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Tot im Wohnwagen: Kriminalroman
Tot im Wohnwagen: Kriminalroman
Tot im Wohnwagen: Kriminalroman
eBook313 Seiten4 Stunden

Tot im Wohnwagen: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Die Neubausiedlung Birkenried (vgl. Eine schwierige Familie) ist noch eine Großbaustelle, aber in der Fontaneallee, wo einige vergammelte Wohnwagen stehen, breitet sich ein ekelerregender Gestank aus. Nele Garbrecht, eine der ersten Bewohnerinnen in diesem Bauabschnitt, beschwert sich deshalb und tatsächlich findet die Polizei in einem der Wohnwagen eine schon etwas ältere Leiche.
Bei einer Leiche bleibt es aber nicht und Nele beginnt zu fürchten, man könnte über sie eine Verbindung zwischen den Fällen konstruieren. Schließlich aber gelingt es dem Team um Anne Malzahn, beide Morde aufzuklären - wobei Anne sich fragt, warum in einem der Fälle frühere Ermittlungen nirgendwohin zu führen schienen.
Nele wird so nicht nur entlastet, sie kommt auch einem Kollegen im Sellinger Bürgerzentrum etwas näher, so dass sich am Ende alles zum Guten wendet.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum16. Nov. 2019
ISBN9783750253230
Tot im Wohnwagen: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Tot im Wohnwagen - Elisa Scheer

    cover.jpg

    Alles frei erfunden!

    Imprint

    Tot im Wohnwagen. Kriminalroman

    Elisa Scheer

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright: © 2019 Elisa Scheer/R. John (85540 Haar)

    www.elisa-scheer.de

    ISBN 978-3-750253-23-0

    1

    Verdammt, schon fast acht Uhr! Nele eilte die Fontaneallee entlang, die immer noch wie eine Mondlandschaft wirkte. Kriegten die Bauträger die letzte Rate nicht erst, wenn die Außenanlagen fertig waren? Brauchten die das Geld nicht? Alles war voller Schutthaufen und schon wieder halb bewachsener Erdhügel, dazwischen standen Baumaschinen, die man anscheinend vergessen hatte. Weit und breit war kein Bauarbeiter zu sehen.

    Na, vielleicht wurden die erst tätig, wenn sie selbst im Bürgerzentrum Selling saß, und hörten auf, bevor sie nach Hause kam.

    Sie eilte weiter und ärgerte sich sofort wieder: Die Fontaneallee war immer noch komplett zugeparkt und zwar mit ältlichen Wohnwagen. Konnten die Besitzer die blöden rostigen Dinger nicht auf ihrem eigenen Grundstück bunkern? Oder noch besser gleich auf den Schrottplatz bringen, wo die meisten ja sowieso hingehörten? Jedenfalls sahen sie so aus.

    Immerhin, da vorne war die Bushaltestelle – und der Siebener fuhr gerade weg, Mist! Bloß wegen dieser schrecklichen Straße!

    Nein, das war dann doch unfair, sie hatte einfach getrödelt, obwohl sie heute doch vor acht noch die Unterlagen für den ersten Termin fertigmachen wollte. Gut, die Frau kam um halb neun, das schaffte sie noch locker, so lange fuhr der Bus auch wieder nicht zum Bürgerzentrum in der Kölner Straße.

    Aber hier stank es, eindeutig. So ähnlich wie alter Leberkäse, fand sie. Wahrscheinlich hatte jemand seine Brotzeit schon vor Tagen in der Sonne vergessen und jetzt wurde sie zügig wieder lebendig.

    Igitt… sie lief etwas schneller, denn der nächste Bus tauchte schon in der Ferne auf.

    Immerhin fuhren die Busse hier im Fünfminutentakt, sehr lobenswert. Aber die Buslinie war auch die einzige Verbindung zur Stadt – über die Rabenbrücke, durch Henting und die MiniCity und dann nach Selling. Woanders wollten die Birkenrieder wahrscheinlich sowieso nicht hin – und in die City kam man von Selling aus mit praktisch jedem Bus.

    Da konnte man sich eigentlich nicht beklagen, überlegte sie, durch die angelaufenen Scheiben nach draußen starrend, ohne viel wahrzunehmen.

