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eBook289 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Tauche ein in eine Welt voller Rätsel, eine verbotene Verbindung und die erschütternde Wahrheit, die hinter jedem Puls verborgen liegt.

Die achtzehnjährige Romy leidet an einer unerklärlichen Krankheit: Sobald ihr Puls 107 Schläge pro Minute erreicht, verliert sie das Bewusstsein.

Allerdings erfährt ihr überbehütetes Leben eine aufregende Wendung, als der lockere, junge Adam Schmidt ihren Lateinunterricht übernimmt. Anders als Romys übrige Hauslehrer denkt er nicht daran, sie wegen ihrer Herzkrankheit zu verhätscheln. Trotzdem fühlt sie sich bald wohler bei ihm, als ihr lieb ist.

Zugleich spürt sie, dass etwas mit Adam nicht stimmt: Wieso ist er ihrem imaginären Freund, der sie seit ihrer Kindheit begleitet, wie aus dem Gesicht geschnitten? Und wer ist die stumme Frau mit dem grünen Hut, die immer wieder auftaucht und Romy wütend anstarrt? Für ihren Lateinlehrer ist sie keine Unbekannte.

Als sich das Rätsel um die fremde Frau entwirrt und Romy begreift, welchen Plan Adam verfolgt, ist es fast schon zu spät.

Denn ihre Krankheit schreitet fort. Und das Geheimnis dahinter bedroht nicht nur ihr eigenes Leben …

SpracheDeutsch
HerausgeberZeilenfluss
Erscheinungsdatum17. Feb. 2020
ISBN9783967140606
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    Buchvorschau

    107 Schläge pro Minute - Zsóka Schwab

    Prolog

    »Hey! Was hast du vor?«

    Bibi musterte mich misstrauisch. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu, richtete meine Aufmerksamkeit aber schnell wieder auf die Jungs auf dem Schulhof.

    »Ich hab dich was gefragt!«, blaffte gerade Christian Wolf, ein bulliger Junge aus der 4c mit Oberarmen wie Baumstämmen und buschigen Augenbrauen. Wie alle Schüler der Morgenstern-Grundschule kannte ich seinen Namen seit der Einschulung. Die Erwachsenen nannten ihn ›schwer erziehbar‹, weil er schon zweimal sitzen geblieben war. Ich hingegen wusste, dass er einfach ein Fiesling war, der gern Schwächere quälte. Heute war der kleine Philipp Röder aus der 3a an der Reihe.

    »N… nein«, fispelte er und duckte sich wie ein geprügelter Hund. »Ich wollte dir nicht im Weg herumstehen!«

    »Und was machst du dann immer noch hier?«

    Phillip wollte zurückweichen, doch Christians bester Freund Marco stand bereits hinter ihm und umklammerte seine Oberarme. Christian grinste breit.

    »Du bist ja immer noch da. Willst wohl eine aufs Maul, was?«

    Philipp riss die Augen auf. »Nein, bitte lass mich in Ruhe! Ich habe nichts gemacht!«

    Inzwischen hatte sich eine große Schülerschar um die drei Jungs versammelt, doch niemand schien gewillt, einzugreifen. Typisch … Ich sah mich um. Wo steckten bloß die dummen Lehrer, wenn man sie brauchte?

    »Hey«, zischte Bibi warnend und packte mein Handgelenk. »Denk nicht mal daran!«

    Ich lächelte sie beruhigend an und schüttelte den Kopf. Ich hatte nicht vor zu denken.

    »Du da!« Ich deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Marco. »Lass Philipp in Ruhe! Er hat dir nichts getan!«

    Christians Augen zuckten von dem hilflos strampelnden Philipp zu mir.

    »Hoho, wen haben wir denn da? Ist das deine Geliebte, Hosenscheißer? Lässt du dich von Mädchen retten?«

    Philipp sah mich an und wurde rot bis über beide Segelohren. Auch meine Wangen prickelten, doch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen.

