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Wucherungen III - Die letzten Tage: Roman
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eBook200 Seiten3 Stunden

Wucherungen III - Die letzten Tage: Roman

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Leseprobe:

Der Tod tritt nicht ein, sondern das Leben aus.
[Robert Ründeroth]

Schlagartig erwachte Robert Ründeroth, der keine Erinnerung an seine Träume hatte, schon vor halb sechs Uhr früh, wie aus dem Nichts hierher katapultiert, in einen Zustand, der bedrohlicher war als jeder Nachtmahr, vor dem er doch in höchster Not Reißaus nehmen und sich in die Realität retten konnte. Dagegen war es hier jetzt umgekehrt: aus der relativen Sicherheit des Schlafes (so brüchig wie die Schale eines rohen Eis, die an jedem äußeren Laut zerbrechen, sogar schon von einer inneren Unruhe zerplatzen konnte) wurde er vertrieben in die Wirklichkeit, die ihm wie ein ausbruchsicheres Gefängnis vorkam, aus dem er sich nicht mehr in den betäubenden Schlummer zurückziehen konnte, dessen Zugänge ihm vielmehr wie von zugefallenen Stahltüren verwehrt wurden. Jetzt fühlte er sich diesem Raum ausgeliefert: fürchterlich mit dem grellen Vollmond, der ihn blendete wie ein Gefängniswärter mit seiner Stablampe, deren Strahl nicht durch Gitter, sondern durchs Schlafzimmerfenster in sein Gesicht leuchtete und ihn wohl geweckt hatte – zusammen mit dem ersten Morgendämmer, der die Nacht wie eine schützende Decke von ihm wegzuziehen schien, während die Bettdecke ihn noch umhüllte. Unter der schwitzte er, nicht erhitzt durch einen nachwirkenden Alp, zu dem ihm sein Wachzustand erst wurde, sondern von der Wärme seines Körpers, der sich nun verkrampfte. In seiner Bewußtlosigkeit war Ründeroth noch in Sicherheit gewesen – doch jetzt überkam ihn Panik, als die Erinnerung einsetzte. Stöhnend fuhr er auf, begann in der kühlen Temperatur außerhalb der schützenden Decke aber sofort zu zittern, wickelte sich wieder in sie hinein und kriegte gleich neue Erstickungsanfälle, mehr seelischer als körperlicher Art. Er wußte nicht, ob er aus dem Bett fahren oder sich darin verkriechen sollte, war die eine Alternative doch so schrecklich wie die andere, und kam auf die Idee, sich in Musik zu flüchten: dazu mußte er aber erst aufstehen und zu den CDs ins hintere Zimmer durch die ganze Wohnung gehen. Doch die war es ja gerade, vor der er solchen Horror hatte. Teppich und Linoleum schienen ihm, anders als die brüchige Schale seines Schlafs, nur der Belag eines dünnen doppelten Bodens zu sein, durch den er hindurch brechen konnte, wenn er darüber ging, weil er dabei auf Dinge stieß, die das Entsetzliche in ihm wachriefen. Dann öffnete sich der Abgrund unter ihm, und er stürzte in kein räumliches, aber in ein zeitliches Loch: die Vergangenheit, an die auch bloß zu denken ihm im Augenblick so schmerzhaft war, daß er es nicht aushielt.

[...]

SpracheDeutsch
HerausgeberTrotz Verlag
Erscheinungsdatum17. Feb. 2020
ISBN9783966862530
Wucherungen III - Die letzten Tage: Roman

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    Buchvorschau

    Wucherungen III - Die letzten Tage - Reinhard Knoppka

    Titelbild

    Reinhard Knoppka:

    „Wucherungen III - Die letzten Tage"

    Roman

    Für Walter!

