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Engel im Schatten des Flakturms
Engel im Schatten des Flakturms
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eBook285 Seiten3 Stunden

Engel im Schatten des Flakturms

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Über dieses E-Book

Ein Kaffeehaus in Wien. Der namenlose Ich-Erzähler, Schriftsteller und „Abenteurer in eigener Sache“, wartet auf seinen Nachtzug nach Berlin. In der dort von seinem verstorbenen Freund und Mentor Stidmann geerbten Wohnung will er nur eines: Schreiben.
Dieses Vorhaben wird allerdings gehemmt durch den Nachlass des Literaturwissenschaftlers Stidmann. Darunter finden sich drei Briefe von drei Frauen, die den Erben in ihren Bann ziehen. Er begibt sich auf Spurensuche um die halbe Welt, gerät dabei in kuriose Abenteuer und begegnet Menschen, wie sie sonst nur in Romanen vorkommen. Und immer wieder geht es um „Fragen der Produktivität“: Wird es dem Schriftsteller gelingen, sein Werk zu vollenden?
SpracheDeutsch
Herausgeberduotincta
Erscheinungsdatum27. März 2020
ISBN9783946086451
Engel im Schatten des Flakturms
Autor

Michael Kanofsky

Michael Kanofsky, geboren in Fürth/Bayern, lebt und arbeitet seit 2016 in Berlin, davor viele Jahre in Wien. Studium der Sprach- und Literaturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Werbetexter und Autor. Zuletzt erschienen im Verlag Klingenberg, Graz, und von Robert Reinagl gesprochen: »Aus dem Nichts kann man alles machen kann man aus dem Nichts. Texte und Hörstücke«. Michael Kanofskys Roman »Engel im Schatten des Flakturms«, der erste Teil der »Packeis«-Trilogie, erschien 2019 bei duotincta. www.michaelkanofsky.de

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    Buchvorschau

    Engel im Schatten des Flakturms - Michael Kanofsky

    verlag duotincta

    Michael Kanofsky

    Engel im Schatten des Flakturms

    Roman

    Michael Kanofsky wurde in Fürth geboren. Er lebt und arbeitet seit 2016 in Berlin, davor viele Jahre in Wien. Nach einem Studium der Sprach- und Literaturwissenschaften an der LMU München wurde er Werbetexter und Autor.  Es folgten verschiedene Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Auszeichnungen erhielt er in Leipzig und Berlin für sein Hörspiel zukunft, re-visited – materialien und textmodelle für die produktion literarischer und filmischer utopien.

    www.michaelkanofsky.de

    Für L.

    Sollte jemand meinen, die in diesem Roman beschriebenen Orte und Weltgegenden entsprächen nicht der Wirklichkeit, wäre es vielleicht gut, diese Gegebenheiten noch einmal gründlich in Augenschein zu nehmen. Die Dinge ändern sich bekanntlich schneller, als man denkt.

    ]Departure. Ich sitze im Prückel. Heute: zum letzten Mal. Draußen schnurrt eine Niederflurtram über die Ringstraße. Der Philosoph Sloterdijk schwingt sich auf sein schwarzgelacktes Bike: braust zu neuen Diskursen oder einer seelenverwandten Studentin mit Modelkörper, wohnhaft in Wien-Margareten, Gemeindebau, vierte Stiege. Taubenmist, angetrocknet auf dem Luegerdenkmal. Davor, hockend im dürren Wiesengras, drei, vier Besoffene, die Dosenbier aus ihren Plastiksackerln kramen: heute im Angebot für fünfundvierzig Cent bei Interspar. Violett neont es herüber vom Museum für Angewandte Kunst. Ein erfolgsverwöhnter Wichtigtuer, elegante Laptoptasche, Sonnenstudiogesicht, kantig, entschlossen, dazu hellbraune Budapester, und in der linken Hand ein Stanitzel Erdbeereis, besteigt ein Taxi. Der Chauffeur schließt den Kofferraum, schwungvoll: ein fröhlicher Mann. Möwen tanzen über dem Wienfluss. Vor den Kiosken bei der Brücke leuchten die Blumen: tellergroße Sonnen. Der Nachtzug nach Berlin verlässt Wien um Einundzwanziguhrfünfzig. Brěclav. Prag. Dresden. (Du hast also Zeit. Nimm sie dir.)