    »Lasst ihn sofort in Ruhe, oder …«

    »Oder was, Tussi? Willst du mich mit deinen blonden Zöpfchen auspeitschen? Harhar!«

    Obwohl Christian eher wie ein wieherndes Pferd mit Kehlkopfentzündung als wie ein Bösewicht klang, trieb es mir ordentlich die Pumpe hoch. So eine Gemeinheit! Wäre ich bloß stärker … Könnte ich bloß …

    »Hör auf!«, schrie Bibi plötzlich Christian an. »Du darfst sie nicht so aufregen!«

    »Und wieso nicht, Frau Gurkennase? Wird sie sonst zu Hulk und tötet uns alle?« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte wieder sein Pferdelachen. Dann stockte er. »Hey, was ist das?«

    Ein hohes Pfeifen schrillte über den Schulhof, schneidend wie eine Katastrophensirene. Sein Ursprung war mein linkes Handgelenk.

    Bibi sog scharf die Luft ein. »Oh nein! Ich wusste es!«

    Sie umklammerte meinen Arm und sagte etwas, doch ich war zu wütend auf Christian, um es aufzunehmen.

    »Wie kannst du es wagen!«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du hast kein Recht, Bibi zu beleidigen!«

    Ich rechnete mit einem dummen Spruch, doch Christian runzelte nur seine Brauen. »Hey, alles in Ordnung mit dir?«

    Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch das Pfeifen übertönte meine Gedanken. Dann gesellte sich ein tiefes Rauschen hinzu. Das schlafende Monster in mir schlug ein Auge auf.

    Dodomm, machte es, Dodomm – Dodommdodomm – Dodommdodommdodommdodomm …

    »Romy, setz dich hin!«, befahl Bibi. »Sofort! Hast du nicht gehört?! Romy? Ro…«

    1

    Zehn Jahre später

    Von einem Moment auf den nächsten ausgeschaltet zu werden, gerade wenn es spannend wird, macht keinen Spaß. Es nervt sogar ganz gewaltig, genau wie die klobige graue Uhr an meinem Handgelenk.

    Ich hob den linken Arm vom Bett und betrachtete das Display: 42 … 44 … 41 …

    »Heute sind wir aber langsam unterwegs, Frau Winter«, murmelte ich und verzog das Gesicht. Die Vierziger schafften mich. Sie machten mich schlapp, faul und weinerlich – manchmal so sehr, dass ich kaum in der Lage war, ein Buch zu lesen, nicht einmal mein Lieblingsbuch.

    Träge drehte ich mich auf die Seite und betrachtete den Grafen von Monte Christo, der vom Parkettboden aus enttäuscht und ein wenig beleidigt zurückblickte. Es war verrückt, aber wie oft ich die Zeichnung des jungen Mannes auf dem Buchdeckel auch ansah, sein Gesicht zeigte stets eine andere Nuance. Sicher, die kantigen Züge und die kinnlangen, dunklen Locken änderten sich nicht, ebenso wenig die feinen silbernen Stickereien an seinem schwarzen Samtgewand oder die Art, wie seine blasse Hand auf dem Knauf eines eleganten Herrenstocks ruhte. Doch in den schmalen, grauen Augen lag ein beinahe lebendiger Glanz, und die Schatten darunter schienen an manchen Tagen dunkler zu sein als an anderen. Heute waren sie fast so schwarz wie seine Kleidung.

    »Armer Edmond«, flüsterte ich, »heute bin ich dir keine gute Gesellschaft …« In diesem Moment klopfte es. »Ja?«, knurrte ich, da mein Privatgespräch mit meinem Grafen so rüde unterbrochen wurde. Die weiß lackierte Holztür öffnete sich, und ein nussbraun gelockter Schopf erschien im Türspalt.

