Der Mann und das Mädchen: Erzählung
Von Reinhard Knoppka
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Über dieses E-Book
Wessen stärkste Erregungen mit Erlebnissen verbunden sind, von denen jedes auf irgendeine Art unmöglich ist, der will nicht die möglichen Erlebnisse! (Robert Musil)
Leseprobe:
Auf der Suche nach einem Job blätterte ich die Zeitung beim Anzeigenteil auf. Putzhilfe gesucht, Aushilfsfahrer, examinierte Krankenschwester, Imbißverkäufer. Ich wollte das Blatt schon in die Ecke schmeißen - halt: Kinderbetreuer. Ich wählte die Nummer. Eine kecke Kinderstimme meldete sich und lachte mir ins Ohr, als ich den Papa oder die Mama zu sprechen wünschte. „Hans!“ schrie sie. Eine männliche Stimme meldete sich. In dem Glauben, den großen Bruder an der Strippe zu haben, wiederholte ich meinen Wunsch, einen Elternteil zu sprechen. „Ich bin der Vater.“ „Ach so.“
Ich erfuhr, daß die Eltern sich von ihren Kindern beim Vornamen anreden ließen. Vier hatten sie: Stefan war dreizehn, Wolfgang elf, Sylvia sieben und Elsa fünf. Die sich vorhin gemeldet hatte, war Sylvia. Bei meinem Vorstellungsgespräch alberte Sylvia mit einem blonden Nachbarsjungen herum. Elsa kam auf mich zu, haute mir ihren dreckigen Barfuß in den Schoß, zeigte auf ein noch dreckigeres Pflaster und erklärte, sie sei in eine Scherbe getreten. „Das tut mir aber leid.“ „Willste mal sehen?“
„Pustekuchen!“ „Hier“, sagte ich und reichte ihr den Teller. Ihre ältere Schwester schubste sie weg, und Elsa weinte.
Machte ich Sylvia, die von der Schule gekommen war, die Haustür auf, wunderte ich mich jedesmal, wie klein sie noch war. In meiner Erinnerung war sie viel größer gewesen. Vielleicht lag es daran, daß sie für mich gleichsam wuchs mit ihrem Geschrei und Gehüpfe, womit sie die Stille verscheuchte. Da stand sie, schmal vor dem großen Ranzen, der eckig über ihre abfallenden Schultern hinausragte. Die bog sie zurück: der Ranzen rutschte von ihrem Rücken und polterte zu Boden. „Aufheben!“ befahl sie. „Sonst noch was?“
Aber sie verschwand schon lachend im Haus, riß sich Mütze, Schal und Handschuhe herunter, pfefferte sie irgendwohin, und ich sammelte alles hinter ihr auf. Sie schlüpfte aus dem Anorak, ließ ihn fallen und rannte zum Schrank. Dort kletterte sie auf einen Stuhl, erreichte aber nicht die Steingutschale mit den Süßigkeiten auf dem Schrank. Sie öffnete eine Tür und kletterte, die Innenfächer als Stufen benutzend, hinauf. Oben klemmte sie sich mit einem Arm an der hin- und herschwingenden Tür fest. Sie griff mit der freien Hand in die Schale, stopfte sich Bonbons und Plätzchen in die Tasche und verlor den Tritt. Sie hing nur noch an der pendelnden Tür und schrie. Ich kam, nachdem ich ihre Sachen an der Garderobe aufgehängt hatte, herbei, aber nicht, um Sylvia, die sich bäuchlings über die Kante geschoben hatte, gleich herunterzuholen. Nein, ich ließ sie erst mal zappeln, gab der Tür sogar noch einen Schubs. „Hilfe!“ „Hängst du deine Sachen in Zukunft immer schön selber auf ?“ „Nee!“ Noch ein Schubs - Gekreisch. Ich nahm sie herunter und kitzelte sie durch. „Lieber nicht.“ Doch sie zupfte schon am Pflaster. Sylvia kam herbeigeflitzt und stibitzte eine Handvoll Plätzchen vom Teller. Sie teilte sie sich mit ihrem Freund. Elsa wollte auch eins.
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Buchvorschau
Der Mann und das Mädchen - Reinhard Knoppka
Reinhard Knoppka Der Mann und das Mädchen Erzählung
© Trotz Verlag, Köln 2012
2. inhaltlich unveränderte Ausgabe 2016
Alle Rechte vorbehalten
Verlag & Vertrieb:
www.trotz.medien-vvg.org trotz@medien-vvg.org
ISBN eBuch: 978-3-96686-221-9
Alles hier Geschilderte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären rein zufällig.
