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Ein Hauch von Vorgestern: Märchen
Ein Hauch von Vorgestern: Märchen
Ein Hauch von Vorgestern: Märchen
eBook398 Seiten5 Stunden

Ein Hauch von Vorgestern: Märchen

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Über dieses E-Book

Ein trüber Novembertag im Prinzenpark: Kirsten läuft sich ihren Ärger (über ihren Freund, ihren Alltag und ihre eigene Nachgiebigkeit) von der Seele und trifft auf einen sehr, sehr merkwürdigen Mann, der in der Mode von 1800 gekleidet ist und seiner Umgebung eher ratlos gegenübersteht. Aus Mitleid nimmt sie ihn mit zu sich und ist in der Folge rund um die Uhr damit beschäftigt, ihren merkwürdigen Besucher vor den Tücken der Moderne zu bewahren, die ihr dadurch selbst erst so richtig bewusst werden. Sämtliche - den Lesen bereits bekannten - Freunde werden ebenfalls in die Betreuung des seltsamen Besuchers eingespannt. Und dass dieser ihr näher steht als zunächst vermutet, stellt sich erst im Verlauf dieser mehr als anstrengenden Woche heraus.
*** Kein Krimi, eher ein romantisches Märchen! ***
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum1. Aug. 2015
ISBN9783737554282
Ein Hauch von Vorgestern: Märchen

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    Buchvorschau

    Ein Hauch von Vorgestern - Elisa Scheer

    Imprint

    Ein Hauch von Vorgestern. Roman

    Elisa Scheer

    ISBN 978-3-7375-5428-2

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright: © 2015 Elisa Scheer

    Samstag

    Ich weiß, wenn ich diese Geschichte jemals außerhalb meines Bekanntenkreises erzähle, lande ich in der Psychiatrie oder werde behandelt wie jemand, der behauptet, von einem UFO entführt worden zu sein. Aber irgendjemandem muss ich das alles erzählen, sonst platze ich noch.

    Das Ganze begann am zehnten November. Draußen war es kalt und neblig, es hatte am Vortag sogar ein bisschen geschneit. Es war Samstagvormittag und wie meistens am Wochenende war ich bei Sebastian. Ich freute mich auf ein gemütliches Wochenende, das schlechte Wetter schrie ja geradezu nach Kuschelrock. Diese dämliche alte Seminararbeit vom letzten Semester konnte ich zwischendurch fertig schreiben, alles Nötige hatte ich schließlich in der Tasche. Danach müsste ich für meine Magisterprüfung keinen einzigen Schein mehr machen, hatte ich nach sorgfältigem Sortieren und Abheften der bisherigen Beute festgestellt.

    Sebastian kam ins Wohnzimmer, wo ich faul auf dem Sofa lag und wenig überzeugend so tat, als läse ich mir einen kopierten Artikel über die Schleswig-Holstein-Krise 1865/66 durch.

    „Na, Schatz?" Er setzte sich auf die Sofakante und küsste mich flüchtig. Ich lehnte mich genießerisch an ihn. Sebastian roch immer so gut, ein bisschen nach Rasierwasser, ein bisschen nach Äpfeln und ein bisschen nach sich selbst.

    „Nachher schaut der Willi auf einen Sprung vorbei, ist das okay?"

    „Natürlich", antwortete ich erstaunt. Das war doch Sebastians Wohnung, und er konnte einladen, wen er wollte! Außerdem neigte ich nicht zu zänkischem Verhalten, nicht wie Sissy, eine Kommilitonin von mir, die ihren Freund so lange gepiesackt hatte, bis er mit ihr Schluss gemacht hatte. Das konnte man wohl nicht zur Nachahmung empfehlen, lieber pflegte ich weiter mein friedfertiges Image. Sebastian verließ das Zimmer wieder und ich wandte mich unlustig meinen Kopien zu. Wenn ich den Quatsch nicht noch fertig schreiben müsste... Wenn dieser doofe Willi nicht käme (natürlich war es mir nicht recht, er nervte mich immer und ging ewig nicht wieder)... Wenn Sebastian später nicht Fußball gucken müsste...  – dann könnten wir ein wirklich heißes Wochenende verbringen, wie schon länger nicht mehr. Was stand da? So ein Blödsinn, na, das könnte man wenigstens in der Arbeit genüsslich in der Luft zerreißen! Ich arbeitete etwa eine Stunde, zwar nicht glücklich, aber doch recht zufrieden mit der Situation, als es klingelte. An der dröhnenden Stimme im Flur erkannte ich schon, dass Willi da war.

