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Kleine Hexen: Erzählungen
Kleine Hexen: Erzählungen
Kleine Hexen: Erzählungen
eBook104 Seiten1 Stunde

Kleine Hexen: Erzählungen

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Über dieses E-Book

Die Adventszeit war im Heim, in dem ich aufwuchs, etwas Besonderes, eine Art Ausnahmezustand, voller Verheißungen, und zusätzlich bekam dieser geheimnisvolle, auf das höchste Fest zusteuernde Monat in meinem zwölften Lebensjahr dadurch noch etwas Außergewöhnliches, daß ein neues Mädchen auftauchte (unsere Gruppe war seit kurzem geschlechtergemischt), schön wie die Jungfrau Mariagewesen sein mag, als ihr der Erzengel Gabriel erschien und die Geburt des Gottessohns verkündete, der in dem Lied „O komm, o komm, Emanuel“ so sehr herbeigewünscht wurde.
Außerdem hieß die Neue Manuela und erinnerte an den Namen des Erlösers in dem Lied, zumindest mich, der ich mich, als Pubertierender selbst in einem unerlösten Zustand, nach einem wie auch immer gearteten Messias sehnte, besonders nach einem weiblichen, und der war mir nun unverhofft in Manuela erschienen: glatt und blaß wie Engel auf alten Grabstätten, mit einem versteinerten Gesichtsausdruck und diesem zartblauen Geäder, das ihre Schläfen marmorierte, ihr etwas Verletzliches und gleichzeitig Unnahbares gab, als habe sie sich, wie zum Schutz, in einem Eisblock aus Hochmut und Einsamkeit verpanzert.
Die Vorweihnachtszeit war erfüllt mit dem Basteln von Geschenken für den Basar, der am dritten Advent in den Klassenräumen im Erdgeschoß stattfinden sollte, den die Leute aus der Umgebung dann besuchen würden, um den Kram, den wir verbrochen hatten, für einen guten Zweck zu kaufen. Ich hämmerte, klebte und bohrte im Waschraum, wo zwei Tische aus dem Tagesraum zu einer großen Arbeitsfläche zusammengeschoben waren, hatte ein Händchen für alles Kniffelige und gab mich den tollsten Erwartungen hin, obwohl ich gar nicht wußte, auf was ich eigentlich noch wartete: das Erwartete war ja bereits eingetreten, stimmte mich euphorisch, schuf eine magische Atmosphäre und ging wie Kraftwellen von Manuela aus, deren Anwesenheit genügte, um mich glücklich zu machen, ohne daß ich sonst noch etwas wollte. Wunschlos zufrieden in ihrer Gegenwart, schlug mich ihr Lächeln oder ein Nicken in den Bann, und es steigerte noch den Kitzel, daß ich sie nichts von meiner Schwärmerei merken ließ, ihr gegenüber verschlossen war, gleichsam mit versiegelter Miene mich durch die Räume bewegte, als sei ich nicht von dieser Welt, und mit niemandem darüber sprach. Ich kapselte mich ein in meiner Phantasie, die das Buch von Tom Sawyer noch beflügelte, das ich mit süchtiger Begeisterung verschlang, mit einer Sehnsucht, die fast weh tat und überschäumte in endlosen Tagträumen, in denen Becky, Toms Freundin, sich in Manuela verwandelte und ich mir Abenteuer mit ihr ausspann, die unsere Freundschaft umso enger knüpfte, je weniger sie der Wirklichkeit entsprach, in der sie so abweisend war, wie sie in meiner Einbildung meine Liebe erwiderte, für die sie mich vielleicht verachtet hätte, wenn sie davon erfahren hätte, aber das fachte meine Gefühle nur noch mehr an, und ich glaubte plötzlich einen Märtyrer verstehen zu können: seine wachsende Verzückung bei zunehmender Qual.
SpracheDeutsch
HerausgeberTrotz Verlag
Erscheinungsdatum22. Feb. 2020
ISBN9783966862264
Kleine Hexen: Erzählungen

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    Buchvorschau

    Kleine Hexen - Reinhard Knoppka

    Titelbild

    Reinhard Knoppka:

    Kleine Hexen

    Erzählungen

    Für Walter!

