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Jungenhymnen: Erzählungen
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eBook225 Seiten2 Stunden

Jungenhymnen: Erzählungen

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Über dieses E-Book

Inhalt
Blitz-blitz
Jungenfängerblicke
Das Jubeln des Jägers auf Pirsch
Gebt’s zu!
Spottlied
Orpheus
Wie ist das Leben doch manchmal beschissen
Autoscooter
Schachmatt
Hat er oder hat er nicht?
Der!
Underberg
Ein Jungenfreund
Exhibitionisten
Zu Besuch
Oh, mein Sascha, ich hab dich lieb
Wiedererkennen
Selbstfindung
Sie haben so etwas raubtierhaft Schönes
Hätte ich doch!
Einsames Laster
Feigling
Dankbar
Sokratisieren
Hymne auf einen Jungen
Wunschbekenntnisse
Verschiedene Geschmäcker
Brief an einen Freund
Nie bereut
Volksempfinden
Die ideale Familie
Achim
Heiligenwichsbild
Jenseits des Tales
Nach meinem ersten Buch
Killer-Bienen
Dein Leib ist wie reines Elfenbein
Überfall
Happy Jack
Der unschuldige Cupido
SpracheDeutsch
HerausgeberTrotz Verlag
Erscheinungsdatum4. März 2020
ISBN9783966862653
Jungenhymnen: Erzählungen

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    Buchvorschau

    Jungenhymnen - Reinhard Knoppka

    Contents

    Reinhard Knoppka

    Jungenhymnen

    Erzählungen

    Für Walter

    Verlag & Vertrieb:

    www.trotz.medien-vvg.org

    trotz@medien-vvg.org

    ISBN eBuch: 978-3-96686-265-3

    9783966862653

    © Trotz Verlag

    Köln 2018

    Alle Rechte vorbehalten

    Blitz-blitz

    Im Dom: gewaltig die in den Himmel ragenden Säulen, grauschwarz – dazwischen bunte Fenster, bestrahlt von der Morgensonne, als gleiße das Paradies hindurch.

    Unten, wie Ameisen: Heerscharen von Touristen mit Fotoapparaten: blitz-blitz – schon wieder ein Stückchen Leben fixiert.

    An jeder Säule eine Figur auf rosettengeschmücktem Sockel:

    Bischof, Heiliger, Märtyrer oder alles zusammen – was geht’s mich an?

    Dort wandelt ein leibhaftiger Engel, an der Hand seiner Mutter, das Mäulchen offen vor Staunen: da kann eure Dorfkirche nicht mithalten, was?

    Ich staune dich an: goldblond dein Haar, auf das der Herrgott voller Wohlgefallen einen Strahl durchs Fenster herniederschickt, um dich zu verklären, und zücke entzückt meine Lumix – blitz-blitz.

    Auf zu neuem Augenschmaus, hungrigem Weiden mit Blicken im gotischen Bunker – aufgescheucht von Frauen in Kitteln, besenbewehrt, staubaufwirbelnd, und ich ergreife die Flucht.

    Wieder die Engelserscheinung im Ameisengewühl: ständen doch solche Figuren auf den rosettengeschmückten Sockeln – das wäre ein Grund, hier mal niederzuknien!

    Scheinbar fokussiere ich nur den Altar hinterm Antlitz des Knaben, das rosig aufschimmert vor goldfunkelndem Hintergrund – blitz-blitz: hab ich dich, mein Kleiner!

    Wie er lächelt, verschmitzt und so strahlend, daß selbst Gottes wohlgefälliger Strahl auf seinem goldblonden Haupt dagegen verblaßt: glitzernd im Dämmerlicht – eine Art Junge mit Goldhelm von Rembrandt.

    4Du bist nicht häßlich und alt wie das Rembrandt-Portrait, vielmehr wie von König Midas in lauteres Gold deiner Jugend verwandelt, alles erleuchtend – auch mich: erstmals spüre ich echte Ergriffenheit in diesem bombastischen Gottesmausoleum.

    Blitz-blitz – aus allen Perspektiven sammle ich dich, wie früher Andachtsbildchen, um dich in meinem Privataltar zu verwahren: das große Fotoalbum, bewohnt von zahlreichen Jungen, Quell unerschöpflicher Phantasien, als sei der Heilige Geist in mich gefahren!