    »Hallo Schatz«, flötete meine Mutter, »entschuldige, wenn ich störe, aber ich habe dir was Schönes mitgebracht.« Fröhlich summend schob sie sich in mein Zimmer und zog dabei instinktiv den Kopf unter der Dachschräge ein. Auf den Händen trug sie ein Tablett mit einer dampfenden Tasse und einem kleinen Teller voll Gebäck.

    »Ach Mama«, nölte ich, als mir der Duft von Früchtetee und Plätzchen entgegenschlug, »du brauchst mir nicht immer alles hochzubringen, ich kann mir das selber holen!«

    »Aber ich mache es doch gern, Liebes, und das Treppensteigen macht mir nichts aus, im Gegensatz zu dir.«

    »Deshalb bist du ja auch rank und schlank. Ich dagegen könnte langsam bei den Sumoringern anheuern.« Gut, das war übertrieben. In Wahrheit war ich bloß mollig, fühlte mich aber trotzdem nicht wohl in meiner Haut. Und es frustrierte mich, dass ich nichts dagegen tun konnte. Abgesehen von Spazierengehen (nicht Walken!) war Sport für mich tabu, und eine Diät wusste meine Mutter mit ihren heimtückischen Plätzchen-Attacken zu verhindern. Hätte ich mich nicht mit Zähnen und Klauen an mein Dachbodenzimmer geklammert, statt in eines im Erdgeschoss umzuziehen, wie meine Mutter es wollte, müsste man inzwischen wohl ein elefantengroßes Loch in die Wand schlagen, um mich dort herauszuholen.

    »So ein Unsinn, du bist wunderhübsch, kleine Butterblume.« Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch unter dem Dachbodenfenster, kam zu mir und setzte sich auf meine Bettkante. »Nanu, was macht denn das Buch da auf dem Boden? Ah, schon wieder der Graf von Monte Christo?« Mit spitzen Fingern hob sie den Band in die Höhe, als wäre er irgendwie verseucht.

    Der Anblick weckte meine Lebensgeister. Ich schnappte mir das Buch und drückte es fest gegen meine Brust. »Lass ihn in Ruhe, er hat dir nichts getan!«

    »Romina, was redest du da?« Sie schielte auf meine Pulsuhr, bevor ich sie vor ihr verstecken konnte.

    »38!«, stieß sie aus. »Ach du liebe Güte, wie ist das denn passiert?!«

    Ich zuckte die Achseln und streichelte mein Buch. Meine Mutter schaute mir lange ins Gesicht – forschend, alarmiert. Als ich die Panik in ihren großen, moosgrünen Augen sah, wusste ich schon, was als Nächstes kommen würde.

    »Ich rufe Elinor. Bleib hier liegen und rühr dich nicht vom Fleck!«

    »Aye-Aye, Ma’am«, murmelte ich gelangweilt und fragte mich, weshalb meine Mutter sich so aufregte. Immerhin passierte das mindestens einmal im Monat, also hatten wir mittlerweile alle Routine darin. Selbst mein Opa, der sich für nichts außer seinen Schnitzereien interessierte, schlurfte beim Anblick meiner zum Telefon sprintenden Mutter bereits ins Bad, um seine dünnen, weißblonden Haare über seine Glatze zu kämmen. Elinor war die einzige Besucherin, für die er sich hübsch machte, aber man konnte es ihm nicht verübeln – selbst wenn sie, gelinde gesagt, nicht ganz seine Altersklasse war.

    »Hallo Romy, wie geht es dir?«, fragte Elinor, als sie zwanzig Minuten später zu meiner Mutter und mir ins Zimmer trat, dicht gefolgt von meinem frisch gekämmten Opa. Ich bemerkte ihn nicht gleich, da er ungefähr einen Kopf kleiner war als sie. Außerdem war da etwas an Elinor, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog, so wie ein Magnet eine Kompassnadel vom Nordpol ablenkt – was den Nordpol übrigens nicht störte. Er genoss es sogar ungemein, ausnahmsweise nicht von allen angeglotzt zu werden.