    „Alter Schwede!" Immerzu schlug er Sebastian auf die Schulter, der Prolet. Ich verzog auf meinem Sofaplatz das Gesicht und hörte weiter zu.

    „Na, das Leben noch frisch? Ist heute stille Häuslichkeit angesagt? Wir müssten mal wieder richtig einen draufmachen!" Eine Plattheit an der anderen, und jetzt kamen bestimmt die glorreichen Erinnerungen an noch nicht allzu weit vergangene Megaräusche.

    „Weißt du noch, damals im Hacke & Dicht? Junge, waren wir breit! Scharfer Abend, was?"

    Von Sebastian kam nur undeutliches Protestgemurmel. Ich grinste still vor mich hin. Sebastian hatte mir die Geschichte erzählt: Er war zwar ziemlich abgefüllt gewesen, aber den guten Willi hatte die Polizei mitgenommen, weil er wildfremden Leuten weinend um den Hals gefallen war und weder irgendeinen Ausweis bei sich hatte noch sich erinnern konnte, wie er hieß. Außer Django zahlt  nicht, Django hat Monatskarte war aus ihm nichts mehr herauszubringen gewesen, und was das mit dem Heulkrampf zu tun haben sollte... Mir wäre es ja peinlich gewesen, immer wieder auf einen derartigen Totalausfall angesprochen zu werden, aber Willi war ungemein stolz darauf. Willi, die gute Seele, wie Mama sagen würde – wenn sie jemals von ihm gehört hätte – so ein Trottel, aber im Bedarfsfall ein durchaus guter Freund. Wie er Sebastians Umzug geregelt hatte... Okay, bis auf die Sache mit dem Geschirr, aber Sebastian hatte ohnehin mal neues gebraucht.

    Die beiden kamen herein. Sebastian ein kleines bisschen verlegen, wie immer, wenn Willi so herumdröhnte, Willi selbst in strahlender Laune. „Hallo, kleine Maus!"

    „Hallo", grüßte ich etwas kühl zurück. Ich war weder klein noch eine Maus, aber was sollte ich schon sagen? Dass einem die coolen Sprüche auch immer erst hinterher einfielen! Willi plumpste schwer in einen Sessel und zog eine Havanna aus der Tasche. Das war so typisch: Ohne zu fragen, qualmte er einem die Bude voll, aber er war auch begeistert bei der Sache, wenn diese Bude dann frisch gestrichen werden musste. Ein herzensguter Trampel eben.

    Sebastian bemerkte wohl mein etwas unglückliches Gesicht – oder er wollte mit Willi etwas besprechen und mich loswerden, jedenfalls druckste er etwas herum und fragte dann: „Sagt mal, Kirsten, könntest du mir nicht schnell zwei Druckerpatronen besorgen gehen? Einmal schwarz, einmal bunt?"

    Ich erhob mich gehorsam. „Wenn du das möchtest... Im Uni-Lädle?"

    „Nein... da kosten sie fast zehn Mark pro Stück mehr als in der Stadt. Wenn es dir nichts ausmacht...?"

    Klar machte es mir was aus, durch Kälte und Nebel zur U-Bahn, durch das Samstagsgewühl in der Stadt, hinauf in den obersten Stock zur Kleinelektronik, Schlange stehen... Und ich brauchte eigentlich gar nichts in der Stadt! Wie immer lächelte ich aber freundlich. „Kein Problem. Brauchst du sonst noch was?" Es gelang mir nicht einmal, der Frage einen wenigstens leicht drohenden Unterton zu verleihen.

    „Also, wenn du schon so fragst... Für diese Exkursion nächste Woche, einen Stadtplan von Magdeburg. Und blaue Füllerpatronen!"

    „Drucker, Tinte, Stadtplan", rekapitulierte ich dienstfertig und nahm zweihundert Mark entgegen. Immerhin erwartete er nicht, dass ich die teuren Druckerpatronen auch noch auslegte! Aus dem Augenwinkel registrierte ich Willis verblüfftes Gesicht, als ich das Zimmer verließ, um den Mantel anzuziehen und nach meiner Umhängetasche zu greifen. Was schaute er denn jetzt wieder so blöde?