    Funkensprühende Kameras rings um mich her: blitz-blitz – zielen Touristen auf mich, den Voyeur, als wollten sie mich überführen, Beweise gegen mich sammeln!

    Nach draußen geflohen, höre ich aus der Höhe das Grollen des zürnenden Gottes – bloß ein Flugzeug, stelle ich beim Hochschauen aufatmend fest.

    5Jungenfängerblicke Wie sie scheppert und grollt, seufzst und kreischt in den Kurven, die Linie 12, wie sie tost, wenn sie beschleunigt: unheimlich heimelig, und ich lasse mich ruckeln und schuckeln, spüre die Müdigkeit in den Knochen, die schlagartig weg ist, sobald – da, ein Junge!

    Soll ich aussteigen? Zu spät. Die Bahn rappelt weiter. Poststraße: orangene Kacheln – wie im Luxusklosett. Und hinaus aus dem U-Bahnschacht, ins Freie: Barbarossaplatz. Hier hat die Sonne alles golden lackiert, auch die mürrischen Gesichter: Alltagsfrust von der Arbeitsmühle, vor der ich mich drücke – frei von eigenen Gnaden, dafür pleite.

    Frei sind auch meine KVB-Fahrten, umsonst mit dem Semesterticket. Offiziell bin ich Student, schon im dreißigsten oder vierzigsten Semester, weiß nicht genau – bleibe der Uni erhalten, bis sie mich schaßt. Studieren tu ich bloß die Straßen, hauptsächlich Jungen, doch hier streunt keiner rum.

    Zollstock Südfriedhof: Endhaltestelle. Hinterm Jugendheim liegt der Park. Vogelgezwitscher, gedämpftes Autogebrumm, Gurren von Tauben, dazwischen das Kra-kra einer Krähe.

    Um das Jugendheim mach ich einen Bogen. Im Blumenbeet davor ein Schild mit der Aufschrift: „Dies ist kein Hundeklo!" Aber ein Observatorium, denke ich und verziehe die Fresse.

    Beargwöhnt wird besonders einer wie ich – muß auf der Hut sein. Trotzdem zieht’s mich dorthin, getarnt als Spaziergänger, der sich ausruht auf einer Bank, vis-a-vis dem Bolzplatz.

    Unangenehm der Müllkippengeruch vom Südfriedhof in meinem Rücken: erinnert an verwesendes Fleisch – bilde ich mir wohl nur ein.

    Da kommen die ersten Jungs aus dem Heim, und mein Herz fängt an zu rasen. Ich bin ihr Ballwiederholer, springe einmal so6gar über den Friedhofszaun – und verknacks mir die Haxe: pah, halb so wild!

    Wie sie sprinten und stoppen, sich ineinander verknäulen, schreien mit brüchiger, kippelnder Stimme. Wie sie sich rempeln, umschultern: gut gemacht, tolle Flanke – decken sollste den, ran, sei kein Frosch!

    Und ich betatsch sie mit Augen, bewundere ihre Muskeln, fahre die Linien ihrer kämpfenden Leiber hinauf und hinunter, ab ins verschwitzte Gefältel der Hosen – manchmal, beim Flanken oder Grätschen, erhasche ich auch Einsicht in die schattige Tiefe: meine Art Tabernakel, und ich schlinge mit Blicken, leide dabei immer größeren Hunger, Tantalusqualen, und will’s doch nicht anders.

    Weg sind sie. Ich sacke zusammen, halt’s hier nicht mehr aus, muß zurück in die Stadt, werde wieder geruckelt, geschuckelt von der scheppernden, kreischenden Linie 12 und lasse meine Jungenfängerblicke kreisen: Kescher auf der Jagd nach Blonden, Roten, Braunen und Schwarzen.

    Qualmen da nicht zwei Jungs Zigaretten? Ich steige aus und laufe zurück. Tatsächlich, sie qualmen: zwei schmächtige Alte im Jogginganzug, ihre Schirmkappen tief ins zerfurchten Gesicht gezogen, und einer fragt: „Haste mal ne Mark?" Nee, für dich nicht – aber für den halbwüchsigen Typ da vorm McDonald’s!

    7Das Jubeln des Jägers auf Pirsch Immer das Jubelgefühl, fahre ich in die Stadt, meine Haßgeliebte, die ich besingen will, ihr launischer Minnesänger: Rheinmetropole mit dem berühmten Duftwasser und kolossalen Dom – doppelgetürmt, als hätte er zwei Riesenständer.