    Vom Windfang des Kaffeehauses aus gesehen ist mein Platz auf der rechten Seite: am Fenster, also dort wo sich bekanntermaßen die nischigen Zweiertische befinden. Es ist nicht schwer, mich an jener Stelle auszumachen: ich trage eine Brille mit dunklem Hornrand, mein graublondes Haar schulterlang, dazu Furchen im Gesicht. Und die Segelohren nicht zu vergessen. Die Nase: gewöhnlich. Besondere Kennzeichen: keine. Das Hemd: schlammfarben. Auf der Fensterbank, neben der kugeligen Lampe, eine für Abenteuer aller Art zweckdienliche Jacke. Unter dem Tisch: meine lederne Reisetasche. Vor mir ein Glas Rotwein. Daneben das Notizbuch. Schwarzer Einband. Quartformat. Kariert. Lesebändchen. Kugelschreiber (ein Geschenk der Gräfin, die du nicht mehr triffst: schöne Zeiten in ihrer alten Döblinger Schlampenvilla, jaja: aus und vorbei).

    In Berlin wartet ein Schreibtisch auf dich. Er steht, einigermaßen monströs, in der Wohnung von Dr. Stidmann: vor einem hohen Fenster mit Blick auf den unten schwarzbraun dahinziehenden Kanal. Die Leiche Stidmanns hat man damals in der randvoll gefüllten Badewanne im geschmacklos hellgrün verfliesten Badezimmer der Wohnung gefunden. Der Fön, noch umkrampft von Stidmanns rechter Hand (rigor mortis), hatte eine Leistung von eintausendfünfhundert Watt, beachtlich für ein Gerät aus einem Moabiter Billigkaufhaus. Die Garantie war allerdings abgelaufen, made in Taiwan.

    Während ich an Dr. Franz Stidmann und sein Schicksal denke, schreibe ich in das Notizbuch. Zeilen zu einem Werk, das ich an Stidmanns ehemaligem Schreibtisch endlich vollenden will. (Das ist dein Plan. Hast du die Kraft dazu?)

    Der Kellner bringt Würstl, Brot, Gebäck, Senf. Ich trinke von dem Wein. Bestelle neuen. Denke nach. Schreibe in das Notizbuch. Erinnere mich. Um diese Jahreszeit war ich mit der Gräfin zumeist im nördlichen Frankreich. Normandie. Bretagne. Ihre langen brünetten Haare hatten so hübsch im Wind geflattert, draußen am Meer und während der Fahrt in ihrem dunkelblauen Cabriolet (erinnerst du dich?). Lass uns aufbrechen, hatte sie gesagt. Lackierte Zehen, himbeerfarben waren sie zwischen den Sandalenriemchen aufgeblitzt. Das verfickte Döblinger Villenbett: für zwei Wochen leer und verlassen. Ich sehe die hinkende Bedienerin vor mir. Wie sie entschlossen die Laken herunterreißt, die Kopfkissen, die Bezüge, die sündteure Matratze im prüfenden Blick. Dann endlich: das Meer. Das hübsche Cabriolet, parkend vor einem Restaurant mit Sicht auf den Strand. Tischdecken, rotweiß kariert, natürlich, das muss so sein. Der Wirt trug erwartungsgemäß eine Baskenmütze, ein freches Schnurrbärtchen, und war auch ansonsten ganz und gar Postkarte. Moules frites. Wein. Crème brûlée. Käse. Dann weiter über die Küstenstraße. Von Concarneau nach Brest, das ich mir ansehen wollte, weil der Schriftsteller Robbe-Grillet dort geboren war. Die kleinen Streifen weißer Gischt, die heimtückischen Bewegungen des Meeres zwischen den riesigen übereinander getürmten rosafarbenen Granitblöcken, die Trichter, die am Fuß der Felsen ständige, fast unsichtbare Strudel in den Sand gruben, die trügerischen Strände und die fälschlicherweise beruhigende Regelmäßigkeit des Wellengekräusels, diese ganze ebenso anziehende wie furchterregende aquatische Welt war der bevorzugte Stoff meiner bösen Träume.

    Ausgiebige Rast in einem Terrassencafé am Hafen. In rauen Böen und in der Sonne verblichene Korbstühle. Weiße Segel in der Bucht: dreieckig wie geschlossene Falterflügel, aufgespießt auf graublauem Grund. Der Leuchtturm: ziegelrot über einem schartigen Felsvorsprung. Küsse. Umarmungen. Blicke.