    »Hallo Elinor«, grüßte ich munter und verschränkte die Arme hinter dem Nacken. »Schön, dich zu sehen. Mir geht’s hervorragend, und dir?«

    Mit einem kleinen Lächeln setzte die Ärztin sich auf einen Hocker neben meinem Bett und legte ihre kühlen Finger an meinen Hals, um meinen Puls zu tasten. Anschließend holte sie ein verknäultes Stethoskop aus ihrer Handtasche.

    »Mir geht’s ausgezeichnet, vielen Dank. Dürfte ich mal bitte?«

    »Aber sicher doch.«

    Mit einem unterdrückten Seufzer zog ich mein Shirt aus der Jogginghose, damit sie das Stethoskop darunterschieben konnte. Während sie mit geschlossenen Augen mein Herz abhörte, nutzte ich den Moment, um in ihrem Anblick zu schwelgen: Ihr Gesicht war oval, ihr Kinn klein und spitz, die Nase gerade und von einigen blassen Sommersprossen überzogen. Sie trug ein schlichtes, türkisfarbenes T-Shirt und einfache Bluejeans, trotzdem sah sie wie eine Tolkien’sche Elbin aus, als ein Sonnenstrahl vom Dachbodenfenster ihre glatten, goldblonden Haare traf. Hätte ich nicht gewusst, dass sie eine examinierte Kinderkardiologin war, hätte ich sie auf Anfang zwanzig geschätzt. Und wie der Rest der Welt konnte auch ich nicht begreifen, weshalb sie noch nicht verheiratet war.

    »Alles in Ordnung, das Herz schlägt ruhig und regelmäßig ohne Nebengeräusche. Der Puls ist mittlerweile auch wieder bei 59.«

    »Gott sei Dank!«, rief meine Mutter mit feuchten Augen, als hörte sie diese Diagnose zum ersten Mal. Opa betrachtete sie etwas befremdet, zeigte aber sonst keine Gefühlsregung.

    »Ich glaube, wir sollten die Betablocker-Dosis wieder senken«, überlegte Elinor, während sie ihr Stethoskop einpackte. »Wenn wir den Puls zu weit runterdrücken, gewinnen wir damit gar nichts. Erstens ist es gefährlich, und zweitens soll Romy ja auch noch etwas Spaß haben können, stimmt’s?«

    Ich grinste breit. »Kann ich das bitte schriftlich haben? Auf einem Rezeptschein mit ärztlichem Stempel und Unterschrift?«

    Alle Anwesenden lachten, und meine Mutter zerzauste mir die Haare. »Ich sehe, jetzt geht es ihr wirklich schon besser. Trotzdem vielen Dank, dass du gekommen bist, Elinor. Und entschuldige den falschen Alarm.«

    Die Ärztin winkte ab. »Kein Problem. Ihr könnt mich jederzeit rufen, wenn etwas ist. Und Romy, nimm ab jetzt morgens nur noch eine halbe Tablette Bisoprolol, okay?«

    Der Rest der Woche verlief nach Schema F: Ich half meiner Mutter bei der Gartenarbeit, telefonierte täglich mit Bibi und bekam zweimal Besuch von ihr, beobachtete Opa beim Schnitzen oder spielte mit mir selbst Schach.

    Vormittags kamen meine Hauslehrer angedackelt, um mir vor meiner Abiturprüfung, die ein knappes Jahr bevorstand, noch ein wenig Schulwissen in den Kopf zu prügeln – wobei ›prügeln‹ nicht das richtige Wort dafür war. Wenn nämlich jemand damit anfing, mir Stress zu machen, schmiss ihn meine Mutter hochkant hinaus.

    »Ich hab dich nicht gerichtlich von der Schulpflicht befreien lassen, damit der Albtraum bei uns zu Hause weitergeht«, pflegte sie zu sagen. Oft kam das aber nicht vor, denn die meisten meiner Lehrer waren solide, gesetzte Herrschaften kurz vor oder sogar schon nach ihrer Pensionierung.

