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Land ganz nah: Ein Heimatroman
Land ganz nah: Ein Heimatroman
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eBook150 Seiten2 Stunden

Land ganz nah: Ein Heimatroman

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Über dieses E-Book

Ein improvisiertes Flüchtlingscamp im Zürcher Hauptbahnhof, ein eskalierender Wahlkampfauftakt der Rechtspopulisten, ein Anschlag auf eine eritreische Familie sowie zwei Mittzwanziger, die nicht zusammenfinden: Das sind die tragenden Elemente, auf denen Benjamin von Wyl eine melancholische und brisante Bestandsaufnahme seiner Schweiz wagt.

Ein entfremdeter Mittzwanziger trifft sich mit einer nicht entfremdeten Mittzwanzigerin nach einer libidinösen Zusammenkunft auf der Dreirosenbrücke in Basel. Sie kommen zusammen und dann doch wieder nicht.

Gleichzeitig steigen einige Flüchtlinge im Railjet von Wien nicht mehr in Salzburg um, sondern bleiben bis Zürich sitzen. So bildet sich ein Flüchtlingsghetto in der Zwischenebene des Zürcher Hauptbahnhofs. Die Schweizer Behörden und die SBB setzen auf Isolation.

Die Situation kocht über, als die SVP ihren Wahlkampfauftakt im Hauptbahnhof feiert. Ein Konflikt zwischen einem SVP-Sympathisanten und einem Jugendlichen sorgt für eine Politisierung der urbanen Subkulturen. Dazu begründet die junge Basler Großrätin Manna del Rey eine neue politische Bewegung.

Die Flüchtlinge brechen aus; eine Zeltstadt auf dem Platzspitz entsteht. Nach einem Brandanschlag auf eine eritreische Familie folgt die Eskalation. Gewalttätige Konfrontationen zwischen Schweizern und Flüchtlingen sind die Folge, es beginnt ein Bürgerkrieg zwischen den urbanen Zentren und dem Rest des Landes.

Von Wyl stellt brennende Fragen im Spannungsfeld zwischen Stadt und Land, links und rechts, Introspektion und Extrovertiertheit. "Land ganz nah" ist endlich wieder ein kluger und gewagter politischer Roman aus der Schweiz.
SpracheDeutsch
Herausgeberlectorbooks
Erscheinungsdatum28. Aug. 2017
ISBN9783906913155
Land ganz nah: Ein Heimatroman

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    Buchvorschau

    Land ganz nah - Benjamin von Wyl

    AUTOR

    1.

    Vorweg läuft ein Junge mit einem »Free Hugs«-Schild. Er grinst und weiss, wie entscheidend es ist, Aufmerksamkeit auf sich zu konzentrieren. Das kann er. Zwei Mädchen und drei Jungs laufen ihm nach. Über die Mittlere Brücke Richtung Kleinbasel. Bei der Helvetia-Statue beschleunigt mein Tram Richtung Grossbasel. Die Fahnen an der Brücke wehen. Sie takten Meister-Zeit, Art-Basel-Zeit, Tattoo-Zeit, Seine-Wohnung-Bonzen-zur-Verfügung-stell-Zeit während der Baselworld. Die Fahnen umrahmen meinen Morgen, der sonst höchstens von arhythmischen Facebook-Push-Nachrichten und zwei Mailaccounts koloriert wird. Unter der Brücke treibt der Rhein, weil er das tut. Ich seh, wie er treibt, während der 8er zielstrebig weiter zur Schifflände fährt. In der besten aller möglichen Welten sässe man am Rheinufer, Kleinbasler Seite. Das beruhigt, den Rhein zu sehen als Reminder an diese Möglichkeit. Wie der weiss-rot markierte Kehrichtverbrennungsturm weit flussabwärts beruhigt. Wie der Vorlesungssaal flussaufwärts beruhigt. Von dem aus haben wir früher in der ersten Stunde auf die Frühneuzeitfassaden von Kleinbasel geschaut und mitgedämmert.