    Verlag & Vertrieb:

    www.trotz.medien-vvg.org

    trotz@medien-vvg.org

    ISBN eBuch: 978-3-96686-228-8

    9783966862288

    © Trotz Verlag

    Köln 2009

    Alle Rechte vorbehalten

    Reinhard Knoppka

    Kleine Hexen

    ErzählungenAlles hier Geschilderte ist frei erfunden.„Wenn man zwei Stunden lang mit einem Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität." [Albert Einstein]Für Alice, Lolita und FränziKleine Hexen Immer wenn Birgit aus der Schule nach Hause kam und ich ihr die Tür aufmachte, wunderte ich mich, wie winzig sie noch war, hatte ich sie doch viel größer in Erinnerung, vielleicht weil sie für mich wuchs, wenn sie da war, riesig wurde mit ihrem Geschrei und Gehüpfe, womit sie die Stille und Leere ausfüllte, die mich eben noch umgeben hatte, als ich mit dem Rad hierher gefahren war, unter einem grauverhangenen Himmel, an abgeernteten Feldern vorbei, durch verlassene Parks mit laubbedeckten Rasenflächen und kahlen Bäumen, in diese Vorortsiedlung mit umgegrabenen Blumenbeeten in den Vorgärten, und ein Gefühl der Trostlosigkeit hatte sich in mir ausgebreitet, das sich bei ihrem Erscheinen schlagartig auflöste:

    da stand sie in der Tür, klein und zart vor dem großen Ranzen, der eckig über ihre schmalen Schultern hinausragte, die sie jetzt zurückbog, so daß er an ihrem Rücken runterrutschte und zu Boden polterte, von wo ich ihn aufhob, um ihn ihr hinterher zu tragen, dachte sie doch nicht daran, ihn selber aufzuheben, mochte ich auch noch so rufen, verschwand sie vielmehr lachend im Haus, riß sich Mütze, Schal und Handschuhe herunter, ließ alles mitsamt dem Anorak einfach fallen, rannte dann zum Schrank, schob einen Stuhl davor, kletterte hinauf und griff nach der Steingutschale mit den Süßigkeiten, erreichte sie aber nicht, öffnete die linke Schranktür, benutzte die 7Innenfächer als Stufen und kletterte affenartig hinauf, klemmte sich mit ihrem linken Arm an der hin- und herschwingenden Tür fest, griff mit der freien Hand in die Schale, stopfte sich Bonbons und Plätzchen in die Hosentasche, verlor den Tritt, hing strampelnd an der pendelnden Tür und schrie um Hilfe, aber ich sammelte erst mal ihre Sachen auf, hängte sie an die Garderobe, sah aus den Augenwinkeln, wie sie sich bäuchlings über die Türkante schob, während sie mit den Schuhen gegen das Holz trat und mich herbeirief, ließ sie noch etwas zappeln, tat dann ganz verwundert, als ich schließlich doch hereinkam, gab der Tür noch einen Schubs, worauf Birgit loskreischte, und pflückte sie endlich herunter.

    Der Weg zum Kindergarten, von dem wir Elsa,

    Birgits Schwester, abholten, war voller Hundekacke, ein Jux für die beiden Mädchen, die sich auf dem Rückweg gegenseitig in die Köttel hineinzurempeln versuchten, über die sie hinwegsprangen, bis sie auf die Idee kamen, sich gegen mich zu verbünden, mich gemeinsam zu schubsen, und ich machte Storchenbeine, taperte, stolperte in einen Haufen hinein, glitschte schlitternd aus, hüpfte auf einem Bein, kratzte mit einem Stöckchen das stinkende Zeug aus den Sohlenrillen, während Elsa mich von hinten schubste, was mich fast zu Fall brachte, und Birgit griff mich von vorne an, drückte ihren Kopf in meinen Magen, wobei ich durch den Gegenstoß mein Gleichgewicht wiederfand, und ich lief mit aufklatschenden Sohlen 8davon, um den Hundedreck aus dem Profil zu schlagen, der auf dem Pflaster zurückblieb und über den die Mädchen sprangen, die mich verfolgten, ärgerlich stehenblieben, als ich mich nicht einholen ließ, und ich ging in die Hocke, worauf sie angerannt kamen, mit flatternden Haaren, und sich in meine Arme warfen, und ich drehte mich mit ihnen im Kreis, bis uns schwindelig wurde – da spielten wir Betrunkene auf dem Heimweg von der Kneipe, taten so, als müßten wir uns übergeben, umschlangen Laternenpfähle und taumelten lallend nach Hause.