    Später: weiter zu dem Hotel in einem Küstendörfchen, wo die Kopfkissen und Betten so dick waren, dass wir uns darin verloren.

    Am Morgen: Muschelnsammeln an der Mole, hinter uns die Dünen, das Seegras im Wind, der Geruch großer Erwartungen. Im Hotelgärtchen auf einer Bank die Möwen zählend. Die Pächterin sieht uns dabei zu, die Arme vor der Brust verschränkt. Auf einer Schaukel: das Töchterchen der Pächterin, pausbackig. Die Gräfin zeigt, eine Hand vor die Augen haltend, denn es ist Mittag und die Sonne steht hoch, zum Himmel hinauf. Dort oben ein dunkelblauer Heißluftballon, seine schimmernde Außenhaut bedruckt mit der Reklame für eine Sonnenschutzcreme. Trés jolie, sagt die Gräfin. Lass uns davonfliegen, sagt die Gräfin, im Wind, und mit den Wellen. Wir lachen.

    Stidmann und ich haben uns stets hier im Café Prückel getroffen, wenn er wieder einmal in Wien zu Gast war. Meist in einer der schon erwähnten Fensternischen einander gegenübersitzend haben wir dann philosophiert, debattiert, schwadroniert, räsoniert. Quantenphysik, Globalisierung, Digitalkultur, die Mondphasen, Romantheorien, dialektischer Materialismus, Pornografie, das Schreiben an sich, Heinrich von Kleists Grabstätte am Wannsee, Trakl und die anderen. Wir hatten uns viel zu erzählen. Originalität und Alkoholkonsum: gegen Einundzwanziguhr waren wir zumeist in Bestform. Höhenflüge. Kellner, die Rechnung!

    Stidmann war es auch, der mich mit der Gräfin bekannt gemacht hatte. Ich erinnere mich: die Österreichische Nationalbibliothek. Stehtische mit herabfallenden weißgestärkten Tischdecken. Blumenarrangements. Die Welt der Wissenschaft bei Gurkensuppe, Shrimps und Schampus. Stidmanns weitschweifender Vortrag über Proust, seine Freunde, seine Feinde, seine Kritiker. Woher Stidmann die Gräfin kannte, wusste ich nicht. Später: mit den Kollegen in eine Bar. Innere Stadt. Die Gräfin im Schlepptau. Noch später dann: im Bett. Neunzehnter Bezirk. Nähe Wertheimsteinpark. Betrunkene Küsse im Taxi. Zerwühlte Laken. Eine Flasche Pol Roger: leer und korkenlos kullert sie über den im Dunkeln schwarz erscheinenden Dielenboden. Rund um den gräflichen Bauchnabel: eine Tätowierung in Gestalt der Sonne.

    Offenbar bin ich Stidmanns einziger Freund gewesen. Sein nur wenige Zeilen umfassender Abschiedsbrief verwies auf einen Notar mit Kanzlei am Mehringdamm, Ecke Hagelberger Straße, Berlin-Kreuzberg, dritter Stock links. Eine schnippische Göre von Assistentin (platinblonde Schnepfe im Hosenanzug, flachbrüstig und schmallippig, mit schwarzen Billighighheels an den ansehnlichen Füßen) lässt mich warten. Die Testamentseröffnung: profane Bürokratie. Ich erbe die Wohnung, die der Germanist und Romanist Dr. Franz Stidmann zwanzig Jahre lang bewohnt hat, sagt der Notar. Drei Zimmer, Nähe Schöneberger Ufer, zweites Stockwerk, Balkon, Wannenbad (locus mortis).

    Der Schreibtisch: eine Art Pseudo-Empire, überladen mit kuriosen Ornamenten und unverrückbar schwer steht er vor dem Fenster, das auf den Kanal hinausgeht. An den Wänden: meterweise Regale, Stidmanns Bibliothek. Nach der Besichtigung der Wohnung (den Schlüssel erhielt ich vom Hausmeister, einem gewissen Herrn Rogow): gleich wieder zurück nach Wien, wo ich jetzt, zwei Monate später, im Prückel sitze, den bis auf einen krustigen Senfrand leeren Teller und die auf dem Tischtuch verteilten Gebäckbrösel zur Seite schiebe und mich zurücklehne, um mich auf eine erneute (letzte? endgültige?) Reise nach Berlin und an Stidmanns Schreibtisch vorzubereiten.