    Damit bin ich beim Thema: Schwänze Flöten und Pfeifen – Lustangeln, nach denen ich schnappe, an denen ich hänge und zapple, ein unersättlicher Raubfisch im Jungenteich rund um den Bahnhof.

    Dort drehe ich erst mal die Runde, das Revier zu sondieren, mich lockerzumachen, treibe im Menschenschwarm und fahnde unter allen Gesichtern nach einem, das diesen Ruck in mir auslöst, als hätte der Haken sich in mir verfangen.

    Da packt’s mich – ich spüre elektrische Schauer, sprüh wie ein Aal, und meine Augen, festhängend am Köder, funken herüber: Komm, laß dich fressen!

    Aber er kommt nicht, der Spröde, wirft arrogant seine Mähne zurück: blonder, mich durchzuckender Funkenregen, und ich reiße mich los von ihm, schwappe im Schwall neuangekommener Reisender zurück in die Eingangshalle, deren Decke im Halbbogen hoch zur Fensterfront schwingt, die, eine Art Rahmen, einen Ausschnitt auf Kölns prominenten Steinkatarakt freigibt.

    Mich kümmert nicht dieses gigantische Kunstwerk, mich reizen lebendige Kostbarkeiten, die ich aufspüre wie ein Schwein die verborgenen Trüffeln, und ich blick-schnappe nach diesen schlummernden Schätzen, sorgsam verwahrten Kleinodien, eingebettet im Etui ausgewaschener Jeans: Schmuckschatullen fürwahr – nicht mal der Reliquienschrein, Prunkstück im Dom, imponiert mir dagegen.

    8Runde um Runde ziehe ich durch die Gänge des Bahnhofs, vorbei an grell leuchtenden Freßvitrinen, weißgekachelten Würstchenständen, Souvenirläden, pseudorustikalen Kneipen und der nur mit einem Markstück zu betretenden Herrentoilette:

    wär’s eine Knabentoilette, ließe ich gar einen Schein springen für einmal Pinkeln mit Rundblick – so pisse ich lieber ans Ludwigmuseum.

    Allmählich werde ich müde und hungrig. Die Euphorie verfliegt wie mein frischer Rasierwasserduft: da hab ich gebadet, mich einparfümiert und in Schale geschmissen – wofür?

    Hinaus auf den Vorplatz, wo der Bratfettgeruch vom Rievkooche-Pavillon herüberwabert. Fünf Mark für drei Stück mit Apfelmus: die spinnen wohl, lieber gebe ich dem knallbunten Punker ein Geldstück, doch der entpuppt sich als Mädchen – ach scheiß drauf!

    Ich geh zum McDonald’s: es quillt immer über von Jugend – und spüre das Jubeln des Jägers auf Pirsch.

    9Gebt’s zu!

    Ich schau den Jungs einfach frech ins Gesicht. Sobald einer auftaucht, zoomt ihn mein Blick: dich laß ich nicht wieder fahren, magst du auch zicken, verächtlich die Schnauze verziehen und pöbeln – na und?

    Zzztt! schießt ein Strahl zwischen den Zähnen hervor, schnack vor mir aufs Pflaster, und ich frage: „Spritzt du auch unten so stramm?" Da klafft sein Gebiß, und ich sehe die rosige Zunge sich aufbäumen, wohl um auch verbal auszuspucken.

    Stammle, Schöner, nur Häßliches: dadurch wird deine Larve bloß süßer, mag sie sich noch so verzerren.

    Er würde gern handgreiflich werden, doch traut er sich nicht, der entzückende Feigling, denn ich bin ein Mann und er nur ein Knabe – ach, nur?

    Gellender Pfiff auf zwei Fingern – er winkt eine Rotte halbwüchsiger Macker herbei. Hei, wie sie sprinten: hinreißender Anblick – doch ich hab keine Zeit mehr und sprinte jetzt auch.

    Mann, das war knapp! Ich spüre ein Brennen und Seitenstiche: bin nicht mehr der Jüngste – ich rauche und saufe zuviel.

    Muß den Bierbauch abspecken und Krafttraining machen.

    Dann solltet ihr Halbstarken mal kommen: ich würde euch packen und endlich erlösen – ihr hättet bestimmt nichts dagegen, gebt’s zu!