    Überhaupt, wenn man von den stinkenden und Platz raubenden Wohnwagen einmal absah, wohnte sie schön. Ihre neue Wohnung war zwar nicht ganz billig, aber sehr geschickt geschnitten und durch die Smart-Home-Elemente ausgesprochen praktisch.

    Die doofe Urschel Rosa behauptete ja, elektronische Geräte seien Stromverschwendung… Als ob für Papierbücher nicht jede Menge Bäume sterben würden – und zu einer Buchhandlung kam man von Birkenried aus auch nicht ohne Verkehrsmittel, also kamen der Bus oder der Lieferwagen dazu. Digital – kein Gramm Sprit! Wenn man Rosa so etwas vorrechnete, fing sie regelmäßig zu heulen an und rannte dann aus dem Zimmer.

    In Wahrheit konnte sie bloß nicht mit einem Computer umgehen – dieses Geächze und Geseufze, wenn sie einen Fallbericht tippen und Gott behüte an der richtigen Stelle abspeichern musste! Die arme Tanja, die mit ihr in einem Zimmer saß, musste dann meistens einspringen.

    Als der Bus in die Kölner Straße einbog, schreckte sie nun doch aus ihren Gedanken hoch und schlängelte sich zur Tür durch. Puh! Busfahren war eigentlich kein Spaß, aber mit dem Rad war es von Birkenried aus einfach zu weit – und die Straßen auf diesem Weg hatten keine Radwege. Und mit dem Auto? Wo bitte sollte man hier in Selling parken? Vom Carbon Footprint ganz zu schweigen…

    Immerhin war sie früh genug gekommen, um diesen Sanierungsplan noch einmal durchzugehen: Die hoch verschuldete Jenny Meusel war offenbar den online-Casinos verfallen und tröstete sich mit Shopping über ihre desolate Situation hinweg; sie mussten heute zusammentragen, wem alles sie wieviel schuldete, wieviel sie tilgen konnte und wie sie sich das Spielen und das Shoppen abgewöhnen konnte. Verdeckte das irgendwelche anderen Probleme? Partnerschaft? Beruf? Eltern oder Geschwister? War sie wohl schon so süchtig, dass sie eine echte Therapie brauchte?

    Das glaubte Nele eigentlich nicht. Sie fuhr ihren Rechner hoch und stellte gleichzeitig mit der anderen Hand ihre Tasche ab: Handy, Brotzeit, Trinkflasche, Taschentücher, Geld und Einkaufsbeutel.

    Sonja, die sich gerade am Schreibtisch gegenüber ähnlich einrichtete, grinste ihr zu. „Morgen. Wieder die totale Selbstversorgerin?"

    „Morgen. Klar. Schau, was soll ich hier denn sonst machen? In diesem fiesen Snackautomaten ist alles wer weiß wie alt und außerdem in Haufen von Plastik eingewickelt. Und auch Mehrwegflaschen – sie nickte in Richtung von Sonjas zwei Schorleflaschen – „verbrauchen Plastik und sind nicht unbegrenzt wiederverwendbar.

    „Hast ja Recht, du Ökotussi, aber ich mag kein Leitungswasser. Das schmeckt nach nix und trotzdem unangenehm."

    „Früchtetee? Oder grüner Tee? Der soll auch noch wahnsinnig gesund sein."

    Sonja schüttelte sich und setzte sich hin. „Schon gut. Ich hasse bloß Tee. In jeder Form. Kaffee mag ich auch nicht, aber irgendwas muss ich ja trinken."

    Nele winkte ab, diese Diskussion führten sie nicht zum ersten Mal.

    „Wir haben beide um halb einen Termin - gehst du in den Ausweichraum oder soll ich?", fragte sie also, statt weitere Getränkevorschläge zu machen.

    „Ich geh schon, ich brauche keinen Rechnerzugriff. Wer kommt bei dir?"

    „Junge Frau, überschuldet. Und bei dir?"

    „Ratloser alleinerziehender Vater. Vielleicht hole ich jemanden von der Familientherapie dazu. Was meinst du, haben immer schon so viele Leute ihr Leben nicht in den Griff gekriegt – oder sind das die modernen Zeiten?"