    Draußen war es noch kälter, als ich gedacht hatte, und ich ärgerte mich, dass ich keine Handschuhe dabei hatte. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, schritt ich flott aus, Richtung U-Bahn.  Schon auf der Rolltreppe sah ich, wie die U-Bahn einfuhr und galoppierte die Treppe hinunter. Fast hinunter, ein eng umschlungenes Pärchen versperrte mir den Weg. Alles höfliche Räuspern nützte nichts, sie verließen die Rolltreppe in aller Seelenruhe, weiterhin engumschlungen, und wandten sich der anderen Bahnsteigseite zu. Ich hechtete in Richtung der ersten offenen Tür, aber da wurde ich barsch aufgefordert, zurrrückzubleiben, bitte! Mitten im Sprung bremste ich ab, diese Schaffner brachten es ja womöglich fertig, einen in der automatischen Tür einzuklemmen.

    Die Türen glitten zu, der Zug surrte aus dem Bahnhof und ich plumpste ärgerlich auf einen der Drahtgeflechtsitze neben der Fahrplanvitrine. Mist! Blöde U-Bahn! Blöder Samstag! Blöder Willi!

    Quatsch: blöde Kirsten! Warum trabte ich wie eine brave Magd in die Stadt? Warum setzte Sebastian mich an die Luft, bloß um mit diesem Willi von alten Besäufnissen zu schwärmen? Obwohl – das war Willi allein, Sebastian selbst hatte eigentlich kein Bedürfnis, nostalgisch daran zurückzudenken.

    Und heute fuhr sie auch nur alle zehn Minuten! Das Liniennetz kannte ich auswendig, das musste ich nicht schon wieder betrachten. Ich stand auf und schritt den Bahnsteig auf und ab, zunächst die Fliesen zählend, dann guckte ich den Mäusen zu, die auf den Gleisen wohnten. Immer noch ärgerte ich mich, vor allem über mich selbst: dass ich mich hatte wegschicken lassen, dass es mir nicht gelungen war, dieses Pärchen von der Rolltreppe zu schubsen, dass ich überhaupt – was war? Zu nachgiebig? Friedfertig? Lahmarschig? Harmoniesüchtig? Endlich fuhr die nächste Bahn ein und ich ergatterte wenigstens einen Stehplatz. Alle Welt fuhr schon mal nach Weihnachtsgeschenken gucken, so schien es wenigstens. Mit allen Massen wälzte ich mich in der Innenstadt aus der U-Bahn, die Rolltreppe hinauf, auf den Marktplatz und ins Kaufhaus.

    Im fünften Stock ging es zu, als gäbe es etwas umsonst. Es dauerte alleine zehn Minuten – ungelogen! – bis ich mich zu dem Regal mit den Druckerpatronen durchgekämpft hatte. Schwarz gab´s reichlich, in Bunt hing nur noch eine da, und als ich gerade danach greifen wollte, wurde über meine Schulter hinweg eine Hand ausgestreckt und pflückte die Verpackung vom Haken. Empört drehte ich mich um, aber der Arm samt Patrone und zugehörigem Rest war schon auf dem Weg in die Kassenschlange. Arschloch, dachte ich mir, anstatt es laut zu sagen, und reihte mich mit der anderen Patrone ebenfalls in die Schlange ein. Würde Sebastian von mir erwarten, dass ich noch andere Läden abklapperte, um eine bunte Patrone aufzutreiben? War ich denn wahnsinnig, darüber auch nur nachzudenken? Nachher kosteten sie anderswo nur mehr! Endlich konnte ich meine Patrone der Kassiererin vorlegen und zückte die Geldbörse, als ich beiseite geschubst wurde.

    „Ich hab´s eilig!" An mir vorbei wurden drei preisreduzierte CDs vor die Kassiererin geschoben, die ganz verdattert den Scanner darüberzog. Ich starrte den Kerl – mittlere Jahre, Dutzendgesicht, speckiger Trenchcoat – mit offenem Mund an. Zu sagen wusste ich nichts, wie immer.

