Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Mikrokosmos 1 - Ekel. Ekstase.: Roman
Mikrokosmos 1 - Ekel. Ekstase.: Roman
Mikrokosmos 1 - Ekel. Ekstase.: Roman
eBook568 Seiten8 Stunden

Mikrokosmos 1 - Ekel. Ekstase.: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Leseprobe:
Käfer, schreitend, scheinbar aufgezogen wie winzige mechanische Spielzeuge, gleichmäßig, unwirklich, glänzend, schwarz und bedrohlich in einer Welt, die meiner völlig fremd ist, sich bewegend über den feinkörnigen Waldweg aus roter, zerriebener Asche, winziger Schotter aus meiner Sicht, aber Geröll, faust- und kopfgroße Steinbrocken aus der Perspektive dieser urtümlichen Wesen, die aus schwarzlackiertem Blech gemacht zu sein scheinen, gewölbt, spiegelnd im Sonnenlicht, das in Flecken auf dem Boden zittert, Lichtseen, abwechselnd mit Schattenrändern wie Ufer in einer Deltalandschaft aus Hell und Dunkel, das Helle gleißend wie Wasserspiegel und darauf diese mechanischen Spielzeuge, Panzer, in Bewegung gesetzt von den Mächten eines mir unsichtbaren Krieges, der dort unter mir im Gange ist, scheinbar gemächlich, dennoch gnadenlos, ersichtlich an den vielen Käferleichen, zertreten, in den rötlichen Untergrund gestampft, ein breiter, erstarrter Brei, aus dem noch hier und da Gliedmaßen zucken, wie im Leeren sich weiterbewegende Hebel einer zerstörten Maschine, automatisch, sinnlos, einem scheinbar unbeteiligten, darum umso grausameren Universum letzte Signale zuzitternd, reflexartig, und ein intakter Panzer schiebt sich darüber, verharrt, ruckelt, zerrt an den schwärzlichen, nicht mehr so glänzenden Überresten, schleppt sie an den Wegrand, dorthin, wo einzelne Grashalme in der Brise wehen, ein beginnender Urwald, in dem andere Ungeheuer lauern, Spinnen, perfekte Mordmaschinen, metallisch glänzende Käfer, Ameisen, die sich, verglichen mit den behäbigen Panzern, rasend schnell bewegen, Grashalme erklimmen, im schwankenden Wipfel verharren, und das Ungeziefer, ja, so stellte ich mir immer Gregor Samsa vor, schiebt sich zwischen die Halme hindurch, biegt sie beiseite, wie ich es in Dokumentarfilmen gesehen habe, wenn die Panzer der Eroberer durch ein Dorf brakten und alles niederwalzten, was ihnen im Weg war, ein hölzerner Hochleitungsmast, Zaunpfosten, alles mit brachialer Gewalt beiseitegedrückt, bedrohlich dieser Anblick, potenziert durch meinen tuckernden Kopfschmerz, Überrest meines verkaterten Zustandes, der meine Depression noch verstärkt, gespeist aus endogenen Giftquellen, die meine Umwelt in etwas Grauenvolles verwandeln, mag sie noch so sonnenheiter flimmern, nein, das alles lähmt mich, läßt mich starren in diesen urweltlichen Abgrund, wo sich plötzlich etwas Größeres bewegt, etwas Graues, Plattes, das ich erst für ein im Lufthauch wedelndes Blatt halte, bis ich es fokussiere: grauenhaft, ein winziger Frosch, staubig, stumpf, eingetrocknet, leicht gewölbt, hin- und hergewendet von einem dieser Mistkäfer, der sich seitlich in ihm verbissen hat, obszön, wie in einem absurden Geschlechtsakt, an dem Frosch rüttelnd, den teilweise in den Boden hineingewesten und daher an ihm festsitzenden Leichnam mit aller Wucht lösend, mitten auf diesem Waldweg im Königsforst, ohne sich um irgendwas zu bekümmern, nein, er rüttelt unbeirrt weiter an ihm, während ich fliehe vor diesem Anblick, dann zur Seite trete, um einem der vielen Jogger hier Platz zu machen, der, federnd auf seinen nagelneuen Turnschuhen, genau in den Froschkadaver und den in ihm verkeilten Panzer hineintritt, ohne daß ihm das bewußt wird, und als ich die paar Schritte zurückgehe, um mir das Desaster von nahem anzusehen, sehe ich bereits andere schwarze, glänzende Panzer sich wie mechanische Spielzeuge auf diese Trümmer ihres Artgenossen, hineingequetscht in die nun völlig platte graustumpfe Masse, zubewegen.

[...]

SpracheDeutsch
HerausgeberTrotz Verlag
Erscheinungsdatum23. Feb. 2020
ISBN9783966862387
Mikrokosmos 1 - Ekel. Ekstase.: Roman

Mehr von Reinhard Knoppka lesen

Ähnlich wie Mikrokosmos 1 - Ekel. Ekstase.

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Mikrokosmos 1 - Ekel. Ekstase.

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Mikrokosmos 1 - Ekel. Ekstase. - Reinhard Knoppka

    Titelbild

    Reinhard Knoppka:

    Ekel- Ekstase. – Mikrokosmos 1

    Für Walter!

    Verlag & Vertrieb:

    www.trotz.medien-vvg.org

    trotz@medien-vvg.org

    ISBN eBuch: 978-3-96686-226-4

    9783966862264

    © Trotz Verlag

    Köln 2017 - 2. Auflage

    Alle Rechte vorbehalten

    Buchgestaltung: R. Knoppka unter Verwendung

    einer Zeichnung von Otto Meyer-Amden

    Soweit es mich betrifft, als Individuum & unabhängig vom Geldbeutel, ist es mein ernstliches Verlangen, solche Bücher zu schreiben, die man gemeinhin als gescheitert bezeichnet.

    Herman Melville

    Reinhard Knoppka:

    Ekel. Exstase. - Mikrokosmos 1

    Käfer, schreitend, scheinbar aufgezogen wie winzige mechanische Spielzeuge, gleichmäßig, unwirklich, glänzend, schwarz und bedrohlich in einer Welt, die meiner völlig fremd ist, sich bewegend über den feinkörnigen Waldweg aus roter, zerriebener Asche, winziger Schotter aus meiner Sicht, aber Geröll, faust- und kopfgroße Steinbrocken aus der Perspektive dieser urtümlichen Wesen, die aus schwarzlackiertem Blech gemacht zu sein scheinen, gewölbt, spiegelnd im Sonnenlicht, das in Flecken auf dem Boden zittert, Lichtseen, abwechselnd mit Schattenrändern wie Ufer in einer Deltalandschaft aus Hell und Dunkel, das Helle gleißend wie Wasserspiegel und darauf diese mechanischen Spielzeuge, Panzer, in Bewegung gesetzt von den Mächten eines mir unsichtbaren Krieges, der dort unter mir im Gange ist, scheinbar gemächlich, dennoch gnadenlos, ersichtlich an den vielen Käferleichen, zertreten, in den rötlichen Untergrund gestampft, ein breiter, erstarrter Brei, aus dem noch hier und da Gliedmaßen zucken, wie im Leeren sich weiterbewegende Hebel einer zerstörten Maschine, automatisch, sinnlos, einem scheinbar unbeteiligten, darum umso grausameren Universum letzte Signale zuzitternd, reflexartig, und ein intakter Panzer schiebt sich darüber, verharrt, ruckelt, zerrt an den schwärzlichen, nicht mehr so glänzenden Überresten, schleppt sie an den Wegrand, dorthin, wo einzelne Grashalme in der Brise wehen, ein beginnender Urwald, in dem andere Ungeheuer lauern, Spinnen, perfekte Mordmaschinen, metallisch glänzende Käfer, Ameisen, die sich, verglichen mit den behäbigen Panzern, rasend schnell bewegen, Grashalme erklimmen, im schwankenden Wipfel verharren, und das Ungeziefer, ja, so stellte ich mir immer Gregor Samsa vor, schiebt sich zwischen die Halme hindurch, biegt sie beiseite, wie ich es in Dokumentarfilmen gesehen habe, wenn die Panzer der Eroberer durch ein Dorf brakten und alles niederwalzten, was ihnen im Weg war, ein hölzerner Hochleitungsmast, Zaunpfosten, alles mit brachialer Gewalt beiseitegedrückt, bedrohlich dieser Anblick, potenziert durch meinen tuckernden Kopfschmerz, Überrest meines verkaterten Zustandes, der meine Depression noch verstärkt, gespeist aus endogenen Giftquellen, die meine Umwelt in etwas Grauenvolles verwandeln, mag sie noch so sonnenheiter flimmern, nein, das alles lähmt mich, läßt mich starren in diesen urweltlichen Abgrund, wo sich plötzlich etwas Größeres bewegt, etwas Graues, Plattes, das ich erst für ein im Lufthauch wedelndes Blatt halte, bis ich es fokussiere: grauenhaft, ein winziger Frosch, staubig, stumpf, eingetrocknet, leicht gewölbt, hin- und hergewendet von einem dieser Mistkäfer, der sich seitlich in ihm verbissen hat, obszön, wie in einem absurden Geschlechtsakt, an dem Frosch rüttelnd, den teilweise in den Boden hineingewesten und daher an ihm festsitzenden Leichnam mit aller Wucht lösend, mitten auf diesem Waldweg im Königsforst, ohne sich um irgendwas zu bekümmern, nein, er rüttelt unbeirrt weiter an ihm, während ich fliehe vor diesem Anblick, dann zur Seite trete, um einem der vielen Jogger hier Platz zu machen, der, federnd auf seinen nagelneuen Turnschuhen, genau in den Froschkadaver und den in ihm verkeilten Panzer hineintritt, ohne daß ihm 6das bewußt wird, und als ich die paar Schritte zurückgehe, um mir das Desaster von nahem anzusehen, sehe ich bereits andere schwarze, glänzende Panzer sich wie mechanische Spielzeuge auf diese Trümmer ihres Artgenossen, hineingequetscht in die nun völlig platte graustumpfe Masse, zubewegen.

    Danach in diesem Waldhaus: das Gesicht des Jungen schockiert mich, preßt mich gleichsam zusammen, als ginge ein Druck, eine Woge von ihm aus, die mich überschwemmt, innerlich, so daß meine Organe sich zusammenziehen, wie durch eine Säure, die sowohl schmerzt als auch lustvoll brennt, eine Wehmut aus meinem wie ausgewrungenen Fleisch keltert, das sich auflöst angesichts dieser Schönheit, gegenüber der ich mir meiner Durchschnittlichkeit so eindringlich bewußt werde, daß ich nur noch auf dieses Bewußtsein reduziert bin: da, vor mir, vollzieht sich ein Wunder, vor dem ich aufs Knie fallen, mich in den Staub beugen will, etwas, das mir, dem Agnostiker, einen Hinweis auf etwas Jenseitiges gibt, verkörpert in diesem Anblick, ein grausamer Gott, oh ja, Jungen wie dieser haben etwas Brutales an sich, das mich verbannt in meine Einsamkeit, die ich bei grellem Bewußtsein durchleide, freiwillig, denn ich möchte den Schock nicht missen, bin süchtig nach diesem Gesicht, das ich zuvor nie gesehen habe und das mir doch so bekannt vorkommt, als offenbare es mir etwas schon immer Gewußtes, Gestalt geworden in einem Jungen, als hätte sich Apollo in Knabengestalt unter uns gemischt, sich in einen jungen Menschen verwandelt, dessen Aura das Überirdische dennoch verrät - ach, Quatsch, es ist lediglich das glatte, hübsche Gesicht eines vielleicht Zwölf-, Dreizehnjährigen, für Otto Normalverbraucher etwas so Belangloses, daß er es gar nicht richtig wahrnimmt, im Gegensatz etwa zu den breiten Hüften der Kellnerin, ihren Brüsten, die schwer, von den gespannten Riemen des Büstenhalters nur halbwegs gehalten, durchhängen, eine süße Last für den Kerl da, die ein wehes Ziehen in ihm auslöst, wohingegen ich nichts als Gewabbel assoziiere in mit Plastikstegen verstärkten Stoffschalen, die bei jedem Schritt widerlich schaukeln, zusammen mit diesem Ring um den Bauch, loses Gewebe, Speck, bei jedem Schritt auf diesen lächerlich engen, hochhackigen Schühchen erbebend, was wiederum den Normalinski erbeben läßt, den Kerl mit der Glatze, der seine Lüsternheit kaum verbergen kann, nein, er stiert geradezu auf dieses Geschaukel auf zwei Beinen, möchte hineingreifen ins Weiberfleisch, das, wie ich mir angesichts der Schweißringe unter den Achseln vorstelle, einen scharfen Geruch verströmt, wenn es sich mit hochgereckten Armen hingeben, aus seinen vielzu knappen Hüllen pellen lassen würde, eine ekelhafte Vorstellung, die mir den Appetit verdirbt, und ich säge lustlos am Fleisch, würge eine hochkötzelnde saure Flüssigkeit herunter und stürze ein Bier hinterher, das mich aufstoßen läßt ... „Mama!" ruft der Junge, maulend, genervt, daß seine Alte nur Augen für diesen glatzköpfigen Knilch hat, der Scheine aus seiner Brieftasche zieht, grinsend wie jener bocksbeinige Satyr auf einem jener Bilder von Rubens, dem diese Frau Modell gesessen haben könnte, ja, sie ist ge7nau dieser ausladende Typ mit Rundungen wie fleischige Wellen am ganzen Körper, der Abscheu in mir und Entzücken in ihm, ihrem zahlenden Gast, auslöst, der mit wie Spinnenbeine krabbelnden Fingern (an einem blinkt ein Ehering) in den Scheinen blättert und das Wechselgeld mit winkenden Händen abwehrt.

    Da steht er im Türspalt zum Gastraum, der Junge, blond, nein blondgefärbt, erkennbar am dunklen Ansatz des Mittelscheitels, von dem das Haar zu gleichen Teilen nach links und rechts wegfällt, glatt, strähnig, weiche Bögen zu beiden Seiten, ins Gesicht fallend bis zu den Wangen, weiter, gestoppt von der plötzlichen Kopfbewegung, die etwas Tichaftes hat und die Strähnen zurückschleudert, die sich dann wie kitzelnde Fühler wieder vortasten auf der hellen Haut, weich und fest zugleich, die ich mir unsagbar köstlich vorstelle, geschmeidig, vollkommen trotz einer Pustel knapp über der rechten Braue, die, dunkel wie jener Haaransatz, seidig und dicht wie der Pelz einer Raupe unter dem Pony verschwindet und bruchstückhaft wieder auftaucht, als der, auseinanderfallend, erneut in die Stirn rutscht, genau wie die andere Seite, als zögen sich lose Gardinen über die Augen, blaugrau, rauchig wie seine Stimme, die plötzlich aufschrillt, aufgeregt von seiner Wut, nicht beachtet zu werden, die seine Stimmbänder anspannt, die Stimme blank, hart, hysterisch erklingen läßt: „Ma-ma!", und wie zur Bekräftigung wird die Mähne zurückgeschleudert, das ganze Gesicht für einen Moment freigelegt, gleichsam preisgegeben meinem gierigen Blick, der wegzuckt wie vor einer Entblößung, erschreckt von dem Glitzern der Augen und dem wie ein aufblitzendes Messer gellenden Schrei, der, ein Wurfgeschoß nach seiner Mutter, diese, wie im Nacken getroffen, den Kopf einziehen und sich wegducken läßt, mit der Brust fast ins Gesicht dieses Kerls, der unwillkürlich zurückfährt, mit offenem Mund, doch ehe er seine Zähne hineinschlagen kann, eine Regung, die ihn bei seiner Weibsgier spontan überkommen mag, fährt der Busen herum mit der Frau, die ihren Sohn ankreischt, er solle verschwinden, sie habe zu tun, worauf der Junge, eben noch wie ein Bogen trotzig gespannt, in einer widerstandslosen Haltung erschlafft und fast demütig, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Haargardinen, die Lippen schmollend vorgestülpt, murmelnd erklärt, er habe sie ja bloß um ihre Hilfe bei einer Rechenaufgabe, die er nicht verstehe, bitten wollen, worauf er sich herumreißt und im Haus verschwindet, aus dem gleich darauf eine fauchende Katze herausfährt, wie gejagt von dem seinen Frust an ihr ablassenden Jungen, der sich türenknallend entfernt, jeder Rums eine gedämpftere Explosion in meinem Kopf, in dem er wie eine feurige Erscheinung präsent bleibt, eine brandeilig sich ausbreitende Infektion, die mein ganzes Wesen erfaßt, in Gluten versetzt wie ein brennendes Fieber, das auch mit einem weiteren Pils nicht zu löschen ist, nein, das facht es noch an, verstärkt es mit seinem alkoholischen Drall, versetzt mich in einen Rausch, der, wie ich aus Erfahrung weiß, ein euphorischer Kopfzu8stand bleiben, mich nur im Geiste beflügeln und schließlich in einen furchtbaren Kater abstürzen lassen wird.