    Da betritt ein mehr oder minder bekannter Schauspieler vom Theater das Kaffeehaus, gefolgt von der üblichen Entourage. Die Deckenluster und die Tischlampen geben jetzt fahles Licht. Der pyknische Nestroydarsteller, ansonsten jung und schön, mit einem Wort: ein verwöhnter Bengel, belegt, umringt von den ihn begleitenden koksnasigen Nichtsnutzen und drei offenbar zu allem bereiten grisettenhaften Weibsbildern, einen der großen Tische vorne links. Ich ordne die Gebäckbrösel zu einem hellbraunen Hügelchen (genau wie damals in Brest: in einem Restaurant, das La Maison du chat-qui-pelote hieß und wo sich die Reste unserer Baguette wie von selbst zwischen den Fingern zerrieben hatten, weißt du noch?).

    Mit schmalzgebackenem Lächeln bestellt der Burgschauspieler Champagner der mittleren Preislage. Es gibt offenkundig etwas zu feiern. Die Menge glotzt. Die Kellner schwirren herum. Beim Stiegenabgang zu den Toiletten verfängt sich eine schwungvolle Touristin in einem einsamen und zudem boshaften Tischbein. Kaiserschmarrn! In solchen Momenten vermisse ich Stidmann schmerzlich. (Ein Blick auf die Uhr: in anderthalb Stunden solltest du dich am Bahnsteig einfinden.)

    Auftritt einer Dame mit Hund: alte Fregatte, Josefstadt. Der Hund, ein Doberpinscher, schlurft an mir vorbei, der Racker riecht, wie zu erwarten, ein wenig nach Erbrochenem. Ein Wink, und schon stellt der Kellner eine Schüssel mit Wasser vor die dankbare Hundeschnauze. Die Schüssel ist aus blinkendem Metall, ein Umstand, der in mir sogleich das Bild eines Spitals oder gar Leichenschauhauses evoziert. Totenbleiche Kacheln. Beängstigende Kühle. Desinfektionsmittel. Morgue. Ohne Zweifel war Stidmanns aus dem abgestandenen Badewasser geborgener starrer blasser Körper obduziert worden. Klirrend fällt das blutverschmierte Skalpell in die Metallschale. Der Berliner Pathologe (ein ursprünglich aus Krasnojarsk stammender und seit Ewigkeiten in Charlottenburg lebender untersetzter Sechziger) wischt sich den Schweiß von der Stirn und löst die Schlaufen des hellgrünen Kittels: der wäre erledigt.

    Das vom gierigen Schlabbern des Dobermanns erzeugte Geräusch vermischt sich mit dem Stimmengewirr der Gäste zu einer dadaistischen Kulisse. Die josefstädter Fregatte lacht über einen Witz des Kellners, den keiner versteht (in meinen Augen ist der Kellner ein halbgarer Hallodri, ein Praterschlingel erster Güte). Ich bestelle ein weiteres Glas von dem wirklich nicht üblen Blauen Portugieser. Draußen rumpelt ein Fiaker vorbei, ohne Fahrgäste, der schwarzmelonte Kutscher windschief auf dem Bock, der Schatten des Körpers des Kutschers fällt auf das Pflaster. Passanten strömen in die Lokale. Vor dem Lift zur U-Bahn schafft die Polizei einen halbwüchsigen Randalierer beiseite. Jugend ohne Gott.

    Jetzt hat der Schauspieler, Ronagl, Renagl, Rosnagl?, zu deklamieren begonnen. Seine Nase glänzt rot im Schein der Luster, die Augen seiner Apologeten leuchten gierig. Der Komödiant hatte gewöhnliche Züge, die wie Theaterdekorationen sich nur dazu eigneten, aus der Ferne betrachtet zu werden, klotzige Hände, große Füße und schwere Kinnbacken. Er riß seine gefeiertsten Kollegen herunter, war voll Hochmut gegen die Dichter, sagte »mein Organ, mein Äußeres, meine Mittel« und schmückte seine Reden mit dem Email von Worten, deren Sinn er selbst kaum ahnte, die er jedoch sehr schön fand, wie »Morbidezza, Analogie und Homogenität«.