    Das Tram ist schon beim Barfi, und ich hab fast alle Tabs mit Artikeln, die in meinem Startseiten-Revier auf Facebook geteilt wurden, abgearbeitet. Weder das Literaturtheorie-Taschenbuch – nicht mal ein ödes, sondern ein im guten Sinne süffiges – noch den dritten Knausgård-Roman, noch nicht mal die neue Ausgabe der Zeit hab ich aus meiner Tasche genommen. Ich trage das alles mit mir rum, damit sich mein Rücken am Abend kaputt fühlt und mein Körper und Gemütszustand als Einheit zusammenfinden. Bankverein. Am Bahnhof kauf ich mir ein Schoggibrötchen bei der Bäckerkette, die so allgegenwärtig ist, dass ihr Name nicht genannt werden darf, bemitleide die Leute, die so knapp am Bahnhof sind, dass sie die Rolltreppe hochrennen müssen, und steige in den Restaurant-Wagen. Kafi im Zug ist zwar teuer, aber Kafi beim uniformen Bäcker ist noch teurer, und Kafi am Morgen ist lebenswichtig. Zum Kafi-daheim-Machen bin ich nur schon deshalb zu faul, weil ich erst die Bohnen mit meiner Peugeot-Mühle vom Flohmarkt mahlen müsste. Also warte ich mit Cappuccino auf meinen Pendelfreund. Ich geniesse die Fahrt mit ihm, nehme einen Zug früher, als ich müsste, denn mit ihm kann ich die Fahrtzeit bespielen, darüber sprechen, was wir aus den Kulturtheorie-Lektürekursen in unseren heutigen Alltag übernehmen. Die Fahrtzeit ist mehr als Fugenzeit, erhält Wert. Er kommt wie immer knapp – aber es ist beruhigend, dass er kommt. Sonst hätte ich die auf seinen Platz aspirierenden Anzug-, Jackett- und Schalträger für nichts abgewimmelt. Ist er nicht da, weiss ich nicht, wo er ist. Sein Handy nutzt er nur als Wecker, und die Nummer hat niemand ausser seiner Freundin. Er wird bald Bibliothekar.

    In 20 Minuten lesen wir, dass am HB-Treffpunkt vorgestern zwei miteinander verkehrt haben. Um 05.30 Uhr war es für die Beteiligten wohl eher spät als früh. Als wir am HB in Zürich sind, verabschiedet sich der künftige Bibliothekar in die Unerreichbarkeit.

    »Ou, du chunsch uf Züri und wäisch nöd emal, wo de Swarovski isch?«¹ In Zürich passieren Zürich-Sachen. Ich brauche immer einen Moment, bis das bei mir ankommt, meistens bis die S-Bahn bei der Hardbrücke einfährt. Mein Büro liegt hinter dem Prime Tower, dem ehemals höchsten Gebäude der Schweiz. Ich rauche meine erste Zigi immer dann, wenn ich am Prime Tower vorbeigehe und mir einbilde, dass das eine Form von Selbstreinigung ist, quasi die Dekontaminationskammer vor dem Verlassen des Mutterschiffs. Manchmal gefällt es mir, wie der Prime Tower diese Stadt pfählt und wie die Anzugmenschen um ihn rumwuseln. Ein masochistischer Reflex. Ich hab jeden Tag eine Stunde und zwanzig Minuten von Tür zu Tür. Dafür, dass ich dann auf einem weissen Tisch in einer weissen, halb leeren Halle meinen Laptop auspacke. Immerhin steht meine Walross-Tasse da. Die Arbeit: Was auf dem Bildschirm geschieht, das packt, bannt und unterdrückt den Mittagshunger manchmal bis halb drei. Ausser das WLAN fällt wieder aus. Wir sind ein Online-Medium.