    Und sie erstarrt, die Katze, getigert, graubeige, unscheinbar, wie unzählige ihrer Art, und dennoch etwas Besonderes, Stolzes, Ästhetisches, mit leuchtenden Bernsteinaugen, darin der senkrechte Keil der Pupille, die ihr etwas Raubtierhaftes gibt, ganz und gar Verschiedenes von mir, einer anderen Welt zugehörig, einer grausamen, eher dem Reich jener Käfer verwandt, die ich auf dem Herweg beobachtet habe, eine Welt scheinbar ohne Gefühle, brutal realistisch, alles nach ihrem Nutzen taxierend, sogar wenn es darum ginge, die eigenen Artgenossen zu fressen, ohne Sentimentalität oder Ekel, ein Luxus, den nur Menschen sich leisten, beduselt von eingebildeten höheren Werten, abgehobenen Abstraktionen, nichts für die Katze, die eins ist mit ihren Instinkten und Zwängen, die zu durchbrechen für sie so absurd wäre, als würde sie plötzlich schweben wollen, obwohl sie mit ihrer Geschmeidigkeit die Gesetze der Schwerkraft scheinbar spielend außer Kraft setzt, jedenfalls ist sie mit einem Satz auf der Brüstung, der nicht an einen Sprung, sondern an einen Zauber erinnert: so unmittelbar, wie von Geisterhand hergeschnippt, hockt sie jetzt neben mir auf dem Holzgeländer, das die überdachte Terrasse vom Vorplatz abtrennt, und starrt schnurrend auf meinen Teller, bebend, als stehe sie unter Strom, gebannt, mit vibrierendem Schwanz, der, gegen die Latten gedrückt, sie im Gleichgewicht hält, denn das Geländer ist oben mit glattem, links und rechts abfallendem Aluminium abgedeckt, daß es mich wundert, wie die Katze Halt darauf findet, kann sie doch ihre Krallen nicht gebrauchen, nein, ihre Pfoten scheinen mit Saugnäpfen ausgestattet zu sein, wie bei den Fliegen, die damit an Scheiben hochkrabbeln können, und sie hebt nun eine vordere, wie um Pfötchen zu geben, setzt sie weiter vorn wieder auf, folgt dann mit der anderen, wobei sich ihr Körper, vorhin noch in konzentrierter aufrechter Haltung, lang zieht, als strecke sie sich und gähne dabei, jedenfalls sperrt sie das Maul auf, entblößt ihr perfektes Gebiß, feine Elfenbeindolche, doch der Eindruck, sie recke sich nach einem Schlummer, wird korrigiert von dem Speichelfaden, der sich silbrig herabzieht von ihren innen rosigen Lefzen, abreißt und mir fast ins Essen tropft, was meine Faszination für das Tier in Widerwillen umkippen läßt, zumal sich neue Fäden aus ihrem Maul ziehen, jetzt von beiden Seiten, und zum ersten Mal wird mir die Redensart, einem laufe das Wasser im Munde zusammen, richtig bewußt - ihr, dieser Katze, trieft buchstäblich der Sabber vor Gier, die sie jetzt unvorsichtig, aufdringlich, tollkühn werden läßt, während sie mit gebuckeltem Rücken, erhobenem, hin- und herruckenden Schwanz auf allen vieren über meinem Zigeunerschnitzel tänzelt, das ich schon aufgegeben, ihr hingeschoben habe, diesem nun gar nicht mehr possierlichen Tier, das gleichsam sein wahres Gesicht zeigt, das Wilde hinter der niedlichen Schmusefassade, ja, sie hat etwas Tollwütiges an sich, als sie mit einer Pfote mit diesmal ausgefahrenen Krallen nach meinem Teller schlägt, wo9bei sie in ihrem eigenen Speichel auf dem Geländer ausrutscht, abgleitet und, von mir mit panischem Wedeln verscheucht, im letzten Moment nicht auf dem Tisch landet, sondern zu Boden springt, dabei mit fegendem Schwanz mein Bierglas wegwischt, dessen Inhalt in eine gelbschäumende Lache verspritzt, und das Glas zersplittert, zusammen mit dem Aufschrei der Wirtin, die, ein O-förmiges Loch im Gesicht, aus dem Gastraum gerannt kommt, mit einer Behendigkeit, die ich ihr gar nicht zugetraut hätte, doch die Katze ist flinker und reißt vor der serviettenschwingenden Frau aus, die von ihr abläßt und sich bei mir entschuldigt, worauf ich das Ganze herunterspiele, lächelnd das neue Bier auf Kosten des Hauses akzeptiere und den Zwischenfall, eben noch wirklich bedrohlich, nunmehr als etwas Amüsantes, Harmloses betrachte und mir wünsche, der Junge brächte das frische Glas.