Wessen stärkste Erregungen mit Erlebnis-sen verbunden sind, von denen jedes auf irgendeine Art unmöglich ist, der will nicht die möglichen Erlebnisse! (Robert Musil)
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Der Mann und das Mädchen Auf der Suche nach einem Job blätterte ich die Zeitung beim Anzeigenteil auf.
Putzhilfe gesucht, Aushilfsfahrer, exami-nierte Krankenschwester, Imbißverkäufer ... Ich wollte das Blatt schon in die Ecke schmeißen - halt: Kinderbetreuer.
Ich wählte die Nummer. Eine kecke Kin-derstimme meldete sich und lachte mir ins Ohr, als ich den Papa oder die Mama zu sprechen wünschte.
„Hans!" schrie sie.
Eine männliche Stimme meldete sich. In dem Glauben, den großen Bruder an der Strippe zu haben, wiederholte ich meinen Wunsch, einen Elternteil zu sprechen.
„Ich bin der Vater."
„Ach so."
Ich erfuhr, daß die Eltern sich von ihren Kindern beim Vornamen anreden ließen.
Vier hatten sie: Stefan war dreizehn, Wolfgang elf, Sylvia sieben und Elsa 3
fünf. Die sich vorhin gemeldet hatte, war Sylvia.
Bei meinem Vorstellungsgespräch alberte Sylvia mit einem blonden Nachbars-jungen herum. Elsa kam auf mich zu, haute mir ihren dreckigen Barfuß in den Schoß, zeigte auf ein noch dreckigeres Pflaster und erklärte, sie sei in eine Scherbe ge-treten.
„Das tut mir aber leid."
„Willste mal sehen?"
„Lieber nicht."
Doch sie zupfte schon am Pflaster.
Sylvia kam herbeigeflitzt und stibitzte eine Handvoll Plätzchen vom Teller. Sie teilte sie sich mit ihrem Freund. Elsa wollte auch eins.
„Pustekuchen!"
„Hier", sagte ich und reichte ihr den Teller. Ihre ältere Schwester schubste sie weg, und Elsa weinte.
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Machte ich Sylvia, die von der Schule gekommen war, die Haustür auf, wunderte ich mich jedesmal, wie klein sie noch war. In meiner Erinnerung war sie viel größer gewesen. Vielleicht lag es daran, daß sie für mich gleichsam wuchs mit ihrem Ge-schrei und Gehüpfe, womit sie die Stille verscheuchte.
Da stand sie, schmal vor dem großen Ranzen, der eckig über ihre abfallenden Schultern hinausragte. Die bog sie zu-rück: der Ranzen rutschte von ihrem Rü-
cken und polterte zu Boden.
„Aufheben!" befahl sie.
„Sonst noch was?"
Aber sie verschwand schon lachend im Haus, riß sich Mütze, Schal und Handschu-he herunter, pfefferte sie irgendwohin, und ich sammelte alles hinter ihr auf.
Sie schlüpfte aus dem Anorak, ließ ihn fallen und rannte zum Schrank.
Dort kletterte sie auf einen Stuhl, erreichte aber nicht die Steingutschale mit 5
den Süßigkeiten auf dem Schrank. Sie öffnete eine Tür und kletterte, die Innenfä-
cher als Stufen benutzend, hinauf. Oben klemmte sie sich mit einem Arm an der hin
- und herschwingenden Tür fest. Sie griff mit der freien Hand in die Schale, stopfte sich Bonbons und Plätzchen in die Tasche und verlor den Tritt.
Sie hing nur noch an der pendelnden Tür und schrie. Ich kam, nachdem ich ihre Sachen an der Garderobe aufgehängt hatte, herbei, aber nicht, um Sylvia, die sich bäuchlings über die Kante geschoben hatte, gleich herunterzuholen. Nein, ich ließ sie erst mal zappeln, gab der Tür sogar noch einen Schubs.
„Hilfe!"
„Hängst du deine Sachen in Zukunft immer schön selber auf?"
„Nee!"
Noch ein Schubs - Gekreisch. Ich nahm sie herunter und kitzelte sie durch.
Der Weg zum Kindergarten war voller Hun-6
deköttel: ein Jux für die Kinder, die sich auf dem Heimweg gegenseitig hinein-zurempeln versuchten.
Die Mütter brüllten, und die Kinder spa-zierten plötzlich gesittet vor ihnen her
- für eine Weile. Dann versetzten sie, diesmal versteckt, einem unachtsamen Ge-fährten einen gezielten Schubs: er schlidderte auf einer Braunspur aus, während sie selber mit Storchenbeinen dar-
über hinwegsetzten und ein Lachen unterdrückten.
Nur meine Mädchen dachten nicht daran, sich gesittet aufzuführen. Mit aller Kraft rempelten sie mich, und hatten sie es geschafft, mich in einen Hundehaufen hineintreten zu lassen, kreischten sie auf. Ich hopste mit