    Verlag & Vertrieb:

    www.trotz.medien-vvg.org

    trotz@medien-vvg.org

    ISBN eBuch: 978-3-96686-253-0

    9783966862530

    © Trotz Verlag

    Köln 2015

    Alle Rechte vorbehalten

    Der Tod tritt nicht ein, sondern das Leben aus. [Robert Ründeroth]Für WalterSchlagartig erwachte Robert Ründeroth, der keine Erinnerung an seine Träume hatte, schon vor halb sechs Uhr früh, wie aus dem Nichts hierher katapultiert, in einen Zustand, der bedrohlicher war als jeder Nachtmahr, vor dem er doch in höchster Not Reißaus nehmen und sich in die Realität retten konnte. Dagegen war es hier jetzt umgekehrt: aus der relativen Sicherheit des Schlafes (so brüchig wie die Schale eines rohen Eis, die an jedem äußeren Laut zerbrechen, sogar schon von einer inneren Unruhe zerplatzen konnte) wurde er vertrieben in die Wirklichkeit, die ihm wie ein ausbruchsicheres Gefängnis vorkam, aus dem er sich nicht mehr in den betäubenden Schlummer zurückziehen konnte, dessen Zugänge ihm vielmehr wie von zugefallenen Stahltüren verwehrt wurden. Jetzt fühlte er sich diesem Raum ausgeliefert: fürchterlich mit dem grellen Vollmond, der ihn blendete wie ein Gefängniswärter mit seiner Stablampe, deren Strahl nicht durch Gitter, sondern durchs Schlafzimmerfenster in sein Gesicht leuchtete und ihn wohl geweckt hatte – zusammen mit dem ersten Morgendämmer, der die Nacht wie eine schützende Decke von ihm wegzuziehen schien, während die Bettdecke ihn noch umhüllte. Unter der schwitzte er, nicht erhitzt durch einen nachwirkenden Alp, zu dem ihm sein Wachzustand erst wurde, sondern von der Wärme seines Körpers, der sich nun verkrampfte. In seiner Bewußtlosigkeit war Ründeroth noch in Sicherheit gewesen – doch jetzt überkam ihn Panik, als die Erinnerung einsetzte. Stöhnend fuhr er auf, begann in der kühlen Temperatur außerhalb der schützenden Decke aber sofort zu zittern, wickelte sich wieder in sie hinein und kriegte gleich neue Erstickungsanfälle, mehr seelischer als körperlicher Art. Er wußte nicht, ob er aus 7dem Bett fahren oder sich darin verkriechen sollte, war die eine Alternative doch so schrecklich wie die andere, und kam auf die Idee, sich in Musik zu flüchten: dazu mußte er aber erst aufstehen und zu den CDs ins hintere Zimmer durch die ganze Wohnung gehen. Doch die war es ja gerade, vor der er solchen Horror hatte. Teppich und Linoleum schienen ihm, anders als die brüchige Schale seines Schlafs, nur der Belag eines dünnen doppelten Bodens zu sein, durch den er hindurchbrechen konnte, wenn er darüber ging, weil er dabei auf Dinge stieß, die das Entsetzliche in ihm wachriefen. Dann öffnete sich der Abgrund unter ihm, und er stürzte in kein räumliches, aber in ein zeitliches Loch: die Vergangenheit, an die auch bloß zu denken ihm im Augenblick so schmerzhaft war, daß er es nicht aushielt.