    Aber sie bringt es, auf einem Tablett in der einen Hand, in der anderen Besen und Kehrblech, und stellt es mir außerhalb der einen gärenden Geruch verbreitenden Pfütze auf den Tisch, die sie mit einer Serviette dann aufnimmt, den weißen Stoff sich damit vollsaugen läßt, der nun schlaff, fleckig von ihrer Hand tropft und auf das leere Tablett klatscht, worauf sie die Glasscherben zusammenkehrt, mit von Bier triefendem Besen, während ich von meinem trinke, es fast ex hinunterstürze, um mir Mut anzusaufen und sie nach dem Jungen zu fragen, doch ich bin wie versteinert, bloß in der Lage, zu schlucken, das Zeug, das mir gar nicht mehr schmeckt, in mich hineinzuschütten, nicht nur seine benebelnde, sondern jetzt auch seine harntreibende Wirkung spürend, ja, ich muß pissen, verdammt, und denke an das Wort „Durchlauferhitzer, oben kalt rein, unten warm raus, ein Witz über Säufer, den ich mal irgendwo aufgeschnappt habe, dämliches Wort, lästig, hartnäckig in meinem Schädel, das mich verrückt macht wie manchmal ein Schlagerfetzen oder jetzt dieses Mückensirren, das ich vergeblich mit Kopfschütteln verscheuche, dann durch meinen Ausruf, „Zahlen bitte!, niederschreie, worauf sich die Frau erschrocken herumdreht, gleich wieder beruhigt aufgrund meiner lächelnden Miene, die ich als unecht empfinde, als Maske über meiner Verzweiflung, keine Verbindung zu ihrem Sohn herstellen zu können - doch, über sie: Durchlauferhitzer, ist er doch durch einen Orgasmus in ihren Organismus und schließlich, symbiotisch gewuchert, aus ihr wieder herausgelangt, denkt es verworren in mir, während mein Körper die Ruhe bewahrt, diese Fassade vor meinem inneren Aufruhr, und ich balanciere jetzt wie auf tönernen Füßen die Stufen hinab, in der typisch übertrieben aufrechten Haltung des Angetrunkenen, ihre Blicke wie mißtrauische Fühler im Rücken, die mich wegschieben, mir folgen, wobei sie wie unsichtbare Antennen immer weiter aus ihren Augen herausfahren, um die wachsende Distanz zu überbrücken und mich vorwärtszustoßen, abweisende Strahlen, ach Unsinn, und ich fahre, „Durchlauferhitzer!" ausstoßend, wütend herum und sehe, daß die einzigen mich verfolgenden Augen der Katze gehören, doch dann beachtet sie mich nicht mehr, schleicht sich vielmehr übers Geländer an den einzig verbliebe10nen Gast heran, der mir den Rücken zukehrt, der Hausfront zugewandt, die, blutrot angestrichen, aus schwarzen Fenstern wie blind herüberglotzt, an ein sagenhaftes Ungeheuer erinnernd, dessen ganzer Leib mit Augen bedeckt ist, symmetrisch angeordnet, jedes geblendet wie das des Zyklopen von Odysseus, nein, eins blitzt jetzt auf, öffnet sich, und ein Sonnenstrahl huscht über die Scheibe, die eine Gestalt freigibt, ein Brustbild, wie ausgeschnitten und auf die dunkle viereckige Fläche geklebt, eine Ikone, den Jungen darstellend, der mich bewegungslos anstarrt, und plötzlich weiß ich, was Leute vor Heiligen hinknien läßt, knicken mir doch die Beine ein, was ich vertusche, indem ich so tue, als müßte ich einen Schnürsenkel binden, doch anschließend ist jenes Auge wieder erblindet, die Vision erloschen wie ein ausgeschalteter Bildschirm, den ich vergeblich zu neuem Leben anflehe, und statt heimwärts, Richtung Endhaltestelle zu gehen, halte ich geradeaus auf den Weiher zu, denn ich kann mich jetzt unmöglich entfernen.

    Dünne, krumm gewachsene Baumstämme auf starke, an Hackklötze erinnernde Stümpfe genagelt, umgeben den Weiher, der, wie ich beim Näherkommen bemerke, verschlammt ist, vorne von Schilf zugewuchert, der sich wie eine Landzunge hineinschiebt, als wollte sie den Morast zurückerobern, diesen von brackigem Wasser erstickten Lebensraum, in dem nichts zu atmen scheint, eine einzige tote Brühe, schwarz, ölig, wie ich mir das Gewässer des Styx vorstelle, in den Charon, ein furchterregender Riese, die knorrige Eiche hineintaucht und seinen Kahn vorwärtsstakt, direkt auf mich zu, um mich hinüberzusetzen, auf die andere Seite, auf der ich mich, in Gedanken, längst schon befinde, todessüchtig, wozu das schäbige Waldstück im Hintergrund paßt, eine tote Kulisse abgestorbener, niedergebrochener Stämme, als wäre ein Sturm wie mit Hieben hineingefahren und ein ungeheuerlicher Zorn in ihm ausgetobt worden über einen nicht wieder gut zu machenden Frevel, der sich offenbart im unbeirrbaren Tosen im Hintergrund, von der Autobahn her, die sich brutal durch die Landschaft schneidet, die sie verpestet, mit betäubendem Lärm überflutet, alles erstickt unter Krach und Gestank - auch scheinen die Kronen der stolzesten Bäume verätzt, verdorrt, schließlich zusammengekracht zu sein unter der fremden Gewalt, die sich anscheinend nicht mit dem Freihauen für ihre Schneise zufrieden gibt, sondern alles ringsum vernichten, einen Krieg der verbrannten Erde zu hinterlassen zu wollen scheint, wobei ihr nicht ausreicht, einzelne Wälder sterben zu lassen, nein, es ist ein Angriff auf die gesamte Natur, ein globales Hinmorden, bis hinauf zum Ozonloch, durch das gefährliche Strahlen eindringen, um die Erde zu versengen, nicht so plötzlich, wie ich es früher mit Insekten machte, die ich unterm gebündelten Strahl meiner Lupe in Rauch aufgehen ließ, sondern heimtückisch, scheinbar harmlos, zeitversetzt, die Spuren verwischend, daß die Ursache für das ausgebrochene Karzinom nicht mehr zurückzuverfolgen ist, das sich schwärend ausbreitet wie hier die von Fäulnis befallenen Bäume rings um den Weiher, den ich umgehe, gleichsam einbetoniert in dem allge11genwärtigen Autobahnlärm, der wie ein rauschender Wasserfall niemals nachläßt oder gar aufhört: da müßte sich schon eine Naturkatastrophe ereignen, in der Größenordnung eines Atomschlags, der die ganze Menschheit, die Ursache für die überall grassierende Krankheit, mit einem Schlag auslöscht, mitsamt ihren verrückten Ideen, denn nicht nur äußerlich ist alles mit schwärzlich verätztendem Brand überzogen, auch innerlich, in den hirnverbrannten Schädeln, wo dieser Wahnsinn eigentlich herkommt, der sich in krankhaften Vorstellungen äußert, die sich verheerend auf die Gefühlswelt auswirken, sie mit Neurosen zerfressen, gleichsam ein psychisches Krebsgeschwür, seelisches Gegenstück zur geschändeten Umwelt wie die, in der ich hier stehe, die zugleich mein Inneres widerspiegelt, ach, wie häßlich und unerträglich erscheint mir alles, und ich wünsche mir, Charon käme tatsächlich herbei, stakend mit seiner germanischen Eiche, einem Baum, der auch vom Aussterben bedroht ist, bald nur noch als Abbildung auf deutschen Geldstücken existiert, lächerlich, denke ich und starre hinab in das pechschwarze Wasser, aus dem, oh Wunder, ein riesiger Goldfisch auftaucht, rosig, hervorstrahlend aus seinem düsteren Element, ähnlich jener Erscheinung im schwarzen Fensterviereck, die Vision des Jungen, ebenso schnell wieder verschwunden wie unten der Fisch, von dem nur ein Kräuseln des Wasserspiegels noch darauf hinweist, daß er keine Einbildung war.