    In den Rauchpausen schauen meine Büro-Zürcher und ich auf eine Szenerie, die zu zwei Fünfteln vom Prime Tower eingenommen wird. Mein Chef und ich drücken uns vor dem Fenster auf dem Zwischenstock zusammen. Die anderen gehen nur mit einem Arm dazwischen, wenn sie ihre Kippen wegschmeissen wollen. Und wir stellen uns vor, dass im Prime Tower ein kosmisch-purpurnes Ding pulsiert, das alles Böse der Welt an sich saugt. Mein Chef spielt während dem Rauchen – er raucht immer gleich zwei Zigis – Kaputtheitsbingo: Er behauptet zu wissen, wer verdrogt ist unter den Leuten, auf die wir aus dem Zwischenstockbullauge herabschauen. Keiner von uns verurteilt die Kaputten, denn das kosmisch-purpurne Ding zwängt sie in dieses Leben. Dieses Ding stelle ich mir als das polyamore Tentakelwesen aus dem einen Futurama-Langfilm vor. Das dockt an Roboter-, an Krabben-, an Menschennacken an, an alles, was Bewusstsein hat, und überformt es, normt es, bietet Glück. Nach jeder Rauchpause muss ich aufs Klo oder mir einen Kafi machen. Und dazwischen, in der gefühlt grössten Entfernung zwischen der letzten Rauchpause und der nächsten, mache ich das jeweils andere (Kafi oder Häufchen). Von uns durch eine Styroporstellwand abgetrennt sitzen die Architekten. Fleissig, gschaffig, unsere Hallenmitmieter. Das führt manchmal zu Konflikten. Meistens, weil wir uns das WLAN teilen und die Bandbreite schlecht ist – wir sind ein Online-Medium. Die Bandbreite bleibt so, da das Gebäude unter Denkmalschutz steht. Die Architekten mögen das auch nicht, die meisten den Denkmalschutz schon, aber seine WLAN-Folgen nicht. Besonders nervt es die Sachbearbeiterinnen, die bei der gemeinsamen Kafimaschine bis zu zwanzig Minuten lang darüber diskutieren, dass diese Bruchbude mit ihrem abblätternden Deckenbelag denkmalgeschützt sei.

    Als ich hier frisch angefangen hatte, unterstellte mir mein Chef, dass ich momentan noch das Gefühl hätte, er habe mir mit dem Job einen Gefallen getan. In zwei, drei Monaten werde das verfliegen und ich würde das Gefühl bekommen, jemand nehme mir etwas weg.

    Ach, der Prachtpalast! »Das Vergessen wartet in einer langen Schlange vor dem Eingang« und darunter auf einer zerbrochenen Wandtafel: »Heute: 21.00 Berezina (UK), 23.00 Tuntenball«. Beim Menschen am Eingang suche ich in meinem Portemonnaie nach der richtigen Karte. Endlich, »Karola Burgherr, TagNacht, Redaktionelle Mitarbeiterin Kultur« Was ich hier wolle? Drüber schreiben.

    »Mir sin nid ganz überzügt, ob mr euch no do wän.«

    »›Mr wän das nitt!‹ isch de Slogan, mit däm mr unseri Ziitig lanciert hän.«²

    Der Typ hustet; endlich darf ich hinein. Hinter mir greift eine dem Security in den Schritt und ruft: »Ich bin von Vice, ich darf das! Das ist alles völlig natürlich.« Die ist kaum siebzehn und wird weggebracht. Ich muss kichern: Die drehen komplett am Rad, die Gonzo-Clickbait-Journis.