    Ich wende mich wieder meinem Notizbuch zu. Zuflucht in ein kleinkariertes Weiß. Der Schreibtisch, der mich in Berlin erwartet, nimmt, wie erwähnt ist er kolossal und wuchtig, fast ein Drittel des Raumes ein. Auf der nussbraungebeizten Platte breitet sich, almmattengleich, ein Samtbelag von dunkelgrüner Farbe aus: er dehnt sich weit nach hinten und zu den Seiten hin aus, eine leere glatte Fläche, auf der du dir jetzt, mittendrin, dein Notizbuch liegend vorstellst, einsam wie eine schwarze Insel in einem algengrünen Meer. An ihren östlichen und westlichen, nördlichen und südlichen Eckpunkten ist die Schreibtischplatte abgerundet. Dazu: eine geschwungene Lampe aus Messing und ein einschüchternder Goethekopf auf einem Marmorsockel. In Gedanken siehst du dein Notizbuch nun aufgeschlagen vor dir: zwei leere Seiten nebeneinander, die beschrieben werden wollen. (Lass dir durch die beeindruckende Monumentalität von Stidmanns Schreibtisch keinen Schrecken einladen. Produziere!)

    Zu Stidmanns Beerdigung, eine Woche nach seinem Tod, war ich dann erneut angereist. Streifiger Regen, als ich in Tegel den Expressbus besteige. In meinem Notizbuch steht: Westhafen, grau in grau. Containertürme. Maersk. China Shipping. Hamburg Süd. P & O. BEHALA. Schwerölgestank. Ein Angler am Ufer des Flusses, den Kopf unter einer orangefarbenen Plastikhaube. Gelblicher Wasserschaumschmutz vor dem Bug einer schlotenden Barkasse, die man auf den Namen Spreerose getauft hat.

    Urnenfriedhof. Seestraße, Wedding. Auf einem Stein lese ich: Hier ruhen zweihundertfünfundneunzig Opfer der nationalsozialistischen Diktatur. Ein sanfter Wind bringt das Blättermeer über mir zu einem andächtigen Rauschen. In den Büschen lästern die Spatzen. Der Pfarrer, der die Urne hält, lächelt: der Himmel hat aufgeklart. Einer von Stidmanns Institutskollegen hält eine Ansprache: den Blick nach unten gesenkt. Asche. Staub. Amen. Mit einem Papiertaschentuch fahre ich mir über die Augen. Mein Mund ist trocken. Die Kehle klosig. Was man über Stidmann erzählt, kommt mir fremd vor. Handelt es sich um eine andere Person? Nach einer halben Stunde: die kleine Trauergemeinde zerstreut sich. Stidmanns Forscherkollege reicht mir die Hand, Worte werden gewechselt, Blicke und Gedanken ausgetauscht, Stidmann hätte von Wien stets geschwärmt, sagt Professor Reichenbach (Literaturwissenschaftler wie der Verblichene). Auch er kenne Wien, sagt Reichenbach. Einmal habe er gesehen, wie einem betrunkenen Kutscher die Pferde durchgegangen seien: die Gäule hätten Schaum vorm Maul gehabt, die vier Frauen im Fiakerwagen geschrien, und vor dem Parlamentsgebäude, dort wo die Straßenbahn links in die Josefstädter Straße einbiegt, sei die lange Peitsche mit einem gehörigen Schnalzer auf die Straße herabgefallen und von mehreren Fahrzeugen überrollt worden. Bei einem anderen Besuch der Stadt habe man ihm, Reichenbach, direkt vor dem Stephansdom!, das Fell über die Ohren gezogen und ihm überteuerte Karten für ein obskures Mozartkonzert verkauft, das in einer Art Hinterhof stattgefunden habe. Die sechs Musiker hätten billige Perücken getragen, sagt Reichenbach, und einen verkommenen Eindruck gemacht. Così fan tutte. Während desselben Wienaufenthaltes, so Reichenbach weiter, sei er am Naschmarkt beinahe in eine Schlägerei geraten: ein betrunkener Standbesitzer, ein Waldviertler, habe eine Gruppe russischer Touristen des Diebstahls bezichtigt. Beweisen konnt’s keiner, und die beiden Polizeibeamten seien wieder abgerückt. Wien sei ihm auch deshalb in einiger Erinnerung, so Reichenbach, weil er dort einmal in eine wirklich abscheuliche Kaschemme geraten sei, wo die Frauen silberne Schaftstiefel getragen hätten, und der Fusel beim besten Willen nicht zu trinken gewesen sei. Am Rande der Leopoldstadt muss das gewesen sein, sagt Reichenbach, in einer Gasse, von wo aus man eine Donaubrücke sehen konnte.

