zog er die Werbebroschüre mit der schematisch abgebildeten Landkarte dieses Gebietes aus der Seitentasche seiner Windjacke und studierte die von dem Förster, der damals die Beerdigung angeführt hatte, darauf eingezeichnete Linie durch den Wald: hier, wo sie sich jetzt befanden, verlief der wenn auch nur zu ahnende Pfad. Aber vielleicht waren sie auch zu weit nach rechts abgewichen, so daß sie sich jetzt mehr links halten mußten, auf die umgestürzte Buche zu: ein mächtiges, bereits stark verwittertes Skelett eines einst stattlichen Riesen, dessen Verfall ihn wiederum an Karasch

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