    10Spottlied Zur Ausstellung in Bonn bin ich nur wegen Caravaggio gefahren. Seinen Lautenspieler umlagern die Besucher scharenweise. Er ist so innig gemalt, wie es nur einer konnte, der sein Modell mit allen Sinnen begehrt hat.

    Vielleicht war der Maler verrückt nach der Stimme des Knaben: golden, süß, betäubend wie schwerer Wein – so daß er ihn vor ein Notenheft und eine Geige plazierte, ihm die bauchige Laute wie eine Geliebte in den Arm drückte, damit er sie streiche und zupfe. Und was da erklingt, stelle ich mir wie Brahms vor, der seine Gefühle in Musik sublimierte, wie Caravaggio sie malte.

    Ich stehe davor, ergriffen wie früher als Kind vorm Altar, und möchte den Jungen berühren – doch er wird strengstens bewacht. Ach, wäre ich die Laute in seinen Armen: wie würde ich unter seinen behenden Fingern erklingen – ach, wäre ich Brahms!

    Versunken in seine glänzenden Augen, durchschwimme ich sein weiches Gesicht und berühre im Geist seine prallroten Lippen, das Grübchen im runden Kinn.

    Hell schimmert die Stirn, umrahmt von den wilden Locken, gebändigt von einem hineingeschlungenen Tuch, das auf die nackte Schulter herabfällt und kitzelt bei jeder Bewegung des stämmigen Halses, wobei sich das Schlüsselbeingrübchen vertieft: lebendige, samtweiche Schale, die ich auslecken will, um ihn zu schmecken.

    Täusche ich mich, oder kommt dieser Junge auch in anderen Bildern des Malers vor? Ist er nicht der Bursche in Wams und Federhut, dem eine Zigeunerin aus der Hand liest – und Bacchus?

    Dieser Bacchus, bekränzt mit herbstbuntem Laub und, kaum von den Locken zu unterscheiden, mit schwarzglänzenden Trau11ben – wie er, lässig gegen den Kopfteil des Lagers gestützt, eine Weinschale kredenzt, mit ebenso biegsamen Fingern wie die des Lautenspielers, doch freier gemalt: der Oberkörper halbnackt, darüber drapiert dieses Linnen, wohl warm noch vom Schlaf. So weich, glatt und rosig, fast mädchenhaft ist Bacchus’ Gesicht – dagegen männlich, athletisch sein Leib: ein Kontrast, der den Reiz dieses Jünglings noch steigert.

    Vielleicht waren der Junge im Wams und Bacchus nur Brüder des Lautenspielers, und vielleicht war der auch bloß ein Wunschbild des Künstlers, der ihn, flanierend durch schäbige Gassen, von weitem erblickte, aber gleich wieder verlor – vielleicht hatte der ihn voller Sehnsucht sogleich auf seine Leinwand gebannt: Muse und Gott, ihm leibhaftig auf Erden erschienen!

    So geht es mir oft: Gott erscheint mir in Gestalt eines Jungen, der gleich um die nächste Ecke biegt oder in einer Straßenbahn an mir vorbeirauscht, und auch ich möchte ihn irgendwie festhalten – nur bin ich weder Caravaggio noch Brahms.

    Doch kaufen kann ich nach dem Museumsbesuch den Lautenspieler: auf dem Poster, das für diese Ausstellung wirbt.

    Er hat in mir eine Saite zum Erklingen gebracht: wehmütig wie eine Weise von Brahms.

    Von dem höre ich, wieder zu Hause, die Klarinettensonaten.

    Weich schwingt die Klarinettenstimme, eingebettet im Klang des Klaviers, das sich in eine Laute verwandelt, gespielt von dem lockigen Knaben, jetzt an die Tür gepinnt, als liebkoste er meinen Körper, sein Instrument.

    Seine elfenbeinfarbene Haut, glatt, duftend und süß wie die Trauben, die ich aus seinem Kranz pflücke und esse: eine Art Kommunion.

    Mein Atem wird schwer wie die Musik und der Duft betäubend wie Schlummer. Ich will mich verströmen im Knaben, umfange ihn: vergeblich – als sei er bloß Luft und ich die Äolsharfe, auf der er spielt.

    12Ich fahre aus meinem Schlaf, sehe den Lautenspieler an meiner Tür, der lächelnd zurückschaut, als singe und zupfe er ein Spottlied auf mich.

    13Orpheus Heute gibt es ja keine Pissoirs mehr in Köln, nur diese gebührenpflichtigen Einzelkabinen, die wie überdimensionale Konservendosen das Stadtbild verschandeln.