    „Moderne Zeiten, vermutete Nele, während sie die Mappe mit den Klientendaten und ihren Vorschlägen kontrollierte, „ich glaube, die Leute werden mittlerweile zu nachsichtig erzogen. Keinerlei Stressresistenz, keinerlei Fähigkeit, Lustgewinn aufzuschieben.

    „Was?"

    „Alles, was sie wollen, muss sofort geschehen – auch wenn sie es sich überhaupt nicht leisten können."

    „So geht´s mir aber auch", bekannte Sonja.

    Nele hatte schon den Mund geöffnet, um durchdachten Konsum zu predigen, als es klopfte und Jenny Meusel hereinschaute.

    Sonja verzog sich und Nele richtete sich mit Frau Meusel in der Besprechungsecke ein, wo es gemütlicher war. Dort besprachen sie zuerst die Zahlen – ihr Gehalt, ihre Verpflichtungen, das Budget, das sie (quasi als Hausaufgabe) entworfen hatte, und analysierten dann die Diskrepanzen.

    „Das muss alles ab jetzt anders werden!", verkündete Frau Meusel pathetisch.

    „Nein, bitte kein neues Leben von heute auf morgen!, wandte Nele routiniert ein. „Das funktioniert nicht.

    „Ach, warum denn nicht? Ich meine, so kann ich doch auch nicht weitermachen? Ich meine, ich trau mich ja schon gar nicht mehr an den Geldautomaten!"

    „Es ist besser, sich auf einzelne konkrete Aspekte zu konzentrieren. Haben Sie denn etwas, was Sie verkaufen könnten?"

    Frau Meusel überlegte. „Naja, ich hab mal ein potthässliches Silberbesteck von meiner Patin bekommen. Ich meine, echt ist es und für sechs Personen, aber so grausig verschnörkelt."

    „Und natürlich schwarz angelaufen, wenn man es nicht benutzt? Das kommt mir bekannt vor. Besteht die Gefahr, dass ihre Patin sich nach dem Besteck erkundigt?"

    „Keine Gefahr, sie war bei meiner Taufe schon steinalt und ist gestorben, als ich elf war."

    Nele empfahl einen anerkannt fairen Gold- und Silber-Ankauf. „Dann hätten Sie ein wenig Bargeld. Aber ganz wichtig – melden Sie sich sofort bei diesen Online-Casinos ab. Wenn Sie unbedingt spielen wollen, laden sie sich eine Gratis-Puzzle-App auf den Rechner. Bitte, schreiben Sie sich das auf! Sozusagen als To-do-Liste."

    Ihr Gegenüber grinste und holte ihr Handy aus der Tasche. „Abmelden tu ich mich sofort! Sie klickte eine Zeitlang herum und sah dann lobheischend auf: „Erledigt!

    „Sehr gut – aber nicht wieder anmelden!"

    „Ich bin doch nicht blöd! Da fällt mir ein, ich hab auch noch ein silbernes Teeservice, also Tablett, Kanne, Zuckerdose, Milchkännchen. Brauche ich nie!"

    „Wenn Sie sicher sind? Nicht, dass Sie es hinterher bereuen!"

    „Bestimmt nicht. Wo könnte ich noch sparen, was meinen Sie?"

    Nele überlegte. „Nichts kaufen, was Sie nicht wirklich brauchen. Brauchen, nicht haben wollen – das ist ein Unterschied!"

    „Schwierig…"

    „Sie kommen doch nächste Woche wieder, nicht wahr? Müssen Sie bis dahin überhaupt etwas einkaufen?"

    „Was zum Beispiel?"

    „Neues Duschgel, Brot, Butter…"

    „Wasser…"

    „Wozu? Leistungswasser ist von der Qualität her meist besser und kostet so gut wie gar nichts."

    „Eigentlich eine gute Idee – ich meine, da müsste ich ja auch nichts schleppen. Duschgel hab ich noch reichlich … und eigentlich noch genug zu essen. Bis zum Wochenende brauche ich gar nichts, glaube ich."