    Er zahlte, bemerkte dann meine Verblüffung, sagte „Mach den Mund zu, es zieht", und schob sich grob an mir vorbei. ich versuchte noch ihn zu treten, aber er war schon weg. Dieses Mal murmelte ich das Arschloch wenigstens hörbar, aber nur die Frau hinter mir in der Schlange hörte es und konterte mit Sackgesicht.

    „Weiß Gott, ja, antwortete ich erfreut, „so schön war Mr. Wichtig nun wirklich nicht. Ich zahlte, nickte der mitfühlenden Seele freundlich zu und kämpfte mich wieder zur Rolltreppe durch. Schreibwaren, Stadtplan.... im Erdgeschoss, ganz weit weg von den Rolltreppen. Ganz unten fiel mir das ein, was mir an dieser Stelle immer – und immer zu spät – einfiel, nämlich, dass man auch den Lift nehmen und viel Zeit sparen konnte.

    Tinte gab´s, natürlich, den Stadtplan aber nicht: Alles war da, nur Magdeburg war aus. Das würde Sebastian nie glauben, also trabte ich noch in die Buchhandlung gegenüber und kaufte den Stadtplan dort. Im Vorbeigehen sah ich zwei reizvolle romantische Romane, aber ich beherrschte mich eisern. Weniger aus Geiz, wenn ich ehrlich war, aber der Gedanke, dass ich nur wegen Sebastian und auch nicht das kleinste bisschen für mich selbst diese Tortur in der Stadt auf mich genommen hatte, gab mir das Recht, mich edel zu fühlen und mir auch reichlich selbst Leid zu tun. Ich kehrte zu Fuß in die Emilienstraße zurück – noch mehr Elend, denn mein linker Schuh hatte ein Loch – und bedauerte mich mit Hingabe. An einer Ampel wäre ich noch beinahe von einer rabiaten Mutter mit ihrem Zwillingskinderwagen überfahren worden, an der nächsten ignorierte mich ein Rechtsabbieger. Als er schließlich doch noch bremste, kehrte ich demonstrativ auf meine Straßenseite zurück und signalisierte ihm, dass ich ihm nicht traute. Kopfschüttelnd fuhr er wieder an und ich musste in einer Pfütze warten, bis die Ampel wieder auf Grün umsprang.

    Manchmal war ich schon recht dämlich, musste ich zugeben, als ich in Sebastians Straße einbog. Niemand fühlte sich angesichts meines Leids schuldbewusst, sie fanden mich höchstens seltsam. Hoffentlich ging es Sebastian nicht auch so! Wie sollte ich gucken, wenn ich in die Wohnung kam? Vergnügt nach einem erfrischenden Spaziergang? Stoisch angesichts seiner Ansprüche? Verärgert über Willis Zigarrenqualm? So, als wäre gar nichts gewesen?

    Die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn die beiden hörten mich nicht hereinkommen. Ich vernahm zwar die Stimmen aus dem Wohnzimmer, aber die Unterhaltung lief einfach weiter.

    Einen Moment lang stand ich im Flur und versuchte etwas zu verstehen, aber während Willis Äußerungen so deutlich zu hören waren, als halte er sich ein Megaphon vor den Mund, kam von Sebastian nur unverständliches Gemurmel. Leise hängte ich meinen Mantel auf und arrangierte meine Einkäufe auf der Kommode im Flur.

    „Ich verstehe bloß nicht, wie du das aushältst", dröhnte Willi.

    Ein undefinierbares Geräusch war die Antwort.

    „So spannend wie eingeschlafene Füße!"

    Erneute gedämpfte Laute. „Der reinste Fußabtreter, finde ich. Etwas mehr Pep wäre dir ja schon zu wünschen!"

    Wovon sprachen die denn eigentlich? Die Sache begann mich zu interessieren. Wenn es mir gelang, ungehört in die Küche zu kommen, konnte ich das vielleicht herausbekommen. Ich schlich mich durch die Tür; jetzt war nur noch eine dünne Wand zwischen mir und dem Männergespräch, das mich genau genommen gar nichts anging. Aber neugierig war ich eben doch.

    „... eben so!", beendete Sebastian gerade seinen Satz.

    „Und damit willst du dich abfinden? Sie ist ja ganz nett soweit, aber hat sie dir schon jemals widersprochen?"