    Unbeholfen zog Birgit mit der linken Hand einen Bogen, der ausrutschte, über die hellgraue Linie hinausfuhr, zu einem Spitzdach verunglückte, das sie wütend durchstrich, worauf sie zu einem neuen U ansetzte, dabei den Zeigefinger mit dem Trauerrand, der an ein Keepsmiling erinnerte, fest auf den störrischen Bleistift drückte, um ihn im Zaum zu halten, in Rechts- und Linkskurven zu zwingen, doch er brach immer wieder aus, und statt schöngeschwungener Schleifen entstanden häßliche Zickzacklinien, aufgeblähte Rundungen, die den Buchstaben etwas Krankhaftes, Mißgestaltetes verliehen: ein U war spitzig abgemagert, das nächste unförmig dick, aber sie standen immerhin, wenn auch wie besoffen torkelnd, doch dann wurden sie vom nachrutschenden, verschwitzten Faustballen der Linkshänderin verschmiert, die das allerdings nicht störte, weil sie nur nach vorn guckte, auf das Ende der Zeile konzentriert war, 9um sogleich die nächste anzugehen, wieder die nächste, bis das Seitenende erreicht wäre, aber es war noch schrecklich weit entfernt, und eine endlose weiße Fläche mit hellgrauen Linien trennte sie vom Ziel, wie eine hohe Schneedecke, durch die sie nur mühsam vorwärtskam, immer wieder einsackend, kaum von der Stelle kommend, den verkrampften Zeigefinger mit dem Trauerrandgrinsen auf den rutschigen Rücken des widerspenstigen Bleistifts gedrückt, der stumpf über das rauhe Papier schabte, als er plötzlich an einer Unebenheit hängenblieb, worauf sie noch fester drückte, bis die Spitze abbrach, jäh aus der sich verjüngenden Holzfassung knickte, was mich an Birgits Milchzahn erinnerte, der ihr ausgefallen war, als sie an meinen Beinen gehangen hatte, während ich am Herd vor dem Nudeltopf gestanden und darin herumgerührt hatte – da hatte sie mir ins Hosenbein gebissen, und ich hatte sie abschütteln wollen, aber sie hatte sich plötzlich stumm um mein Bein zusammengerollt, beide Hände auf den Mund gedrückt, und ich hatte schon geglaubt, ein Wasserspritzer hätte ihr Gesicht verbrüht, und ihr ängstlich die Hände weggebogen, aber nichts war zu sehen gewesen, und ich hatte gedacht, sie habe mich mal wieder angeschmiert, doch da hatte sie den Mund aufgerissen, und in ihrer unteren Zahnreihe hatte ein Loch gegähnt, davor ihr nach außen heruntergeklappter Zahn, ein kleiner Elfenbeinsplitter, nach dem sie getastet, den sie mit Daumen und Zeigefinger gepackt, auf- und abgebogen, dann mit einem Ruck herausgedreht und in 10ihrer hohlen Hand betrachtet hatte, eine porzellanweiße Scherbe in einer rotschäumenden Speichellache, und auf meine Frage, ob sie Schmerzen habe, hatte sie genickt und mit einer Leidensmiene an ihrer Zahnlücke geschlürft, doch der Schalk hatte ihr aus den Augen geschaut – na warte!

    So lange wir das Haus für uns allein hatten, tobten wir durch alle Räume und spielten im Keller Verstecken, wo ich mit Elsa in einem dunklen Raum hockte, die ich flüsternd beruhigen mußte, was uns verriet, und als Birgit die Tür mit einem Schrei aufriß, spürte ich etwas Nasses auf meinen Knien:

    Elsa hatte sich in die Hose gemacht und umklammerte mich, während ich mit ihr die Treppe hochging, vorbei an Birgit, der ich zurief, sie solle frische Wäsche für ihre Schwester holen, die ich im Bad auszog, während sie mich mit großen Augen ansah – „Halb so schlimm, sagte ich und wusch sie mit einem warmen Lappen ab, die Schenkel, den schmächtigen Po mit den eingehöhlten Backen, wenn sie ihn anspannte, und sie schlüpfte in die Babyrolle, steckte den Daumen in den Mund und sagte mit Kindchenstimme: „Esa böse dewesen, Esa kiegt Haue, worauf sie sich selber auf den Hintern klatschte, und ich ging mit dem Handtuch dazwischen, trocknete sie ab, sah ihre Gänsehaut, den Flaum, der sich darauf sträubte und im Sonnenschein flirrte, und wurde aus meiner Betrachtung gerissen, als Birgit mir Strumpfhose, Schlüpfer und Jeans von ihrer Schwester ins Gesicht schmiß, die sie von mir wegriß, worauf sie 11sich auf mich stürzte und mich fast erdrosselte, während Elsa heulend in der Ecke saß, und ich machte mich von Birgit los, half ihrer Schwester beim Anziehen, worauf sich die Mädchen wieder gegen mich verbündeten, kleine Hexen, die mich ansprangen, eine auf meinen Rücken, während mich die andere von vorn umklammerte, und nun sollte ich sie runtertragen, hü!

    Wie still es war, als ich die Mädchen zur OrffStunde gebracht hatte und Wolfgang, ihr zehnjähriger Bruder, soeben aus der Schule gekommen, im Wohnzimmer aß, während ich spülte, die Teller ins lauwarme Wasser tauchte, in dem Salatblätter schwammen, die um sich selber kreisten und im Trüben versanken, als mich ein Strahl im Nacken traf, worauf ich zu Wolfgang herumfuhr, der grinsend im

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