    „Dann versuchen Sie es ruhig. Einen Vorteil hätte das obendrein, wenn Sie Ihre Vorräte verbrauchen: Sie können den Kühlschrank gleich abtauen und gründlich putzen. Machen wir es so: Sie gehen auf jeden Fall zum Silberankauf und dann zahlen Sie die Hälfte des Erlöses auf ihr Girokonto ein. Ausgeben werden Sie möglichst nichts. Müssten Sie bis nächsten Mittwoch nicht auch schon wieder Gehalt bekommen? Dann wären Sie immerhin gut tausend Euro von Ihrem Dispo-Limit entfernt. Ein erster Schritt…"

    „Das klingt doch schon ganz gut, meinen Sie nicht, Frau Garbrecht?"

    „Geht so. Frau Meusel, dann sind Sie immer noch rund zweieinhalbtausend in den Miesen. Wissen Sie, wieviel Zinsen Sie da zahlen? Im Schnitt sind es zehn Prozent."

    Frau Meusel senkte verzagt den Kopf und Nele klärte sie auf: „Zweihundertfünfzig im Jahr sind über zwanzig Euro jeden Monat, die Sie bloß der Bank in den Rachen werfen. Nein, vom Dispo müssen Sie schnell runter. Frau Meusel, mal ganz ehrlich: Wofür geben Sie noch zu viel Geld aus? Das Online-Casino war es doch nicht alleine, oder?"

    „Naja… manchmal fühle ich mich so mutlos…" Die Stimme verklang in Gemurmel.

    Nele wusste Bescheid. „Und dann müssen Sie sich etwas gönnen? In der Altstadt?"

    „Ja – woher wissen Sie das? Ich meine, das ist doch total idiotisch?"

    „So geht es vielen. Man spricht auch von Frustkäufen. Oder können Sie immer brauchen, was Sie sich gekauft haben?"

    „Ach nein. Manches habe ich noch nicht einmal ausgepackt. Wenn ich bloß das Geld hätte, das ich dafür rausgeworfen habe…"

    „Was haben Sie denn bevorzugt gekauft?"

    „Naja… Kosmetik, zum Beispiel. Sie grinste kurz. „Man glaubt ja immer, dass man davon viel schöner wird, nicht?

    „Die Lügen der Werbung, da haben Sie schon Recht. Können Sie den Kram peu à peu verbrauchen, um nichts Neues kaufen zu müssen?"

    „Naja, ich hab mindestens drei Wunderwimperntuschen, alle noch zugeklebt, und zwei angebrochene."

    „Ich fürchte, verkaufen kann man das nicht mehr, aber vielleicht freuen sie sich bei der Tafel? Auch Bedürftige brauchen ja vielleicht mal etwas Make-up…"

    Frau Meusel kritzelte auf ihren Block. „Bis zum nächsten Mal sortiere ich das alles danach, wo es hinkann, Tafel, Flohmarkt, Vorratsschrank."

    „Das ist eine sehr nützliche Idee. Sie machen wirklich Fortschritte, Frau Meusel!"

    „Es geht nur alles so langsam… wie machen Sie das, Frau Garbrecht? Ich meine, wie schützen Sie sich vor Frustkäufen?"

    Nele überlegte kurz. „Ich kaufe grundsätzlich nichts, das nicht Bio oder in zuviel Plastik verpackt ist – und keine billigen Klamotten, die garantiert auf Kosten von Natur und schlecht bezahlten Näherinnen in Asien zusammengetackert worden sind. Unglaublich, was da alles nicht mehr in Frage kommt! Und darüber hinaus bin ich Minimalistin – weniger Kram, mehr Lebensqualität, eine herrlich leere Wohnung."

    „Das klingt ja toll. Sollte ich mir dazu Bücher kaufen, was meinen Sie?"

    „Frau Meusel! Was meinen Sie selbst?"

    Jenny Meusel lächelte beschämt. „Nichts kaufen, erstmal im Netz schauen?"

    „Spart auf jeden Fall Geld. Also, welche drei To do-Aufgaben packen Sie jetzt bis nächste Woche an?"

    Jenny Meusel blätterte. „Ich hätte viel mehr!"

    „Bitte die drei wichtigsten! Mehr ist für eine Woche im Allgemeinen zu viel."