    Doch auch im Bett wurde es bald unerträglich, und das größere Übel überwog schließlich das kleinere. Schlotternd vor Kälte, floh er barfüßig zur Tür, bekleidet nur mit seiner Unterwäsche. Er drückte die Klinke, gelangte aber nicht über die Schwelle hinaus, in den kleinen, mit grauem Linoleum ausgelegten Flur, der ihn an die Angst seines gerade erst verstorbenen Freundes vor der Dunkelheit in seinen letzten Tagen hier erinnerte. Deshalb hatte auch das Licht in der Nacht anbleiben müssen: sein Schimmer war durch die verglaste Tür in Karls Zimmer, das kleinste in dieser Wohnung, gefallen und nur von einer Jacke am Haken gedämpft worden, nicht zu hell für den Kranken, der im Bett, das längs unter dem Fenster stand, gelegen hatte oder zur Wand gerollt gewesen war, eingekrümmt in der Seitenlage, die Decke bis zur Schulter über sich gezogen – nicht schlafend, sondern grellwach, gelähmt vor Grauen, 8das nachts in der Finsternis noch zugenommen hatte, wenn das überhaupt möglich gewesen war. War das Licht versehentlich ausgeknipst gewesen, hatte Karasch gewimmert, wie Ründeroth es aus seiner eigenen Kindheit gekannt hatte, in der er selber eine Todesfurcht vor der Dunkelheit gehabt und die Nonne nachts herbeigewinselt hatte. Die hatte im großen Schlafsaalflur das Licht hinter der Schrankfront angemacht, das mit schwachem Schein in die Sechsbettzellen hereingefallen war, wie das ewige Licht in der sonst stockdunklen Kapelle, und es hatte ihn vor der Vorstellung bewahrt, weiter in der Hölle zu sein, die mit all ihren Schrecken über ihn hergefallen war. Die waren ihm vorher eingejagt worden, um ihn vom Sündigen abzuhalten, und deshalb hatte er sich ständig schuldig gefühlt und geglaubt, zu Recht gepeinigt zu werden. So ähnlich mußte es auch für Karasch in den letzten Nächten hier in seinem Zimmer gewesen sein – nur daß seine Angst vor der Nachtschwärze noch auf eine ganz andere Abgründigkeit Bezug genommen hatte, die er wahrgenommen haben mußte: eine himmelhohe Wand oder vielmehr Wandlosigkeit, die da vor ihm gegähnt und ihn vielleicht auch an die Bombennacht in seiner Kindheit erinnert hatte. In der war dieselbe Hauswand vor seinem Kinderbett weggesprengt worden, und das Bettgestell hatte halb über die Kante hinausgeragt, von der es seine Mutter im letzten Moment zurückgezerrt und dem ohrenbetäubenden, blitz- und feuerspeienden Inferno entrissen hatte – ein Untergangsszenario, wie es zuletzt auch in seinem Kopf gespukt haben mochte. Daß Karasch sich zu diesem Schreckensbündel eines von vernichtenden Übermächten traumatisierten Kindes wieder zurückentwickelt zu haben schien, schmerzte Ründeroth am meisten:

    9das Entwürdigende dabei, das Zusammenschrumpfen zu einem Häuflein Elend, einem hilf- und wehrlosen, wie ein Baby gepamperten Menschen, den er noch nicht mal hatte füttern können, weil er kaum imstande gewesen war, irgendwelche Nahrung, wenigstens ein Schlückchen Flüssigkeit, zu sich zu nehmen, ohne einen Brechreiz zu bekommen oder trocken zu würgen. Karasch hatte nur Ründeroth zuliebe seinen Ekel vor Nahrung überwunden, wenn der weinend und hysterisch mit dem Teelöffelchen, aus dem schon die Hälfte verschüttet gewesen war, vor seinem Gesicht herumgezittert und ihn gebeten hatte, doch etwas zu essen – wobei er nie an das Sterben seines Freundes gedacht hatte, das eigentlich schon längst im Gange gewesen war: vielleicht aus Selbstschutz, weil er sonst zusammengebrochen wäre. – Diese Erinnerungen brachen nun mit solcher Gewalt über Ründeroth herein, der gebannt auf der Schwelle seines Zimmers stand, daß er unter der Wucht eines jähen Schmerzes, als sei ihm ein Schwert in den Leib gestoßen worden, nach vorn zusammenklappte, sich einrollte und erst mal nur noch vor Qualen keuchen konnte, die ihn wie Schläge durchfuhren und seinen ganzen Körper zucken ließen – bis sie schwächer wurden und sein Stöhnen in ein monotones Klagen überging, das bald wie das Auf und Ab eines Sirenengeheuls aus ihm herausdrang und sein angestaute Leid mit herauszuschwemmen schien: eine Art lautliches Abführmittel seelischer Verstopfung, die sich jetzt aus seinem Mund erbrach. Es war wie eine scheußliche, aber doch auch befreiende Erleichterung von einer psychischen Übelkeit, die er zugleich wie ein physisches Elend empfand – begleitet von dem Heulen eines verendenden Tieres, das ihm fremd und von sich völlig abge10trennt erschien, auch das Wesen hier am Boden, das vor Schwäche nicht aufstehen konnte und nun auf allen vieren zum Bett zurückkroch. Es war zum Hineingelangen zu hoch für ihn, und also zog er die Decke herunter und ließ sie wie einen Vorhang über sich fallen, der alles gnädig verhüllen sollte.