    Später, am Abend, während ich auf den Bus zum Flughafen Tegel warte: ich kaue noch immer an der inzwischen nur mehr lauwarmen Pizzaecke, die ich mir an einer Neonbude, hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt, gekauft habe. Der Mann, der das fettige Dreieck aus dem unter Rotlicht glänzenden Pizzarad herausgezirkelt hatte, trug Vollbart, Unterarmtattoos, ein Golduhrimitat, Kopfhörer und ein freundliches Lächeln zur Schau. An der Budenrückwand, links, neben dem Poster mit einer Ansicht der Hagia Sophia im Frühmorgenlicht, knisterte himmelblau eine elektrische Insektenfalle. An einer goliathgroßen Plastikketchupflasche pappte der Rest einer Papierserviette. Ein Junkie hatte seine dunklen Augenringe in die wenig einladenden Untiefen der Mülltonne gerichtet, war vom Pizzamaster allerdings mit einem Brummen und Rollen der Augen verscheucht worden. Dann endlich: TXL leuchtet es gelb von der Stirn des Busses herab, der nun an der Haltestelle stoppt.

    Wieder nach Wien zurückgekehrt, starrte ich, im Bett liegend, an die Zimmerdecke. In seinem Abschiedsbrief hatte Stidmann die Beweggründe skizziert, die ihn zu seinem Schritt veranlasst hatten. In dürren Worten war dort von (vermeintlicher?) Unproduktivität und Lustlosigkeit die Rede. Von Leere, Zaudern und Zögern. Von Kraftlosigkeit und einer permanenten Unentschlossenheit. Von der Unfähigkeit zur Konzentration, und davon, die Dinge vor sich herzuschieben. (Erkennst du dich in diesen Worten wieder?) Eines Tages war es dann soweit: Mit dem Kauf des Föns, ausgerechnet in der Moabiter Stromstraße (sic!), hatte Stidmann das Mittel zur Hand, um seinen letalen Plan final auszuführen. Hatten die Lichter in der Wohnung kurz aufgeflackert, als der auf Stufe vier laufende Fön mit der Oberfläche des warmen Badewassers in Berührung gekommen war?

    Die Dame aus der Josefstadt hat inzwischen Gesellschaft bekommen: die gute Freundin krault dem Hund den wulstigen Nacken. Ich sollte zahlen. Gehen. Aufbrechen. Doch wie so oft: ich warte bis zum letzten Moment. Denn noch ist Zeit. Schwungvoll werden die gefüllten Tabletts herumgetragen. Für die Fregatte und ihre Freundin gibt es weißen Spritzer und das Schweinscordon mit Pommes und gem. Salat. Im Schein der Luster werden ihre Frisuren grünstichig. Der Kellner, stoisch, beflissen, versagt sich ein jegliches Lächeln, immerhin: der Stil des Hauses will gepflegt sein, da ist man konsequent. Der Hund, der vom Fußboden aus die Weltlage beobachtet, ist ihm im Weg, aber da ist nichts zu machen. Ein Bebrillter am Tisch in der Nische vor mir hat Schwierigkeiten mit dem Zeitungshalter: die Blätter wollen sich einfach nicht bändigen lassen. Jetzt kommt auch noch der Rosenverkäufer herein: gekonnt setzt er eine Maske aus Zuckerguss auf. So hübsche Damen, sagt er. Die Fregatte vertreibt den zahnlückigen Schmeichler und Störenfried: mit derselben Geste, die sonst dazu dient, den Fliegen den Genuss an ihrem hausgemachten Marillenkompott zu verleiden. Von drüben wabern die Deklamationen des Schauspielers Rosnagl herüber, outrierend. (Es fällt dir schwer, dieses obskure Theater zu verlassen und dich von deinem weinrot gepolsterten Logenplatz, am Fenster rechts, Ringstraßenseite, zu erheben. Aber der Vorhang muss irgendwann fallen: und jetzt ist der Moment gekommen.)