    Die sprachen doch nicht etwa von mir? Das wäre ja wohl die Höhe! Ich schichtete das überall herumstehende Geschirr völlig lautlos ins Spülbecken und sperrte weiterhin Riesenlauscher auf. „Nein", gab Sebastian gerade zu.

    „Eben! So kann man doch keine Diskussionen führen! Willst du eine Partnerin oder eine Sklavin?"

    „Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein wäre mir schon ganz Recht", gab Sebastian tatsächlich zu, und ich sammelte den Müll in die diversen Tüten, während ich innerlich schäumte, mehr als das Spülmittel, weil ich ja das Wasser nicht aufdrehen konnte, ohne dass sie mich hörten.

    „Und richtig munter im Bett ist sie wohl auch nicht, was?"

    Jetzt wurde Willi aber wirklich unverschämt! Das ging ihn doch gar nichts an! Na, Sebastian würde mich schon verteidigen und ihm sagen, dass er seine Nase nicht in unsere Beziehung zu stecken hatte!

    „Da hast du leider auch Recht, hörte ich ihn – so viel zu seiner Verteidigung! Ungläubig lauschte ich weiter. „Etwas passiv ist sie tatsächlich, und ich weiß nie so genau, ob sie eigentlich auch ihren Spaß hat. Sie sagt ja nichts! Was soll ich denn tun?

    Das Aller-allerletzte! Er holte sich bei dieser Schiffssirene, diesem Riesentrampel, Ratschläge in Liebesdingen? Was war plötzlich in Sebastian gefahren? Und was ging es diesen lauten Lümmel an, ob ich im Bett auf meine Kosten kam? Meistens war das nicht der Fall, musste ich im Stillen zugeben. „Weiß ich auch nicht. Vielleicht ist sie nicht die Richtige für dich. Für mich wär sie´s jedenfalls nicht. Was sollte ich mit so einem Fußabtreter?"

    Sebastians Antwort darauf blieb mir erspart, denn in diesem Moment fiel mir einer der Teller scheppernd ins Spülbecken, und drüben wurde es still. Ich drehte zornig das Wasser auf und begann abzuspülen. Als die Küchentür sich öffnete, konzentrierte ich mich krampfhaft auf den Schaumberg vor mir und schrubbte die tagealten Teller mit möglichst großem Aufwand an Lärm und Kraft.

    „Kirsten, du bist schon da?" Klang das wenigstens ängstlich? Hoffte er, ich hätte nicht gehört, wie er mich verraten hatte? Sprach mit diesem unsäglichen Willi übers Bett!

    „Ja. Deine Aufträge hab ich so weit möglich erfüllt, alles liegt auf der Kommode."

    „Und was hast du für dich gekauft? Ideal, das war das Stichwort! Ich setzte eine Miene bescheidenen Erstaunens auf und drehte mich um. „Für mich? Nichts, warum sollte ich?

    „Aber wenn du schon in die Stadt fährst?"

    „Ich brauchte doch gar nichts, ich war nur wegen deiner Patronen in der Stadt. Übrigens, in Farbe waren sie leider aus." Er musterte mich mit ratlosem Gesicht, Hatte er das Gefühl, mir bitter Unrecht getan zu haben (hoffentlich!) oder überlegte er bloß, ob Willi Recht hatte, wenn er riet, mich abzustoßen (hoffentlich nicht!). Ich erwiderte seinen Blick und wusste auch nicht genau, was ich fühlte. War ich sauer? Verletzt? Hatte ich Angst, dass er Schluss machte? Er war doch eigentlich ein netter Kerl, nur Willi verleitete ihn immer, Willi, der Arsch! Wut wallte wieder in mir hoch, aber ich wollte sie Sebastian nicht zeigen. Willis Taktik wurde mir plötzlich sonnenklar: Ich sollte toben und keifen, und dann konnte er Sebastian raten, sich eine weniger lästige Person zu suchen, wetten?

    „Danke", antwortete Sebastian unentschlossen.

    „Keine Ursache. Übrigens, ich müsste nachher doch die Seminararbeit fertig schreiben, mir ist vorhin eingefallen, dass sie nächste Woche schon fällig ist. Du bist sicher nicht böse, wenn ich nach dem Abspülen nach Hause fahre, oder? Willi ist doch noch da, oder?" Sehr subtil – so hatte ich gleich gezeigt, dass ich nichts gehört hatte. Und ich konnte gleich gehen und mich in Ruhe über diese miesen Kerle ärgern!