    Herr Müller zum Beispiel, ein kleiner, spindeldünner Mann um die sechzig, schlief während meiner Mathematikstunden regelmäßig ein, sobald ich mit den Übungsaufgaben anfing. Die sehr pummelige, aber mindestens genauso herzige Frau Meigold starrte ständig verstohlen auf meine Pulsuhr und mischte umso mehr deutsche Wörter in unsere englische Unterhaltung, je näher die Ziffer der gefürchteten Hunderter-Marke kam. Ganz zu schweigen von Frau Evers, einer geschätzt hundertjährigen, aber recht rüstigen lateingelehrten Dame, die schon zufrieden war, wenn ich während ihrer Monologe über Vergil und Horaz ergriffen schwieg. Da sie sich dabei ständig wiederholte, war der Lerneffekt gleich null, trotzdem brachte ich es nicht übers Herz, sie bei meiner Mutter zu verpetzen. Ihre fusseligen Wollröcke und ausgeleierten Schnürschuhe ließen mich vermuten, dass ihre Rente nicht gerade üppig zu nennen war.

    Um mein Gewissen zu beruhigen, blätterte ich hin und wieder eigenständig im Lateinbuch, lernte auch die eine oder andere Konjugation und Deklination auswendig. Einen längeren Text hätte ich jedoch nicht übersetzen können. In allen anderen Fächern spielte ich im schwachen bis guten Mittelfeld, aber in Latein war ich wirklich miserabel. Dabei hatte es mir damals, als ich noch zur Schule gegangen war, richtig Spaß gemacht, vor allem, da ich heimlich davon geträumt hatte, es irgendwann verwerten zu können.

    Als kleines Mädchen hatte ich mir immer vorgestellt, eine Heldin wie Sailor Moon, Catwoman oder Supergirl zu sein. Als die übernatürlichen Kräfte ausblieben, sattelte ich auf Feuerwehrfrau, Polizistin und Ärztin um – Berufe, die zwar realistisch, aber für mich genauso unerreichbar waren wie der Superheldentraum. Eine Feuerwehrfrau, die in Ohnmacht fiel, sobald sie vom Brand eingeschlossen war? Eine Polizistin, die umkippte, wenn ein Verbrecher sie mit einer Waffe bedrohte? Eine Ärztin, die das Bewusstsein verlor, wenn ein Patient in Lebensgefahr schwebte? Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, Heldentum und Aufregung gehörten untrennbar zusammen.

    Als ich das begriffen hatte, fügte ich mich in mein Los und stellte mich darauf ein, später einmal einen Beruf auszuüben, der sowohl mein Nervenkostüm als auch das meiner Mutter schonen würde. Irgendetwas in einem Museum oder einer Gärtnerei vielleicht …

    Nur manchmal gestattete ich es mir, wieder in meinen alten Träumereien zu versinken: Wenn ich nachts durch mein Dachbodenfenster in den Himmel sah, auf dem Schoß die Geschichte des Grafen von Monte Christo, der vierzehn Jahre lang unschuldig im Kerker saß.

    2

    Jetzt bist du wirklich verrückt geworden, sagte eine strenge Stimme in meinem Kopf, die auf erschreckende Weise der meiner Mutter ähnelte. Das kann doch nur schiefgehen!

    Die Sonne schwebte hoch am Himmel und verlieh der Wiese vor unserem Haus einen blendenden Glanz. Ich stand im Türrahmen, betrachtete die Stadt im Tal und fühlte mich wie eine Verbrecherin. Es war früher Nachmittag, und irgendwo hinter mir, wahrscheinlich in seinem alten Ohrensessel im Wohnzimmer, hielt Opa friedlich schnarchend sein Mittagsschläfchen. Die üblichen Haushaltgeräusche wie Geschirrklirren, Staubsaugerdröhnen und Schranktürklappern waren verstummt, da meine Mutter vor zwei Tagen mit ihrer Geschichtsklasse eine Studienreise angetreten hatte. Eigentlich hatte sie es absagen wollen, aber ich hatte sie überredet, zu fahren, auch weil ich mir sicher war, dass ein bisschen Tapetenwechsel ihr ganz guttun würde. Nun erkundete sie wahrscheinlich mit einer Horde Elftklässlern die Akropolis und hatte keine Ahnung, wie sehr ich gleich ihr Vertrauen verraten würde.