    Weg von hier, vorbei am Waldhaus, über die Straße und Schienen, hinein ins Gebüsch, wo Ranken mit Dornen wie Zähne an mir zerren, mich zurückhalten wollen, und ich lecke mir Blutstropfen vom Handgelenk, reiße mich los von den Umarmungen mit Widerhaken, stolpere über Fallstricke und trampele ringsherum alles nieder, schaffe mir Raum in dem unwirtlichen Blätternest, setze mir ein anderes Nest auf, gewebt aus Streicherklängen, ein unsäglich betörendes Klangfiligran, tauche hinein mit dem Kopf und somit meinem Bewußtsein in eine andere Sphäre, das heißt, ich stülpe sie mir über die Ohren: Kopfhörer, zuvor aus der Tasche gezogen, auseinandergeklappt und die Taste des Discmans gedrückt, worauf die silberne Scheibe in seinem Bauch zu rotieren und der Laserstrahl Runen von ihr abzulesen beginnt, die er nun in Töne umsetzt, wie ein Vorleser Buchstaben in Worte, auch so ein Wunder, eine spirituelle Verwandlung, nicht in Jesu Fleisch und Blut, sondern in Beethovens Streichquartett Opus 59, Nummer 1, das ich so liebe, besonders das erste Motiv, eingeleitet vom Cello, begleitet von den zitternden Hüpfern seiner Klanggenossen, das dann von der Primgeige übernommen, weitergeführt wird zum ersten gemeinsamen Schmettern der vier Instrumente, eine erklommene Anhöhe, Plattform, von der aus, nach einigen Freudenstampfern, die leiser, verhaltener werden und dann plötzlich übergehen in jenes köstliche Motiv, in das sie sich nun hineinstürzen, gleichsam purzelbaumschlagend, und schließlich ein erneuter Anlauf, wobei die Violinen wie euphorisch taumelnde Schmetterlinge durch die Luft tanzen, bis hinauf zu ganz feinen, spitzen Tönen, wie mit Nadeln ins Himmelsblau geritzt, an Kondens12streifen erinnernd, die sich dann wieder in Kapriolen hinabschlingen, ineinander verwoben, komplizierte Muster zeichnend, deren einzelne Stickereien ich gar nicht so schnell verfolgen kann, nur die großen Melodienbögen, die immer wieder in ein freudiges Erkennen münden, jeweils abgewandelt, neu, atemberaubend, überwältigend, unglaublich klar, fein, perfekt, das Ganze in der Schwebe gehalten von einer Spannung, die wie mit Gummibändern aus meinem Innern gezogen wird, nein, die mich mit einem Gefühl erfüllt, als sei ich eine einzige Sehne, auf einen Bogen gespannt oder vielmehr auf eines der Streichinstrumente aufgezogen, eine Saite, mitschwingend und -klingend in diesem Ensemble, mit ihm eine Einheit bildend, aufgehoben in einem eigenen Kosmos, Harmonie eines subjektiven Himmels, in dem ich, die Zeit außer Kraft setzend, ewig schweben, segeln, auf- und abtreiben möchte, alles um mich vergessend, eine Art fötaler Urzustand, den es vielleicht nie gegeben hat, der mir aber jetzt als Vision vorschwebt, wobei, ihn versüßend, noch jene Vision hinzukommt, gleichsam hineingearbeitet wird, dieses überraschende Strahlen aus der Tiefe, verkörpert im Goldfisch, ein Hinweis auf die Erscheinung im Fenster oder, geballter, den Jungen im Türspalt zum Gastraum, unwirklich und doch mit solch intensiver Realität aufgeladen, daß alles ringsum verblaßt, und dennoch unmöglich, nie zu erlangen, nicht mal zu berühren, nur als Wunschprojektion präsent, die auf das Vakuum in meinem Leben aufmerksam macht, einigermaßen noch zu ertragen, solange es halbwegs vergessen, verschüttet ist, denn ganz verheilt ist diese Wunde niemals, weder im Schlaf noch im Suff, auch jetzt nicht, beim Hören des Beethovenschen Rasumowsky-Quartetts, in das sich dieses Verlangen hineinmischt, die Klänge verfärbt mit seiner quälenden Tönung, und durch das russische Thema im Finale, diesem wildfröhlichen Tanz, schlingen sich widerhakenbewehrte Ranken, an denen ich mir sozusagen die Haut aufreiße, doch ich drehe mich heftig hinein in das strudelnde Kreisen und bin high.

    Ein Kreisen, das noch anhält, als der Player sich mit diesem leisen Geräusch ausschaltet, als ob er die rotierende CD ausbremst mit einem „Psst!", das sich in seiner technischen Lautsprache wie ein Sirren anhört, gefolgt von einem Klicken, womit sich der Apparat endgültig aus dem Musikstück herausklinkt, während es in mir weiter schwirrt, kann ich doch nicht so plötzlich abschalten und drehen sich in meinem Gedächtnis die Melodien noch fort, Ohrwürmer, die mich im Kopf zu diesem Schwirren begleiten, immer noch durchwirkt von diesem trunkenen Ziehen, bittersüß wie dieser herbe Pflanzengeruch, dieser betäubende Blütenduft, vermischt mit der würzigen Ausdünstung zertretenen Blattwerks: balsamische Mischung mit Wermutstropfen, sozusagen, Liebesweh, Paradox zweier kontrastierender Gefühle, unerfüllbare Sehnsucht, die eine Art chemische Reaktion eingeht und diesen Kummer hervorbringt, der mich zunehmend packt, den ich loswerden, wenigstens abmildern will, indem ich mich auf das Erfreuliche konzentriere, das Beseligende beim Anblick des Jungen, den ich mir plötzlich gar nicht mehr 13vorstellen kann, als seien die Züge verwischt, wie bei einer unscharfen Einstellung, verwackelt, nur noch eine weiße Projektionsfläche, und ich strenge mich an, dieses leere Gesicht nachzuzeichnen, doch je mehr ich mich mühe, umso abstrakter wird es, flüchtig wie Wolkengebilde, die, eben noch mit scharfen, deutlich erkennbaren Konturen, verblassen, schließlich verdampfen, einen Nachgeschmack zurücklassen, der, wie mir klar wird, nichts weiter ist als dieser Pflanzengeruch, vermischt mit meinem eigenen, dieser Gegensatz von Parfüm- und, darunter, Körperausdünstung, eine Art künstlich-natürlicher Widerstreit, ein Versuch, ursprünglichen Gestank mit raffiniertem Aroma zu übertünchen, doch dieses wird säuerlich, und das Animalische schwitzt gleichsam durch, so wie ich jetzt transpiriere, in einer widerwärtigen Dunstglocke stehe, einem parfümierten Schweißgeruch, den ich bei anderen so sehr verabscheue, nun selber unzumutbar für empfindliche Nasen, zum Beispiel der des Jungen, der meiner Vorstellungskraft abhanden gekommen ist, entwichen wie Gas, das mich schwerelos machte, brütend in schwüler Hitze, entzaubert, wobei auch die euphorische Wirkung des Biers plötzlich futsch ist, fade Ernüchterung zurückläßt, gekoppelt mit einem unbändigen Durst nach dem Jungen, den ich mir gleichsam mit saugendem Hirn zu vergegenwärtigen suche, konzentriert auf ein Nichts in der nebelhaften Fläche seines Gesichts, auf jene Pustel über der Braue oder dem Muttermal über der Lippe, an das ich mich zwar de facto erinnere, aber nicht wirklich, und ich halte mich an dem braunen Punkt fest, der den hellen Teint akzentuiert hat, und begreife, was Frauen in früheren Zeiten bewegte, sich ein künstliches Mal in ihr Gesicht wie aus Meißener Porzellan zu setzen, eine Art Dreh- und Angelpunkt für schmachtende Kavaliere, die sich vielleicht so verzweifelt wie ich an das eigentlich glatte, leere, aber anbetungswürdige Antlitz ihrer Geliebten zu erinnern versuchten, sie im Geiste an ihren in die makellose Stirn fallenden Korkenzieherlocken zu sich herab aufs verschwitzte Nachtlager zogen, wie ich jetzt den Jungen an seinen, wie heißen sie noch - Herrenwinkern zu mir ins Gestrüpp herunterzerre, die ihm jedoch wie eine Gardine in die nichtssagende Larve fallen, aus der, abscheuliche Zwangsvorstellung, nun die bernsteinfarbenen Katzenaugen hervorzuglühen beginnen, darin die Pupillen wie Risse, aus denen es schwarz wie die Nacht blakt, und ich breche, fortgetrieben, durchs Unterholz und haste zur Haltestelle.