    „Hm… Silber verkaufen als erstes. Krempel sortieren und schon mal schauen, was zur Tafel kann. Also, Originalverpacktes. Und als drittes… wenn ich was kaufen will, schauen, ob es total bio und ohne Plastik ist und ob ich es überhaupt dringend brauche?"

    „Das klingt sehr vernünftig. Man hat festgestellt, dass man, wenn man solche Verhaltensweisen einige Wochen lang trainiert, sie wirklich verinnerlichen kann."

    Sie erhob sich und verabschiedete Jenny Meusel, die halb getröstet, halb voller Tatendrang wirkte. Dann sah sie ihr nach: Ob das schon etwas brachte? Das bisschen Coaching? So einfach konnte es schließlich nicht sein. Mal sehen, was sie nächste Woche zu berichten hatte.

    Sonja saß noch im Ausweichraum, also nutzte sie schnell die Gelegenheit und überlegte, ob sie noch einmal beim Ordnungsamt anrufen sollte, um denen wieder zu erzählen, dass in einem dieser schrottreifen Wohnwagen irgendetwas verrottete und es dementsprechend in der Fontaneallee ekelerregend stank, von Tag zu Tag mehr. Beim letzten Mal hatte man nur gelangweilt nach ihrem Namen gefragt und versprochen, bei Gelegenheit dort einmal nach dem Rechten zu sehen. Geschehen war offenbar gar nichts.

    Sonja kam zurück. „Puh, dieser Vater! Die Kleine tyrannisiert ihn total. Die probiert doch, wie weit sie gehen kann, und stößt nie an ein Hindernis. Ich hab ihn echt zur Erziehungsberatung weitervermittelt, die Renate hatte gerade noch einen Termin frei."

    „Wahrscheinlich denkt er, das arme mutterlose Kind braucht besonders viel Liebe."

    „Richtig. Aber keine Grenzen setzen – das ist doch keine Liebe, sondern Weicheiverhalten!"

    „Ganz genau. Wir haben doch auch nicht alles gedurft, oder? Hat uns gar nichts geschadet. Huch – hab ich das jetzt eben wirklich gesagt? Ich werde alt!"

    Sonja kicherte. „Was glaubst du, wie oft ich schon Elternsprech abgesondert habe. Ab dreißig ist das unvermeidlich."

    2

    Gegen fünf war sie für heute fertig und schaukelte gemütlich im Bus Richtung Birkenried, wobei sie über die Ratschläge nachdachte, die sie Jenny Meusel und noch zwei weiteren mäßig verschuldeten jungen Frauen erteilt hatte. Beziehungsweise diese Verhaltensweisen mehr oder weniger aus ihnen herausgekitzelt hatte. Doch, das funktionierte – wenn sie es verinnerlichten. Sie selbst hatte doch in dieser Woche auch erst – naja – zwölf Euro oder so ausgegeben – wozu auch mehr? Sie brauchte nichts, zu essen war noch genug im Haus, Wasser kam aus dem Hahn, den guten grünen Tee hatte sie auch noch – und ihre angenehm kleine Wohnung verhinderte doch ohnehin, dass sie zuviel Krempel ansammelte. Am schlimmsten waren sogenannte Deko-Artikel! Ab und zu schlenderte sie zum Spaß durch ein Möbelhaus, das sehr günstig im Nordwesten von Birkenried lag und wohl immer noch hauptsächlich von den neu Zuziehenden lebte. Was es da an Dekokram gab! Goldene Buddhas, geschnitzte Kästlein, Vasen, Kunstblumen, glitzernde Kissen, Püppchen, die auf den Regalkanten sitzen sollten – von Oster- und Weihnachtskram ganz zu schweigen. Furchtbares Zeug, das sah doch nur überladen und unordentlich aus!

    Ihr kam solcher Tinnef jedenfalls nicht ins Haus. Ob Jenny Meusel sich an ihre ersten Schritte hielt? Der Versuchung widerstehen konnte? So einfach war es eben nicht, eingefahrene Verhaltensweisen zu ändern… die übrigen „Klienten" heute waren vergleichsweise harmlos oder wenigstens unproblematisch – mit der Bank bereits im Reinen, bei der Familienberatung angemeldet, fest entschlossen, das Jobangebot von der Arbeitsagentur anzunehmen… na, auch bei denen konnte noch alles Mögliche schief gehen.