    ]Engel im Schatten des Flakturms. Du verlässt das Kaffeehaus durch den Windfang: ein dürres Männchen mit buntem Käppi auf dem Schädel wackelt dir entgegen, seinen Rollator vor sich herschiebend, vermutlich einer der hier ein und aus gehenden Malerfürsten. Das Theaterstück drinnen: es geht ohne dich weiter. Auf deinem Platz: nun ein Japaner mit Selfiestick und Wienführer. Speisen gewünscht, der Herr?, wird ihn gleich der Kellner fragen, wohl wissend, dass dieser Herr Kobayashi, Opernfan aus Nigata, kein Wort verstehen wird.

    Die Abgase von der Ringstraße haben sich in der lauen Abendluft mit einer Vielzahl von Miasmen bekannter wie unbekannter Provenienz zu einer imposanten Geruchskulisse verbündet. Ich recke die Nase in den kaum vorhandenen Wind: Pferdemist? Aral Ultimate? Wienflussodeur? Reifenabrieb? Herreneaudetoilette? Jasmin? Flieder? U-Bahnabluft? Debrecziner? Hundekot? Eine hübsche Melange: hier kommt alles zusammen. Autos hupen. Straßenbahnen bimmeln. Fahrradfahrer fluchen. Paare umarmen sich. Gemeines Volk. Eine Tätowierte kotzt in das Wartehäuschen der Tram: von seinem dort leuchtenden Werbeplakat blickt der Tennisspieler Rafael Nadal, eine Luxusuhr am Handgelenk, das unsittliche Flittchen böse an. Na warte!

    Am Schwarzenbergplatz wechsle ich in die Tram der Linie D, bekannt auch als D-Wagen. Beim Heldendenkmal der Roten Armee salutieren drei wackere Stalinisten: ordensgeschmückte Veteranen der Schlacht am Assowschen Meer. Oben auf seiner Säule: der tapfere Steinsoldat hat den Blick in endlos weite Fernen gerichtet, er hält Ausschau, vielleicht nach seinem Mädchen, das in Dnjepropetrowsk auf ihn wartet, golden schimmert das Hammerundsichelschild in den Flutlichtern. Wie gut es mir geht: ich musste nicht durch mückenverseuchte Sümpfe kriechen, mit zerfetzten Lumpen um die Füße, in kaputten Stiefeln, die Uniform seit Tagen durchweicht. Diese Kälte. Dieser Regen. Schrapnelle in den Nächten, tückisch. Das Untere Belvedere rückt ins Bild: die polnische Kirche gegenüber lässt die Glocken läuten. Um diese Uhrzeit? Das ist seltsam. Aus einem Bierlokal strömen die Menschen heraus: hoffnungsfroh. Am Wiener Hauptbahnhof steige ich aus der Tram. Über mir, an der gläsernen Frontfassade des Bahnhofsgebäudes, schwebt überdimensional ein in Kürze überall neu! neu! neu! erhältliches Smartphone, besser: sein perfekt in Szene gesetztes Abbild, Ikonisierung und Fetischisierung der digitalen Warenwelt, ein Ding aus einer anderen Welt, Versprechung, Verheißung, Verführung, kauf mich! nimm mich! lieb mich!

    Auch der Hauptbahnhof Wien ist so gut wie nagelneu, ebenso das gesamte von kilometerhohen Glasbauten geprägte Quartier darum herum. Früher stand an dieser Stelle der olle Südbahnhof mit seiner irgendwie bizarr eckigen Architektur, seinen dunkelblau gekachelten Hallen, den muffigen, gelblich ausgeleuchteten Gängen und dem berühmten Markuslöwendenkmal, das allerdings auch in der neuen Bahnhofswelt seinen Platz gefunden hat, gleich hinter dem Haupteingang neben der Ticketlounge: wer nicht Bescheid weiß, der stutzt und staunt und fragt sich, was denn der Löwe aus der Serenissima hier zu suchen hat, pax tibi Marce evangelista meus. Nun, wie auch immer: die hübsche Romantik der Sommerfrische ist leider Vergangenheit, endgültig. Die Züge nach Kärnten, nach Triest, nach Venedig, sie fahren zwar nach wie vor von hier ab, aber wie schön war das früher! zu Zeiten Schnitzlers und Hofmannsthals! Da ging’s dampfend und fauchend

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