    Zu Hause hole ich gleich die braune, altmodisch eckige Flasche aus dem Kühlschrank, die mich an die Medizinfläschchen von früher erinnert, in denen Hustensaft oder ein antibiotischer Sirup war, süß und klebrig, ein Wundermittel, um mich kleinen Patienten von körperlichen Krankheiten zu befreien, wirksam wie die heilige Hostie gegen seelische, nur daß ich an die Heilkraft der letzteren heute nicht mehr glaube und die 750-ml-Flasche in meiner Hand gegenüber ihren kleinen Geschwistern von früher gewachsen zu sein scheint, so wie ich, kein nach verzuckerter Arznei versessener Junge 14mehr, aber immer noch erpicht auf wunderwirkende Mittel, gewachsen bin, und meine Schwäche fürs Religiöse scheint sich auf profanen Hokuspokus verlagert zu haben, zur Zeit auf Aloe Vera, Königin der Heilpflanzen, wie es im Reklame-Faltblättchen heißt, auf dem vorne die Pflanze abgebildet ist, die zur Familie der Lilien gehören soll, obwohl sie wie eine Kakteenart aussieht, grüne, sich schlängelnde Zungen, zu einem Bündel nach oben gewachsenen, steif und geschwollen von ihrer Flüssigkeit, an die fleischigen Blätter der Fetthenne erinnernd, nur daß diese hier unten breit sind und nach oben hin spitz zulaufen, an beiden Seiten mit Stacheln bewehrt, die wiederum an zähnestarrende Krokodilskiefer erinnern, und oben heraus wächst in Form eines Baumes ein mit rötlichen Blüten besetztes Gezweig, prunkend über dem abweisenden, dornendrohenden Blattwerk, in dem die natürlichen Wirkstoffe konzentriert sind, das also, seinem gleichsam waffenstarrenden, martialischen Gehabe zum Trotz, mit einer Machete abgehackt und dann ausgepreßt wird, eine brutale Methode, um an das milde, wässerige Pflanzenblut zu gelangen, dem laut Prospekt schon Kleopatra ihre sprichwörtliche Schönheit zumindest teilweise zu verdanken haben sollte, diese skrupellose Intrigantin, von der es an anderer Stelle heißt, die Form ihrer Nase hätte Geschichte gemacht, was ich mir durchaus vorstellen kann, spielt für mich die runde, niedliche Nase des Jungen im Türspalt zum Gastraum doch auch eine entscheidende Rolle, und wäre Kleopatras Nase spitz, platt oder knollig gewesen, wäre sie wohl kaum erst Cäsars, dann des Antonius Geliebte geworden und hätte somit die Mittel zum Ausbau ihrer Macht nicht erhalten, absurd, sich vorzustellen, daß ein Zentimeter Nase mehr oder weniger die Geschicke der Welt bestimmen kann, aber so ist es wahrscheinlich in allem, daß nämlich geringe Dinge große Wirkungen haben und zum Beispiel die Politik weniger von Vernunft oder Gerechtigkeit, sondern vielmehr von der momentanen Verfassung einer launischen Frau abhängen kann, die den mächtigsten Mann seiner Zeit am Gängelband führt, ihn zappeln läßt, wenn sie gerade Migräne oder ihre Tage hat, was sich auf andere Zusammenhänge auswirkt, über Krieg oder Frieden entscheidet, über Tod oder Leben eines Delinquenten, ja, ich stelle mir vor, Pontius Pilatus hätte mit seiner Kleopatra eine geile Nacht verbracht, bevor man ihm den Messias vorführte, den er, statt die Hände in Unschuld zu waschen, dank des tollen Nachklangs des erotischen Abenteuers milde gestimmt, begnadigt hätte, trotz des Pharisäergezeters - wie anders wäre da die gesamte Menschheitsgeschichte verlaufen, doch vielleicht hatte Pilatus gerade in jener Nacht vor dem Gerichtsverfahren erste Runzeln, Spuren des Verfalls, am sonst makellosen Leib der Geliebten entdeckt, die so lusttötend auf ihn gewirkt hatten, daß er sich widerwillig von ihr abwandte und sein Ekel so noch lähmend bis in den nächsten Tag hineinwirkte, was sein Urteil beziehungsweise sein Sichdrücken davor mitbestimmte, so daß also Jesus nicht, weil es Gott Vater so wollte, gekreuzigt wurde, sondern wegen einiger verhängnisvoller Falten einer bevorzugten Hure oder Sklavin des Statthalters, die, hätte sie Aloe Vera getrunken, noch gar nicht dagewesen wären, jenes 15Zaubermittel, dessen heilende Eigenschaften, wieder dem Prospekt zufolge, schon Hippokrates beschrieb, und selbst Alexander der Große ließ demnach seine verwundeten Soldaten mit diesem Saft behandeln, und ich stelle mir seine verschwitzten, blutenden, dreckstarrenden Männer mit ihren herrlichen Körpern vor, noch halbe Jungen: welch ein Verbrechen, sie in vom Größenwahn diktierten Schlachten zu opfern, ausgerechnet von einem Feldherrn wie ihm, der selber den Liebreiz halbwüchsiger Helden geschätzt haben soll, den die Nase Kleopatras zwar nicht an der eigenen herumgeführt hätte, aber vielleicht die seines Bettgenossen, eines grausamen, sadistischen, ehrgeizigen Jünglings, den wiederum Alexanders frühes Altern, Auswirkung seiner exzessiven Lebensweise, unzufrieden und zänkisch machte, was den Überdruß dieses von Aristoteles erzogenen, eigentlich allzumenschlichen makedonischen Königs mit dem hochtrabenden Beinamen „Der Große" hervorrief, der vielleicht eher kleinwüchsig war, wie Napoleon, noch so ein zu kurz geratener Massenschlächter, was also den Überdruß des Gewaltigsten um 330 vor Christus so anstachelte, daß er sich, um ihn zu kompensieren, in irrwitzige Eroberungsfeldzüge hineinstürzte, bis er so ausgelaugt war, daß ihn, wie Jesus erst dreiunddreißig, ein Fieber vorzeitig hinwegraffte, ach, hätte er besser Aloe Vera getrunken, auf seine Gesundheit geachtet und sich frisch für seinen Gespielen erhalten, der dann vielleicht weniger rumgezickt hätte!