    Die Jungs von Berezina sind nicht da, sondern beim Soundcheck, also zünde ich mir eine Zigi an. Neben dem Sofa steht eine halb volle Flasche Chivas Regal. Ich warte. Wenn ich etwas hasse, dann Warten. Warten. Warten. Vor zwei Tagen bin ich bis sieben Uhr morgens hier im Prachtpalast gewesen für unser Video, das Video-Voice-Over. Wir machen immer mehr Video, das passiert, wenn man einer Zeitung das Papier wegnimmt. Untätig von zehn bis zwölf, wartend. Darauf, dass die Polizei vielleicht abzieht. Als wir uns dann hier einrichten konnten, hat Roman mich zu seinen Sätzen gezwungen: »Die Polizei kesselte die 150 bis 200 Ultras beim Prachtpalast ein.« Das musste ich ins Mikro sprechen, fünf-, zehn-, fünfzehnmal ins Mikro sprechen. »Die Polizei kesselte die 150 bis 200 Ultras beim Prachtpalast ein.« Roman hat getrunken. Ich durfte nicht. Wegen der Artikulation, hat er gemeint. Ich sagte die Sätze so viele Male: »150 bis 200 Ultras«, und noch mal, da ein Knacken drauf war. Bei der Aufnahme hatte ich ein Stück Molton über meinem Kopf. Auf beiden Seiten angehoben von Mineralwasserflaschen. So sollte der Sound cleaner sein und ich konnte atmen. Roman hat mir nuschelnd Phonetik-Ratschläge gegeben. Und dann warteten wir, bis alles per WeTransfer hochgeladen war. Und dann durften wir warten, bis die Empfangsbestätigung kam. Und dann war es sieben und auf dem Heimweg ins Klybeck hallten mir meine Sätze nach. »Etwa eine Stunde später zog sich die Polizei überraschenderweise ohne Personenkontrollen zurück.« Woher kommen diese Sätze? – Ich bin ein Echoraum. »Die Eingekesselten kommentierten das mit ›Heigoh! Heigoh grad jetz!‹³-Gesängen.« Und wieder von vorne: »150 bis 200 Ultras …« Zum Einschlafen habe ich dann Iron & Wine gehört, damit die Sätze weggehen. Warten. Beim Warten kommt hoch, was schon vorbei ist. Warten statt Input. Wann kommt denn jetzt diese Band endlich? Den Chivas Regal will eh niemand mehr. Ich nehme einen Schluck.

    Es dauerte nicht zwei Monate, bis ich das Gefühl bekam, dass man mir was wegnimmt. Ich mag Zürich nicht. Das bleibt so, das geht nicht weg. Christoph Blocher und Huldrych Zwingli sitzen zusammen in der Bar und trinken Espresso Martini. Christoph Blocher und Huldrych Zwingli koksen auf der Toilette vom Hive, natürlich beide mit demselben Schnupfröhrchen. Drogen, Protestantismus, Leistungsbereitschaft, Vintage-Mode: In Zürich darf man vielem dienen. Unterwerfung, Unterwerfung unter die Darstellung. Verätzte Schleimhäute. Zürich, das sind gut frisierte, trainierte Menschen, die etwas zu schnell reden und in der Schule ADHS diagnostiziert bekommen haben. Sie tragen meistens Sporttaschen mit sich rum, da sie alle noch wohin müssen, sie müssen dahin, wo sie müssen. Schwimmen gehen oder zum Yoga. Ich schaue ihnen tief in die Nasenlöcher: Ist der da eine Koksnase? Und die? Würde mich der aggressiv machen, wenn ich betrunken wäre? Ist das der, der letzten Samstag in der Zukki sein Zeug an der Bar rausgeholt hat? Da hab ich meinen Gin Tonic auf die Bar geknallt, Glas ist gesplittert, mein Blut geflossen, zwei offene Wunden. Den Rest im Glas, durch den mein Blut eine Spur zog, hab ich noch getrunken.

    Alle erwarteten, dass ich dabei einen Splitter schlucke, und so hab ich ihnen wehgetan. Der Typ hat sein Koks wieder eingepackt.

    Die meisten Zürcher sind kreativ; sie kommen ja aus bürgerlichen Elternhäusern. Aber meist fällt mehr auf, dass sie verkaufen können; sie kommen ja aus bürgerlichen Elternhäusern. Ihr Leben ein einziger Pitch, ihre drei Unique Selling Points erzählen sie dir in fünf Hauptsätzen. Sie sassen davor stundenlang an ihrem Küchentisch, an dem 1967 schon Stadtpräsident Sigi Widmer mit ihren Eltern gesessen habe, feilen an Wörtern, manchmal stundenlang an Hauptsätzen, denn darum geht es: Haupsätze mit weniger als dreizehn Wörtern. Sie wählen Fonts, und dann wird das, was sie sich überlegt haben, zu einem Produkt. Dann wird das schon, Produkt.

    Berezinas Typ am E-Synthie, Kasparov, ist jetzt da. Immerhin. Der Chivas Regal nicht mehr halb voll. Er fragt mich, ob

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