    „Ja, der sitzt drüben, antwortete Sebastian erstaunt, „aber ich finde es schon schade, dass du nicht bleiben kannst. Morgen kommst du aber wieder – oder heute Abend?

    Ich stellte den letzten Teller ins Trockengestell, zog den Stöpsel aus dem Becken und zuckte bemüht lässig die Schultern. „Weiß ich nicht, das hängt davon ab, ob ich mit dieser Arbeit fertig werde."

    „Hast du was?" Jetzt sollte ich ihm deutlich sagen, worüber ich mich so geärgert hatte, dass ich erst einmal alleine sein musste, aber wie immer konnte ich das nicht. Was, wenn ich zu toben und zu keifen anfing? Das hatte ich zwar noch nie getan, aber so, wie es in mir brodelte, konnte man nie wissen. Also schluckte ich alles herunter.

    „Nein, nur eben diese dämliche Arbeit. Mein letzter Schein vor dem Magister! Und mit der Magisterarbeit sollte ich auch allmählich anfangen... Viel Spaß euch beiden noch, und sauft nicht zuviel!"

    Ich ergriff meine Tasche und machte mich auf in Richtung Tür. Sebastian sah mir kopfschüttelnd nach, bemerkte ich, als ich mich noch einmal umdrehte.

    Kaum stand ich auf der Straße, wallte die Wut wieder in mir hoch, dieses Mal auf mich selbst. Wieso hatte ich nicht sagen können Ich verbitte es mir, dass ihr über mein Verhalten im Bett diskutiert? Nein, ich schlich wie ein geprügelter Hund davon. Willi hatte eigentlich Recht, ich war ein Fußabtreter, der für Sebastian Besorgungen machte, seine Küche aufräumte und ihm nachts zu Willen war. Was hatte ich eigentlich von dieser Beziehung?

    Blöde Frage! Wollte Sebastian eigentlich, dass ich mich so verhielt? Seinen kaum verständlichen Äußerungen zufolge eher nicht. Aber er konnte sich doch keine Szenen wünschen! Ich trottete die Emilienstraße entlang und schlenkerte meine Tasche, in der sich in Wahrheit alles befand, was ich für diese Seminararbeit brauchte. Ich wollte gar nicht nach Hause. Das miese Wetter – der Nebel wurde immer dichter – entsprach so genau meiner Stimmung, dass ich beschloss, erst einmal ein bisschen spazieren zu gehen und dabei meinen Ärger abzureagieren.

    Ich vermied die Straßen mit den schönen Läden und passierte in der Katharinenstraße die nebel- und regenfeuchte Hinterfront der Uni, in der heute auch keiner war – die Bibliotheken hatten um ein Uhr geschlossen. Überhaupt war alles leer, es gab sogar freie Parkplätze. Hinreißend trübsinnig, fand ich, fast die richtige Szenerie für Totensonntag, aber da waren es noch zwei Wochen hin. Und der Nebel war mittlerweile so dicht, dass man kaum noch die rote Ampel an der Kreuzung zur Graf-Tassilo-Straße sehen konnte. Zauberhaft! Meine üble Laune verflog allmählich – wenigstens so lange, bis mir wieder einfiel, warum ich an einem freien Samstag im November alleine durch die Straßen strolchte, anstatt mit Sebastian auf dem Sofa zu liegen, fernzusehen und ein bisschen herumzuknutschen. Man müsste diesen unsäglichen Willi im Nebel in den Prinzenbach schubsen, überlegte ich, das würde ihn endlich mal zum Schweigen bringen! Hatte er für Sebastian schon eine tollere Frau an der Hand, oder warum sonst war er so scharf darauf, uns auseinander zu bringen? Schöner Freund, wirklich! Und ich hatte ihm nie etwas getan!

    Prinzenbach... der Prinzenbach floss natürlich quer durch den Prinzenpark. Dort musste es heute besonders gespenstisch sein, gerade die richtige Szenerie für meine Weltuntergangsstimmung! Ich überquerte die Straße, nachdem ich die Fußgängerampel mühsam in den Nebelschwaden ausgemacht hatte, und bog zum Prinzenpark ab. Interessante neue Optik – entgegenkommende Fußgänger, viele waren es ohnehin nicht, tauchten erst ganz spät plötzlich vor einem auf, als materialisierten sie sich plötzlich vor einer Wand. Zuerst erschrak ich ein paar Mal, dann gewöhnte ich mich daran und studierte das Phänomen interessiert.