    Ich jedenfalls nehme den sagenhaften Saft, gepeinigt von Ängsten, unter anderem durch meine Arbeit als Altenpfleger, wo ich so viel an Gebrechen und körperlichem Zerfall zu sehen bekomme, daß es mich oft in Panik versetzt und ich jedes Zwicken und Zwacken in mir als Vorboten einer Katastrophe deute, als erstes Anzeichen eines Nierenversagens, Herzleidens oder gar einer Krebserkrankung, da, dieser Kopfschmerz zum Beispiel, der mich zwanghaft an einen Gehirntumor denken läßt oder an mangelnde Durchblutung, Symptom einer beginnenden Verkalkung, vielleicht sogar der Alzheimer Krankheit, an der meine Mutter leidet und die vererbbar sein soll, und bestimmt grassiert sie auch längst schon in mir, jedenfalls bin ich in letzter Zeit schrecklich vergeßlich, nehme meine Umgebung nur noch verworren wahr, bedrohlich verzerrt, fühle mich ihr hilflos ausgeliefert, als sei sie ein Tier, das sich, kaum läßt meine Aufmerksamkeit nach, auf mich stürzt, weshalb ich es mit äußerster Konzentration im Bann zu halten mich anstrenge, was wiederum eine Migräne auslösen kann, mit noch gestörterem Sichtfeld, womöglich der Hinweis auf eine bereits taubeneigroße Geschwulst in meinem Schädel, die auf meinen Sehnerv drückt, ihn langsam abquetscht, so daß es bald keine Verbindung mehr zwischen Augen und Hirn gibt, ich dann in totaler Finsternis vegetiere, während es weiter wuchert in meinem Kopf, oder es entsteht im Gegenteil wegen des absterbenden Gewebes ein immer größeres Loch in den grauen Zellen, die ich mir nur als wabernde Masse vorstellen kann, außerstande, ihre Kompliziertheit auch bloß ansatzweise zu verstehen, nur daß es zu Störungen darin kommen kann, ausgelöst durch eine geplatzte Ader 16etwa, Überanstrengung, Saufen oder einfach aufgrund schlechter Gene, die ich mit Sicherheit von meinen Eltern mitbekommen habe, was sich bereits in meiner Anlage zur Glatzenbildung und Korpulenz äußert, auch erkennbar an meinen dünnen, schnell spleißenden Fingernägeln, ebenso an meiner überempfindlichen Haut, die gleich zum Sonnenbrand, also auch Hautkrebs neigt, gegen den ich Aloe Vera einsetze, das ich mir nicht nur auf die geröteten Stellen reibe, sondern auf meinen gesamten Körper, wobei ich mir Siegfried vorstelle, badend im Drachenblut, das ihn unverletzbar machte wie mich dieses Blut einer Pflanze, deren an Krokodilskiefer erinnernde dornenbewehrte Blätter ebenfalls etwas Echsenhaftes haben, auch diese lederartige Oberfläche, die ich auf meinen Leib übertragen möchte, damit er geschützt ist vor Strahlungen, Ozon, Asbest, überhaupt vor aller schlimmen Einwirkung, und auch von innen will ich ihn schützen, stabilisieren, die Organe gleichfalls mit einer Art Echsenhaut umgeben, indem ich mehrmals täglich einen Schluck aus der Flasche nehme, ahne ich doch Verheerendes in meinen Eingeweiden, was mir meine ständigen Durchfälle signalisieren, die vielleicht nur vom übermäßigen Trinken herrühren, doch da ich das nicht in den Griff bekomme, greife ich auf Hilfsmittel zurück, um das Äußerste zu verhindern, innere Blutungen, Darmgeschwüre oder gar einen Magendurchbruch, Zerstörungen an den Herzkranzgefäßen, die ich mir wie eine zerrissene Spitzenarbeit vorstelle, eine zerfressene Leber, verätzt von hindurchgeschwemmten Schadstoffen, die auch in den Blutbahnen schwimmen, die ich mir wie die verseuchten Flüsse der Welt vorstelle, ja, ich fühle mich wie eine einzige Kloake, nicht nur körperlich, auch was meine Gedankenströme betrifft, diese von Horrorvisionen überquellenden Assoziationen, empfinde mich als ein aus dem ökologischen Gleichgewicht geratenes Ganzes, sozusagen als personifizierte Umweltverschmutzung, wogegen auch Aloe Vera nicht hilft, wie mir natürlich klar ist, aber irgendwas braucht doch ein jeder, woran er sich festhalten kann, Illusionen, magische Kräfte, die alles zurechtrücken, mich heilen, wie jener Saft die Wunden und Schwären der Menschheit: Aloe Vera, die Königin der Heilpflanzen, schon in der Antike und noch im Mittelalter geschätzt, hat sie doch, laut dem Prospekt, auch Paracelsus als geheimnisvolle und mysteriöse Pflanze gerühmt, deren Saft Verbrennungen und Blutvergiftungen heilt, die Immunabwehr aktiviert, desinfiziert, Schmerz lindert, Keime tötet, und heute haben geschäftstüchtige Firmen sie wiederentdeckt und verkaufen mir eine Flasche für zwanzig Euro, ein empörender Preis für ein Pseudoheilmittel, an das ich noch nicht einmal glaube, doch ich fühle mich sterbenskrank an Leib und Seele, möchte dem irgendetwas entgegensetzen, und sei es nur eine Lüge, die ich zwar halbwegs durchschaue, aber wie ein Bettlaken über meine Gebresten ziehe, um sie nicht dauernd zu sehen, obwohl ich sie immer vor Augen habe, wie einen geplatzten Sack voll Eiter und Kot, einen durch Unfall, Schicksal oder Selbstmord Zerschmetterten, über den Sanitäter ein Leichentuch breiten, um anderen diesen Anblick 17zu ersparen - prost, und ich genehmige mir noch einen Schluck von dem Zaubertrank und bin jetzt, verdammt noch mal, wieder gesund!

    Noch diesen faden, leicht säuerlichen, medizinischen Geschmack auf der Zunge, betrete ich mit Marcel, dem Icherzähler von Prousts großem Roman, den ich gerade lese, den dunklen Vorraum des Hauses, verschmelze zugleich mit dem Protagonisten, wobei nicht die Phantasie des Autors beziehungsweise sein Text, sondern der getrunkene Saft mir die Macht zu geben scheint, die Perspektive zu wechseln, als befähigte er mich, in fiktive Gestalten zu schlüpfen, mich in sie hineinzuversetzen und nicht nur identisch mit Marcel zu werden, sondern mich auch in seine Welt zu begeben, zum Beispiel ins Treppenhaus, wo ich gegen einen Kleiderständer laufe in meiner Verwirrung, die so groß ist, daß ich den auf einer Truhe sitzenden Hausdiener in seinem langen grauen Rock in der Dunkelheit für Madame Swann halte und mich vor ihm in Grußbezeigungen ergehe, während die wirkliche Dame des Hauses vorüberkommt und mir lächelnd die Hand drückt, die Mutter von Gilberte, einem Mädchen, das ich mir seltsamerweise als Knaben vorstelle, dem ich, nach meinem Irrweg im Königsforst, jetzt sogar das Gesicht des Jungen im Türspalt gebe, das mir, eben noch verschwommen, auf einmal deutlich vorschwebt, blondgefärbt das strähnige Haar, das von beiden Seiten bogenartig ins Gesicht fällt, bis zu den Wangen, zurückgeworfen von einer Kopfbewegung, die etwas Herrisches, Schmollendes hat, das oft bei so atemberaubend Schönen anzutreffen ist, ein natürlicher Adel, herrührend aus der instinktiven Gewißheit, etwas Besonderes, vom Schicksal Bevorzugtes zu sein, dem man unwillkürlich zu Diensten sein möchte, so ein überdrüssiger Liebling mit grausamen Allüren, da er sich nicht anstrengen und um Sympathien bemühen muß, die ihm vielmehr von selbst in den Schoß fallen, was ihn leicht nervt, launisch macht wie eine verwöhnte Prinzessin, etwa Gilberte, die Marcel aus dem Gleichgewicht bringt, also mich, der ich auf einmal todmüde bin von der schwierigen Lektüre, auch noch erschöpft vom Wandern im Wald, so daß ich, im Sessel zurückgesunken, das Buch zugeklappt im Schoß, schwerelos werde und wie ein Zeppelin in die Höhe steige, eine große Zigarre am Himmel, schwebend im Raum, eine Schleppe nachschleifend, die außerhalb des Bildes irgendwo befestigt ist, einem Fischernetz ähnlich, in dem sich Menschen bewegen, wie auf einer Hängebrücke, die sich immer länger auseinanderzieht, dann schlagartig nachgibt und durchhängt, als hätte sie zuviel Leine bekommen, und sie saust nun rasend schnell in die Tiefe, ein riesiger, auseinanderflatternder Schleier, aus dem Menschen, winzig wie Flöhe, herausgeschüttelt werden, die zappelnd hinabstürzen und Todesschreie ausstoßen, was sich aus der Entfernung wie ein feines Zirpen anhört, während aus dem Off immer mehr Netzgarn ins Bild hineingerissen wird und wie ein gewaltiger Vorhang herabweht, an den sich Verzweifelte klammern, ehe er mit einem Ruck, wie losgerissen, niederfällt, und die Riesenzigarre, an deren Zugleinen auch Winzlinge strampeln, gerät in Brand, explodiert: eine 18gigantische Feuersbrunst, gleichsam das Ende der Welt, unglaublich plastisch und grauenerregend, ein auf mich herabprasselndes Inferno, dem ich entkomme, indem ich kurz aufschrecke, doch dann sacke ich wieder weg, und der Feuerball zieht sich lang, verwandelt sich in jenen Goldfisch, auch hier vor einem düsteren Hintergrund, und auf ihm rittlings der Junge, der eine zwischen den Schenkeln aufragende Angel schwingt, und, wie ein Cowboy sein Lasso, den Haken an der Schnur um sich herumwirbelt, der sich ruckartig in mir verfängt, sich in meine Eingeweide gräbt, doch es schmerzt nicht, sondern juckt nur, und die Angel entpuppt sich als Penis des Jungen, der auf meinem sich bäumenden Fisch reitet, den der Stachel im Fleisch zum Niesen reizt, worauf er Aloe Vera herausschnieft, und ich erwache und glaube, ich hätte mich eingepinkelt, doch dann wird mir klar, was es ist, das mich feucht gemacht hat.