    Ründeroth wäre seinem Freund Karl Karasch, der gestern in demselben Krankenhaus wie seine Eltern gestorben und in dem er fast genau einundachtzig Jahre zuvor geboren worden war, am liebsten nachgefolgt, wohin auch immer.

    Er hätte sich nur zu gern diesem Alptraum, aus dem es weder einen Ausweg durch Erwachen noch durch Einschlafen gab, geflüchtet – in Karls Arme, in die er sich die ganze Zeit ihrer anfangs schwierigen, später aber umso harmonischeren, dreiunddreißig Jahre langen Freundschaft immer wieder gerettet hatte. Das beste wäre gewesen, sich ebenfalls von seinem Leib, jetzt nur ein Hort des Leidens, zu lösen und Karl nachzufliegen, in eine Dimension, von der er als lebend Zurückgebliebener keine Ahnung hatte, nur Spekulationen darüber, und die kamen Ründeroth völlig sinnund wertlos vor angesichts seiner Einsamkeit, die ihm fast schon dämonisch erschien. Jedenfalls schien sie die Grenzen seines irdischen Daseins zu sprengen, ebenso seine ungeheure Sehnsucht nach Karl, die ihn aber trotzdem nicht zu ihm hinbrachte, wußte er ja nicht, wo er jetzt überhaupt war. Bestimmt war er nicht mehr in seinem Leichnam, an den Ründeroth bloß nicht denken durfte, wenn er nicht verrückt werden wollte – der, bäuchlings vor seinem Bett, den Kopf auf die andere Seite warf, als könnte er so auch die Gedanken in eine andere Richtung lenken. Das gelang 11ihm tatsächlich, erleichterte ihn aber nicht – vielmehr trieb es ihm nur andere Nadeln der Erinnerung in sein seelisches Wundgefühl: fast noch schlimmer, weil fürchterlich konkret. Der Fleck im Teppich, über den seine Wange gescheuert war, löste das aus: er roch irgendwie verschwitzt, wie alte Klamotten – zum Glück wenigstens nicht nach Kotze, fuhr es ihm erst beschwichtigend durch den Kopf, den er dann aber betroffen zurückriß, als er einen Hieb verspürte, wieder in die Magengrube, den ihm die dunkle Stelle im Teppichboden verabreicht zu haben schien. Sie führte ihm schlagartig die Szene vor Augen, wie er vor Jahren, nach einem unkontrollierten Saufen, bei dem Karasch nicht genug auf ihn aufgepaßt hatte, im Bett hinterher zu würgen und zu stöhnen angefangen und schon den ersten Schwall, über die Kante gekrümmt, erbrochen hatte, ehe sein Freund, von den Lauten alarmiert, mit dem Wischeimer herbeigekommen war, in den Ründeroth dann weiter gekotzt hatte, während der andere den ekelhaften Brei auf dem Teppich mit nackten Händen in eine Schüssel geschaufelt, anschließend mit von der Rolle gerissenen Papiertüchern entfernt und zuletzt mit nassen Handtüchern bearbeitet hatte. Er hatte den Gestank sogar mit Putzzeug und Deospray wegzukriegen versucht, was Ründeroth die Tränen nicht nur vom Würgen, sondern auch vor Rührung in die Augen getrieben hatte. Karasch hatte in seiner Fürsorge keinen Widerwillen gezeigt, ihn auch nicht beschimpft, sondern allein sich selber Vorwürfe gemacht, weil er nicht besser auf ihn geachtet und ihn dadurch nicht vor diesem Elend bewahrt hatte. Doch schlimmer als Ründeroths konvulsivisches Zucken damals, als er wirklich erbrochen hatte, waren seine seelischen Krämpfe jetzt bei der 12Erinnerung daran: sie schien eine Bresche in den Damm vor der Vergangenheit gerissen zu haben, und die drohte ihn nun wie eine Sturzflut durch diese Bruchstelle zu überschwemmen und in ihren Strudel hineinzuwirbeln. Ächzend, mit zugekniffenen Augen, rückte er weg vom Teppichfleck und streckte Arme und Beine weit auseinander, wie ein Schiffbrüchiger auf einem Trümmerteil bei schwerem Wellengang – während er, als sei er seekrank, auf den Wogen einer Übelkeit herumschlingerte, die darum so heimtückisch war, weil sie zwar körperlich in ihm tobte, aber psychische Ursachen hatte, die aus seiner Tiefe kamen, aus der es wie aus Geysiren aufzubrodeln und aus ihm herauszurülpsen schien.