    Ich konnte mich nicht erinnern, wann genau diese Schnapsidee in mir gekeimt war, aber irgendwann im Tagesverlauf hatte ich zuerst meine Geldbörse, dann mein Handy und schließlich den Grafen von Monte Christo in meine Umhängetasche gepackt. Es war nicht das erste Mal, dass ich so weit gekommen war, doch am Ende hatte ich bisher immer gekniffen – oder war vernünftig geworden, je nachdem, wie man es betrachtete.

    Mit einem tiefen Atemzug griff ich in meine Hosentasche und holte eine kleine, weiße Medikamentenschachtel hervor, die seit anderthalb Jahren in meinem Besitz war. ›Lorazepam 1 mg‹ stand in schlichten, schwarzen Lettern darauf.

    »Sie sind für den Notfall«, hörte ich Elinors ungewohnt scharf gesprochene Worte in meiner Erinnerung. »Die Betablocker halten deinen Puls niedrig, und grundsätzlich reicht das aus. Trotzdem sollst du etwas haben, das dich beruhigt, wenn dich irgendetwas seelisch sehr belastet und aufregt. Wie gesagt, sie sind nur für den Notfall gedacht, nimm sie um Himmels willen nicht regelmäßig ein! Sie machen schläfrig und süchtig und sind auf Dauer nicht gut für dich. Hast du das verstanden?«

    Das hatte ich, so gut, dass die Packung immer noch zugeklebt war. Ich hatte nie Grund gehabt, sie zu öffnen – bis jetzt. Vorsichtig kratzte ich den kreisförmigen Tesastreifen ab, zog ein Blister aus der Packung und stülpte eine weiße, flache Tablette in meine Handfläche. Dann warf ich einen Blick auf meine Pulsuhr: 95 Schläge die Minute. Fünf mehr, und die Uhr würde Alarm geben. Zwölf mehr, und ich lag auf dem Boden wie eine plattgefahrene Kröte. Beides war indiskutabel. Rasch schob ich mir die Beruhigungstablette in den Mund, wo sie sich sofort auflöste. Kaum hatte ich das Zeug hinuntergeschluckt, ging es mir ein wenig besser. Auch die Pulsuhr war dieser Meinung: Sie zeigte eine Frequenz von 79 – absolut sichere Zone. Das musste ein Zeichen des Himmels sein!

    »Also schön, jetzt oder nie.«

    Mit einem endgültigen Klicken zog ich die Tür hinter mir zu und schlenderte über die Wiese den Hügel hinab – zum ersten Mal seit dreizehn Jahren ohne Begleitung oder Fahrradhelm. Mama und Bibi würden ausflippen, wenn sie das wüssten!, dachte ich mit einem Kichern. Natürlich hatte ich Schuldgefühle, aber sie kamen nicht gegen die kribbelige Freude an, die ich empfand, als ich das hölzerne Gartentor hinter mir ließ. Endlich passierte mal etwas! Die Frage war nur, was?