    Als da noch die unterirdische Herrentoilette am Wiener Platz war, dieses stickige Schattenreich, ging ich oft dorthin. Ich zog meine Schleifen, warf auch einen Blick in die Kaufhalle, um nach den Jungs in der Spielzeugabteilung Ausschau zu halten.

    Da standen sie mit glühenden Wangen und glänzenden Augen vor den Computerspielen und fuhrwerkten an der Fernbedienung herum.

    Dann trödelte ich Richtung Pissoir, und ich stieg hinab in die Unterwelt, stellte mich an die Rinne und wartete: meistens umsonst.

    Einmal stand ich am Wiener Platz und wartete auf einen Bekannten: alter Schulfreund – hatte zwei Jungs im richtigen Alter.

    Wir wollten die Pfingsttage in seinem Wochenendhäuschen verbringen: primitiv, ohne Strom, mit Wasserpumpe und Plumpsklo. Ich freute mich schon auf die Sauferei am Lagerfeuer – vorher aber würde ich den beiden Bengeln in ihrer stockdunklen Kammer eine Gruselgeschichte erzählen.

    Da stand ich mir also die Beine in den Bauch und hielt vergeblich Ausschau nach einem lindgrünen R4.

    Natürlich schaute ich auch nach Jungen. Was guckte der Akrobat auf dem GMX-Rad so merkwürdig herüber? Schon die ganze Zeit hatte ich ihn im Auge, er mich anscheinend auch. Jedenfalls war mir, als schössen wir unsere Blicke wie Pfeile aufeinander ab – wobei keiner offen guckte. Aber ich spürte seine bohrenden Augen im Rücken – fuhr herum, und dieser Heckenschütze tat harmlos, vollführte Kunststücke auf seinem Rad, 14machte eine Drehung im Kreis, die sich zur Pirouette steigerte, beschleunigte aus dem kippelnden Stand und sauste davon.

    Dann war er plötzlich wieder da und stand still, ohne vom Rad zu steigen, während er den Lenker ruckartig hin- und herdrehte und mit dem schwankenden Leib das Gleichgewicht ausbalancierte: eine elastische Peitsche, sehnig, voller Kraft, ein einziger auf sich selbst konzentrierter Muskel, der davonschnellte, sobald ich mich auf ihn zubewegte, und mich nach einer Weile wieder spiralenförmig umkreiste, immer dichter, ohne mich zu beachten – doch schaute ich weg, meinte ich seine Blicke auf meiner Haut zu spüren: ein Prickeln bis in die Eingeweide.

    Als ich mir sicher zu sein glaubte, daß er was von mir wollte, stieg ich die Stufen zum Pissoir hinab – und wußte gleich: das war falsch. Solche Jungs steigen einem Kerl nicht einfach so hinterher – oder doch?

    Was ich sah, war bloß sein Schatten, der, verzerrt, die schmierige Kachelwand über der Treppe hinabglitt, ganz langsam. Ich rührte mich nicht, stand nur da und beobachtete diesen Spuk: er kam näher, und als ich mich zu ihm drehte, fuhr er zurück und verschwand!

    Ich lief ihm hinterher und sah mich oben nach ihm um. Der Junge war wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich hatte ich Orpheus’ Klagegesang im Kopf: Ach, ich habe dich verloren, all mein Glück ist nun dahin.

    Da sah ich den lindgrünen R4: mein Schulfreund hupte, seine Jungs winkten, und ich lief lachend zu ihnen hinüber.

    15Wie ist das Leben doch manchmal beschissen Eigentlich wollte ich gar nicht hierher. Aber ich folgte dem Jungen mit Rucksack: ein geiler Schwarzbrauner – da, er steigt aus.

    Ob er mich schon bemerkt hat? Noch sehe ich aus wie einer, der nur so herumtrödelt.

    Er hält auf den Rummelplatz zu: lang hingestreckt zwischen Deutzer- und Severinsbrücke am Rhein – abgesperrt von einem Gitter, an dem wir entlanggehen, er hundert Meter vor mir her.

    Jetzt biegt er rechts ab, in den einzigen Zugang zum Rummel: menschenleere Geisterstadt – Buden und Karussells noch geschlossen.

    Da blickt er sich um – das erste Mal, und mir wird mulmig:

    ich fühle mich ertappt.

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