    Die ganze Welt, worunter er jetzt nicht nur die äußere, sondern auch seine innere verstand (früher hatte er das scharf getrennt), kam ihm plötzlich schwankend vor, wie eine haushohe Dünung, von der er in den Büchern von Melville gelesen hatte, oder auch wie ein anhaltendes Erdbeben: als bäume sich ein feuerspeiendes Ungeheuer im Erdmittelpunkt auf und versuche die Kontinentalplatten abzuwerfen – auch wenn ihm das zugleich vollkommen übertrieben erschien, er sich sogar größenwahnsinnig vorkam (zweifellos war er ja auch irgendwie verrückt) bei der Vorstellung, die gesamte Existenz würde seinetwegen solche Kapriolen schlagen. Aber er nahm sie nun mal so aus seinem mikroskopisch kleinen Dasein wahr, mit dem er an diesem riesengroßen Globus klebte – vielmehr auf dem muffigen Teppich (in einer ziemlich verkommenen, seit ihrem Einzug vor achtzehn Jahren nicht mehr renovierten Wohnung) ausgestreckt dalag und, wie gesagt, den Erdball unter sich 13mit sich selbst verschmolzen und in Konvulsionen erlebte:

    als wäre die Grenze zwischen ihm und der Umwelt aufgehoben und das kosmische mit seinem individuellen Bewußtsein eins geworden. Er spürte also ein so starkes Wanken, daß er nicht mal aufstehen konnte, sondern sich ausgespreizt an diesem wildgewordenen Planeten festklammern mußte, um nicht in diese universale Leere hinausgeschleudert zu werden, die er seit Karls Verschwinden empfand und die ihm ein Entsetzen einflößte, für das er keine Worte hatte, nur Bilder: eigentlich lächerliche Vergleiche, die aber auf etwas Todernstes hinwiesen, das er nicht mal ansatzweise erfassen konnte. Es war jenseits des Begreifens – aber das Zentrum eines Schmerzes, den er noch nie so intensiv erlebt hatte: Schmerz, ein Wort, das er vorher nur belächelt hatte, das ihm sogar peinlich gewesen war, weshalb er es möglichst vermieden hatte. Trotzdem war es der einzige Begriff, der seinen momentanen Zustand andeuten konnte und der jetzt für ihn verwandt war mit Karls drei Worten, mit denen er zuletzt im Krankenhaus auf seine Frage, was er im Augenblick fühle, geantwortet hatte:

    Angst – Angst – Angst. Dabei war Ründeroth nicht vor dem, was der andere, sondern wie er es gesagt hatte, zusammengeschauert: Karls vor Schwäche flüsternde, brüchig gewordene, irgendwie ausgebrannte, gleichsam nur noch aus Asche bestehende Stimme, in der aber noch ein Rest Brennstoff zu schlummern schien, der bei dieser trostlosen Auskunft wie die letzte Energie aufgeglimmt hatte, mit der seine Verzweiflung sich noch einmal geäußert hatte, ehe der Kontakt zu Ründeroth abgerissen war, der betroffen in Karls ausgemergeltes, wie endgültig verstummtes Gesicht gesehen hatte, dessen leidverzerrte Miene allein noch 14sprachlos Kunde geben konnte von seinem qualvollen Zustand, begleitet von seinem stillen Händeringen auf der schneeweißen Bettdecke, die Ründeroth plötzlich an eine zerklüftete Hochgebirgslandschaft, unter ewigem Eis erstarrt, erinnert hatte und ihm besonders wegen der Unmöglichkeit unerträglich gewesen war, dem schon fast Unerreichbaren jetzt noch irgendwelchen Trost oder gar Hilfe geben zu können. Aber selbst da hatte er nicht im entferntesten an Karls Tod gedacht, höchstens an sein mögliches Sterben in weiter Zukunft, und auch das hatte Ründeroth sofort wieder verworfen, der sich stattdessen auf eine ihm jetzt naiv erscheinende Hoffnung verlegt hatte, während er seufzend die kalten Hände ergriffen hatte, die Karasch, wie um sich etwas Wärme zu verschaffen, matt aneinandergerieben hatte – diese früher immer so warmen, weichen und lebendigen Hände: nun knochig und abgemagert, mit loser, zerknitterter Pergamenthaut überzogen, so zart und dünn, daß allein schon ihre Verletzlichkeit jetzt einen Heulkrampf in Ründeroth ausgelöst hatte. Er hatte diese schon ganz abgestorben wirkenden Vogelkrallen wieder aufzuwärmen versucht, indem er sie angehaucht und zugleich die eigene Nässe von ihnen abgewischt hatte, während Karasch ihn wispernd gebeten hatte, er solle nicht weinen, und ihn mit seinen auf einmal so groß und strahlend blau wirkenden Augen, glänzend und klar wie selber von Tränen gewaschen, unaussprechlich liebevoll angesehen.

    Diese Augen hatten etwas Konzentriertes, Strahlendes bekommen, vielleicht weil Karls eingefallenes Gesicht so grau, aschfahl geworden war oder weil sie jetzt aus so tiefen Höhlen herausleuchteten: eingesunken durch das Schwin15den und beinahe völlige Hinwegschmelzen des Gewebes unter der Haut, das seinen nun erschreckend deutlich hervorgetretenen Schädel ausgepolstert und abgemildert hatte.

    Während sein Teint früher mit einem rosigen Schimmer überzogen gewesen war, manchmal von der Sonne wie nach einem Urlaub frisch gebräunt – sah er jetzt nur noch kränklich und gezeichnet aus: totenbleich, und die einzige Farbe, die sein Gesicht noch hatte, waren die rötlichen oder violetten geplatzten Äderchen in der wie eine Plane so straff darüber gezogenen Haut, daß sie gespenstisch faltenlos wirkte. Die Kinn- und Mundpartie wurde wenigstens vom schlohweißen Bart noch weich eingefaßt – anders als das schroffe Gegenstück, die Nase: ein steil aus dem sonst zurückfallenden Ganzen ragendes Kliff, das direkt nach dem Übergang von der knochigen Stirn, die wie ein nackter Felsen wirkte, aufstieg zu einem schwindelerregenden Klippengrat, der mit der Spitze im Nichts endete. Darunter dehnten sich, überdacht von den gewölbten, auch hier aderndurchzogenen Flügeln der Nase, die aufrechten Ovale ihrer Löcher, aus denen ebenfalls schlohweißes Gestrüpp wucherte, das sich aber nicht mit dem Oberlippenbart vereinigte: zwei Nester in der Front eines schmal aufragenden Bergkamms, die an Adlerhorste in unerreichbarer Höhe erinnerten. Überhaupt ließ die

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