    Als ich die Bungalows im Tal erreichte, blieb ich ratlos stehen und überlegte. Dann fiel mir ein, dass ein paar Häuser weiter eine Straßenbahnhaltestelle war. Ich konnte zum Stadtpark in der Innenstadt fahren und mich dort ein wenig umsehen. Für den Anfang sollte das genügen. Beschwingt und seltsamerweise kein bisschen müde spazierte ich los und hätte am liebsten alle Menschen, die mir entgegenkamen, umarmt. Als ich das gläserne Wartehäuschen der Haltestelle erreichte, hockten dort eine junge Frau in Geschäftsanzug und ein pickeliger Schüler mit weit gespreizten Beinen, die in viel zu großen Jeans steckten. Keiner von beiden beachtete mich. Niemand bot mir einen Sitzplatz an. Langsam wurde ich euphorisch, doch ich hatte es noch unter Kontrolle: 83 Schläge pro Minute, sagte die Uhr.

    Nach fünf Minuten fuhr endlich die Straßenbahn ein. Es war eine von den älteren, kugeligen, etwas muffig riechenden, mit herabhängenden Plastikschlaufen zum Festhalten. Ich begab mich auf einen der hinteren Fensterplätze und ließ mir zufrieden die Sonne auf die Nase scheinen. Was für ein schöner Tag! Als die Bahn sich in Bewegung setzte, zog ich den Grafen von Monte Christo aus meiner Tasche und warf sicherheitshalber einen Blick über meine Schulter. Der einzige Fahrgast in meiner Nähe war ein breitschultriger Mann in blau-weiß kariertem Hemd, der zwei Reihen vor mir saß. Niemand nahm Notiz von mir, und als ich mit dem Po etwas nach vorne rutschte, konnte mich auch niemand mehr sehen. Wohlig seufzend strich ich mit den Fingerspitzen über Edmond Dantes’ lächelndes Gesicht. Endlich frei …

    Eine kühle nach feuchter Erde duftende Brise streifte mich. Fröstelnd strich ich mir über die nackten Oberarme und blinzelte benommen. Hatte ich etwa das Fenster offen gelassen? Mit einem herzhaften Gähnen streckte ich meinen Rücken durch und stöhnte vor Schmerz. Seit wann war denn mein Bett so unbequem? Und warum roch das Laken, als hätte eine besoffene Räuberbande darauf geschlafen?

    Plötzlich durchzuckte es mich mit siedender Hitze: Das ist nicht mein Bett! Ich fuhr hoch. Neben meinen Füßen klapperte es dumpf, als der Graf von Monte Christo von meinem Schoß rutschte, doch ich nahm es kaum wahr. Mit steigender Panik lugte ich über die mit braunem Stoff bezogene Plastikrückenlehne vor mir. Die blau-weiß karierten Schultern waren verschwunden. Und damit nicht genug … Die ganze Straßenbahn war wie leergefegt. Sämtliche Türen standen offen, und der Durchzug ließ die herabhängenden Halteschlaufen im Licht der Deckenlampen hin und her pendeln.

    Als ich zur Seite blickte, starrte mir ein Schreckgespenst mit zerzausten weizenblonden Haaren, herzförmigem Gesicht und weit aufgerissenen dunklen Augen entgegen. Glücklicherweise entpuppte es sich als meine eigene Visage, die sich im Fensterglas spiegelte. Böses ahnend näherte ich die Stirn der Scheibe an, um erkennen zu können, was dahinter war – und erlitt einen weiteren Schock.

    Vom Tageslicht war nur noch ein schmaler orangener Streifen am Horizont übrig geblieben. Der restliche Himmel war kobaltblau und bereits mit einzelnen Sternen bestückt. Darunter erstreckte sich ein gepflügtes Feld, soweit das Auge reichte. Wo war ich? Wie lange hatte ich geschlafen? Und vor allem: Wie hatte ich so dämlich sein können, in einer solchen Situation einzudösen?

    Plötzlich fiel es mir ein: das Beruhigungsmittel! Die Wirkung musste in der Straßenbahn eingesetzt haben. Aber was hatte dann dieses beschwingte, sorglose Gefühl bei meinem Aufbruch verursacht? Sowas nennt man Placebo-Effekt, du Trottel! Entnervt schlug ich mir gegen die Stirn. Ich hätte es wissen müssen! Meine Mutter und

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