    Tatsächlich betrat man den Prinzenpark, als schreite man in einen Ballen grauer Watte hinein. Unscharf waren die nassen, kahlen Zweige der Bäume zu sehen, die im Herbst, bunt belaubt, noch einen so hinreißenden Anblick geboten hatten, dass die Touristen sie begeistert fotografiert hatten. Ich schlenderte langsam dahin, immer in Richtung auf das Palais Leopold, das am hinteren Ende des Parks stand, und bedauerte, dass ich keinen Fotoapparat dabei hatte. Das vergammelte Schlösschen im Nebel – ein wunderbares Motiv müsste das sein, schade!

    Kein Mensch war zu sehen. In einem Gruselfilm müsste jetzt etwas Unaussprechliches auf mich zukommen, aber Halloween war glücklicherweise schon vorbei, und allen bösen Buben war sicher das Wetter zu schlecht. Persönlich kannte ich ohnehin keine Schurken – anders als meine arme Schwester.

    Anna hatte es im Sommer fertig gebracht, sich in einen echten Sadisten zu verlieben, der noch dazu Handlanger eines Verbrecherkönigs war. Wenn ihre beste Freundin Xenia und deren Freund Magnus – ach, heirateten die nicht ausgerechnet heute? – nicht fleißig hinter den Verbrechern her geschnüffelt hätten, wer weiß, ob Anna dann überhaupt noch lebte? Sie hatten sie so ziemlich im letzten Moment gefunden, und Anna war seitdem erheblich gedämpfter als früher, wo sie eher als durchgeknallte femme fatale aufgetreten war. Sie sah zwar überhaupt nicht fatal aus, blond, schmal und sportlich, ähnlich wie ich, aber sie hatte einen gewaltigen Männerverschleiß gehabt. Xenia mit den wilden dunkelroten Locken und der eindrucksvollen Statur wirkte viel gefährlicher und war dabei völlig harmlos, was Männer betraf. Und nett, fand ich. An Annas Krankenbett hatten wir uns gut verstanden. Hatte ich eigentlich -? Ja, ich hatte zur Hochzeit gratuliert und ihnen etwas geschenkt. Zuerst hatte ich an eine Kinder-Detektiv-Erstausstattung gedacht (karierte Kappe, Riesenlupe und so), um die beiden zu ärgern, aber mich dann doch, Xenias Wunsch entsprechend, an eine Kleinigkeit von der Liste gehalten. Das Fest sollte nächsten Samstag sein, wenn ich es richtig aufgeschrieben hatte.

    Wie war ich denn jetzt auf Anna, Xenia und Magnus gekommen, überlegte ich, als der marode Säulenvorbau des Palais Leopold sich aus dem Nebel schälte. Ach ja, geheimnisvolle Szenerie – Verbrecher. Ich schob diese Gedanken beiseite und näherte mich dem Palais. Hinter dem Säulenvorbau konnte man jetzt auch die ehemals rosafarbenen Mauern erkennen, der Putz war allerdings größtenteils abgeplatzt und zeigte das nackte Mauerwerk. Hier müsste man mal renovieren... Wem gehörte die kleine Bruchbude eigentlich? Der Stadt? Der ehemaligen Herrscherfamilie? Der Schlösser- und Seen-Verwaltung? Und konnte man daraus nichts machen? Es war doch jammerschade darum!

    Ich stand eine Zeitlang vor der entzückenden Fassade und umrundete das Schlösschen dann langsam, weil ich noch nie die Rückseite gesehen hatte. Wahrscheinlich gab sie gar nichts her... Nein, sie war ebenso reizend, mit einer verwitterten Terrasse und den entsprechenden bodentiefen Fenstern, leeren Oleanderkübeln, einigen zerbrochenen Steinstufen, die von der Mitte der Terrasse in den dahinter liegenden Parkteil führten, großen, offenbar mächtig ins Kraut geschossenen Bäumen, bei deren Anblick mir leider wieder Willi einfiel, und einem kleinen, ziemlich ausgetrockneten Teich. Hier musste es vor etwa zweihundert Jahren im Sommer doch traumhaft gewesen sein – wenn man nicht gerade zum Personal gehörte oder auf dem Weg ins Armenhaus hier vorbeihumpelte (Hauptseminar Sozialstruktur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, letztes Wintersemester).