    Später, auf dem Balkon, in der Nacht, mit oben den Sternen, Einstiche in einen blauschwarzen Karton, durch die der Himmel hereinstrahlt, wie ich es mir früher vorgestellt habe, wie in die Schachtel, in der ich, aus dem Tierladen in der weit entfernten Stadt, meinen ersten Hamster heimtrug, der sich, wahrscheinlich zu Tode erschrocken, mucksmäuschenstill verhielt, so daß ich schon glaubte, er sei gar nicht mehr drin oder gestorben, aber da spürte ich es warm durch die Pappe nässen, und ich roch plötzlich die Ausdünstung des Tieres, pure Angst, wie mir schien, so wie ich sie vorhin, während des Alptraums, gespürt und mich ebenfalls eingenäßt habe, aber anders, mit einem sensationellen Gefühl, das ich erst später kennenlernte, als ich mich nicht mehr für Hamster interessierte, sondern, zum Beispiel, für einen Jungen aus der Parallelklasse, der mich einmal, nach der Schule, auf dem Heimweg, anrempelte und mir Schläge androhte, wofür weiß ich nicht mehr, nur, daß ich lieber die Schläge als die Nichtbeachtung von diesem Wahnsinnstyp ertragen hätte, einer der ersten in einer endlosen Reihe, die, in Abständen, immer wieder auftauchten, wie ein Sturm in meinem sonst windstillen, langweiligen Leben, obwohl es mir heute so vorkommt, als hätte ich nie so intensiv existiert wie damals, zu Beginn der Geschlechtsreife, was ich als „Reife des Schlechten interpretierte, wurde doch dieses Klebrige, das ich zu meinem Entsetzen, nach dem Aufschrecken aus einem verbotenen Lusttraum, da unten ertastete, als Ausfluß des Bösen verstanden, was mich geprägt, verunsichert, in die Irre geführt hat, nämlich in den fatalen Glauben, daß dieses schönste Erlebnis nichts weiter sei als Satans Verführungswerk, ein Glück dieser Art also ein Gaukelspiel, ekelhaft, verdammungswürdig, auch heute noch, zumindest für einen wie mich, der ich mich schon als ganz junger Mensch nach so einem Mitschüler sehnte, von dem ich eine „polierte Fresse angedroht kriegte und der ein Zwillingsbruder jenes Jungen im Türspalt zum Gastraum sein könnte, der wohl auch aggressiv reagieren würde, erklärte ich ihm, was ich für ihn empfinde, als sei es eine Beschmutzung, so wie mein Ausfluß als „Selbstbefleckung bezeichnet wurde, eine infame 19Lüge, Verteufelung einer eigentlich göttlichen Offenbarung, jedenfalls bin ich nie dem Garten Eden näher gewesen als in solchen Momenten reinster Verzückung, eine Ableitung von „Zucken, was auf den physiologischen Tatbestand hinweist, während ich mich im Schlaf beispielsweise in einen Goldfisch verwandle, von meinem herrlichen Reiter zum Explodieren gebracht, ein ekstatisches Feuer - plötzlich erstickt und ich abgestürzt: eine Art Rausschmiß aus dem Paradies, Erwachen in einer Wirklichkeit, die jenen Höhenflug aufs Erbärmlichste reduziert, und die Sensation ist nur noch ein kalter Bauer, so wie die Sterne da oben gar keine Gucklöcher in einen strahlenden Himmel sind, sondern meist längst erloschene Himmelskörper.

    Dagegen wirken die anderen Himmelskörper, wenn man Flieger als solche bezeichnen darf, riesig, auch wenn sie, verglichen mit einer Nova, winzig sind wie Bakterien, und äußerst beweglich, obwohl sie in Wirklichkeit tot sind, konstruiert aus Metall, diese tonnenschweren Transportflugzeuge, die, aus der ganzen Welt jetzt, nach Mitternacht, hier eintrudeln, wie zur Herbstzeit die Vogelzüge von überallher ein bestimmtes Gebiet in Australien, Afrika oder Spanien ansteuern, nur daß diese Metallvögel da oben umgekehrt aus den heißen Gegenden hierher kommen, um die in glühender Sonne gereiften Früchte, Kaffee, Bananen oder Zitronen, in den vergleichsweise kühlen Norden zu bringen, von dem, wiederum umgekehrt, tagsüber massenweise Touristen in die südlichen Gefilde abfliegen, sie wie Heuschreckenschwärme heimsuchen, um ihr Geld dort zu lassen, diesen eigentlichen Herrscher auf Erden, der aber, statt für die weltweite Ernährung zu sorgen, Nahrung aus den ärmeren Ländern exportiert, ihnen die letzten Ressourcen entzieht und dafür nicht Brot, Decken, Medikamente liefert, sondern Waffen, die neusten Vernichtungssysteme, immer raffiniertere, höllischere Erfindungen, die bereits in der Lage sind, diesen Planeten, ein Fliegenschiß im Universum, tausendfach zu eliminieren, in zahllose Brocken zu sprengen, in Minikometen zu verwandeln, die, wie der Fliegende Holländer ewig über die Meere segelt, vereinzelt durchs All sausen mit ihrem gewaltigen Schweif, bis sie erlöst werden von ihrer verfluchten Existenz, beide, der Holländer durch die bedingungslose Liebe eines jungfräulichen Mädchens und der vereiste Steinbrocken durch die Atmosphäre eines anderen Planeten, in der er verglüht, oder er verursacht eine gigantische Explosion, wie vor etlichen Millionen Jahren auf unserer Erde, der die Dinosaurier zum Opfer fielen, wie heute die gesamte Menschheit von der Vernichtung durch Atombomben bedroht ist, abgeworfen von solchen bauchigen Fliegern, die da über den sternenfunkelnden Himmel schrammen, wie mir scheint, tagsüber zumindest, wenn ihre Kondensstreifen anscheinend Kratzer wie auf einer hellblauen Glaskuppel hinterlassen, jetzt in der Dunkelheit nicht zu sehen, doch dafür blinken weit sichtbar Lichter an Rumpf, Flügeln und Schwanz, die allerdings keine Spuren hinterlassen, es sei denn, bei genauerem Hinriechen, diesen Abgasgeruch oder, bei konzentriertem Lauschen, dieses immer leiser werdende Brummen, das sich unendlich 20fortzusetzen scheint, wie die nie endende Periode hinter dem Komma einer Zahl, und nur durch ein neues, aus dem Nichts auftönenden Brummen eines anderen Flugzeugs verschluckt wird, das wie sein Vorgänger auf den Flughafen hinterm Königsforst zuhält, im Landeflug dicht über das Waldhaus hinwegsetzt, in dem nun der Junge schlummert, den ich heute im Türspalt zum Gastraum gesehen habe, und während ich im Geiste den Flugzeugen meine Grüße an ihn mitgebe, höre ich plötzlich ein anderes Geräusch, das ich erst für ein Flüstern halte, so ein „Psch-psch", als hätte sich dort irgendwo, in der Schwärze der Nacht, ein Liebespaar eingefunden, um sich Zärtlichkeiten ins Ohr zu flüstern, aber es handelt sich nicht um ein Rendezvous, wie mir schnell klar wird, und ich weiche, um nicht gesehen zu werden, hastig zurück in die offene Tür.

    Da, schwarz in schwarz, eine Gestalt, erkennbar nur durch eine rasche Bewegung, wie sich mir vor kurzem die Frösche in Finkens Garten, wo ich den künstlich angelegten Weiher umrundete, erst durch ihren plötzlichen Sprung ins Wasser knapp vor meinen Füßen verrieten, perfekt getarnte Tiere mit den selben Farben und Mustern des Grases, in dem sie hockten, ununterscheidbar wie jene dunkle Gestalt, deren Gesicht sogar vermummt zu sein scheint, wie das eines Bankräubers, der durch die Schlitze einer Maske schaut, um später nicht identifiziert zu werden, so wie dieser hier ebenfalls einen Grund zu haben scheint, unerkannt zu bleiben, aber welchen, und wieder das „Psch-psch" beim ersten Balkon des Seitenhauses, begleitet von einer raschen Geste, kaum sichtbar, da Arm und Hand schwarz wie die Nacht sind, nur zu erahnen an diesem wirbelnden Schimmern, als schreibe der Unbekannte Zeichen in die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1