    Ich setzte mich auf die steinerne Terrasseneinfassung; kaputtzumachen war hier ohnehin nichts mehr. Morgen würde ich mit der Kamera hierher zurückkommen, ganz bestimmt. Durch die kahlen Bäume hörte man ganz leise das Rauschen der Autos auf der Kirchfeldener Landstraße, die erst weiter nördlich nach Kirchfelden abbog, aber dieses diskrete Geräusch fiel einem nach wenigen Minuten gar nicht mehr auf.

    Still war es hier, von dem leisen Surren abgesehen, nur ab und zu tropfte etwas kondensierter Nebel von den Zweigen. Mein Hinterteil fühlte sich allmählich kalt an, aber die Szene gefiel mir so gut, dass ich sitzen blieb, bis ich mich wirklich ganz steifgefroren fühlte. Dieser Mantel war wirklich nicht mehr warm genug!

    Mühsam stand ich schließlich auf und umrundete das Schlösschen wieder. Vor der Fassade stand jemand. Noch ein Nebel-Spaziergänger? Ich ging auf ihn zu und wollte zurück auf den Spazierweg, der zum Ausgang Graf-Tassilo-Straße führte, aber ich musste ihn fasziniert betrachten: Hatte der einen tollen Mantel an! Fast bodenlang, mit drei Schulterkragen übereinander, darunter wurden blank polierte Stiefel sichtbar. Ein bisschen, als sei er einem Roman von Georgette Heyer entsprungen – zumindest kannte ich solche Mäntel nur daher.

    Der Mann trug keinen Hut und die kurzen hellen Locken passten zu diesem Mantel, fielen aber nicht so auf wie dieser, der Frisur fehlte diese eigenartige historische Nuance. Ein Fan von Kostümfilmen vielleicht, oder ein Statist, der den Drehort nicht fand – oder jemand, der nicht bedacht hatte, dass der Fasching offiziell erst morgen begann. Mir fiel noch eine vierte Möglichkeit ein, die allerdings besser nach Wien gepasst hatte, wo man überall auf Kniehosenträger traf – vielleicht warb er für ein Museum, ein Konzert oder sonst ein kulturelles Ereignis und hatte sich entsprechend kostümiert. Mir konnte das ja auch ziemlich gleichgültig sein, überlegte ich, als ich an ihm vorbeischritt.

    „Verzeihung, sprach er mich in diesem Moment an, und ich blieb stehen und sah ihn misstrauisch an. Ein Triebtäter, bei diesem Wetter? Vielleicht hatte er auch zu viele Edgar-Wallace-Filme gesehen, und der Nebel törnte ihn noch an? „Ja?

    „Darf ich Sie etwas fragen, mein Fräulein?" Huch, wo hatten sie den denn rausgelassen?

    „Ja, bitte?" Auf einen Vortrag zum Thema Frau oder Fräulein hatte ich jetzt keine Lust – und wie üblich auch nicht den Mut. „Wo sind wir hier?"

    Ich sah ihn etwas verwundert an. Der schien ja ordentlich von der Rolle zu sein! Hatte man ihn hier ausgesetzt? „Im Prinzenpark natürlich, direkt von dem Palais Leopold."

    Er nickte und sah befriedigt aus. „Das dachte ich mir. Das Palais scheint mir freilich in einem recht traurigen Zustand zu sein."

    „Naja, es ist schon ganz schön alt, und die Stadt oder wem immer es gehört, hat anscheinend noch keinen sinnvollen Verwendungszweck dafür gefunden, verteidigte ich das arme Schlösschen. Eigenartig, ich hatte doch gerade selbst über diese Frage nachgedacht! „Wird es denn nicht bewohnt?

    Seltsame Vorstellung! „Wer sollte es bewohnen? Wahrscheinlich sind die Installationen aus dem 18. Jahrhundert, wem kann man das denn heute zumuten? Und dann ist es sicher so schlecht isoliert, dass

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