    Aber oft klappte es ja auch, und das machte diesen Beruf so erfreulich. Wenn man nur einmal pro Monat jemanden aus einer Krise herausholen konnte, hatte man doch schon etwas Vernünftiges erreicht? Der Bus schnurrte über die Rabenbrücke (warum hieß die eigentlich nicht Zollinger oder Birkenrieder Brücke?) und Nele lächelte selbstzufrieden vor sich hin. Dann nahm sie sich wieder zusammen, denn eine Heilige war sie schließlich nicht und Malte mit seiner Fahrradwerkstatt war ein mindestens genauso nützlicher Bürger. Merle eines Tages, wenn sie mit dem Studium fertig war, bestimmt auch. Immerhin schien ja ihr grässlicher Pseudoschwiegervater aufgehört zu haben, ihr auf die Nerven zu fallen. Als ob Merle nicht imstande sei, Klein-Emma aufzuziehen! Mama half ihr, Nele selbst sprang auch gelegentlich ein, und Emma entwickelte sich prächtig, sie konnte mit ihren neun Monaten schon beinahe laufen und brabbelte (zugegeben noch unverständlich) vor sich hin. Vier Zähnchen hatte sie auch schon, was hatte der alte Huther also eigentlich zu meckern gehabt? Immerhin schien er sich mittlerweile beruhigt zu habe; vielleicht hatte ihm seine Frau auch endlich den Mund verboten. Angela Huther war wirklich ganz vernünftig.

    Fontaneallee.

    Nach einigen Schritten schnupperte sie angewidert: Dieser gammelige Geruch war tatsächlich noch stärker geworden, da musste jemand in einem dieser Schrottwohnwagen vor Wochen mindestens ein Kilo Hackfleisch – ungekühlt – vergessen haben. Ekelhaft. Sie sollte wirklich das Ordnungsamt informieren – oder wer auch immer für sowas zuständig war. Sich nur ärgern nutzte schließlich auch nichts!

    Das tat sie auch als erstes, als sie nach Hause kam. Gut, nach dem zufriedenen Blick über die karge Ordentlichkeit allenthalben – wer wenig besaß, konnte eben leicht Ordnung halten!

    Im Ordnungsamt zeigten sie wenig Interesse – sie solle eben die Polizei anrufen, wenn sie ein Verbrechen vermute. Geduldig wiederholte sie, dass es nicht um ein Verbrechen, sondern nur um einen unglaublichen Gestank gehe, vielleicht sei das sogar gesundheitsschädlich: Wer sei denn dann zuständig?

    Der Typ am anderen Ende der Leitung schnaufte belästigt und riet zur Feuerwehr.

    Nele schnaufte auch. „Wetten, die sagen, dafür ist das Ordnungsamt zuständig? Arbeitet in dieser Stadt eigentlich überhaupt jemand etwas?"

    Natürlich wurde daraufhin der Hörer aufgeknallt.

    „Blöder Arsch", murmelte Nele und versuchte es bei der Feuerwehr, nicht ohne zu erzählen, dass dieser Tipp von einem stinkfaulen Mitarbeiter im Ordnungsamt stamme.

    „Das kennen wir schon, wurde sie beruhigt. „Wir schauen da mal vorbei, versprochen.

    Nele gab Namen und Adresse an und bedankte sich recht herzlich. Vielleicht ging ja jetzt bald einmal etwas voran, man konnte an diesen Schrottmobilen kaum noch vorbeigehen, ohne ohnmächtig werden!

    Und jetzt?

    Sie kochte sich ihr Lieblingsessen, Vollkornspaghetti mit Gemüsesauce (Tomatenmark, Gewürze, Olivenöl, Paprikaschnipsel in grün und rot, rote Bohnen und ein bisschen Mais). Etwas gehobelten Parmesan darüber… sie setzte sich an ihren kleinen Tisch und speiste zufrieden; hinterher gab es noch einen wunderbar sauren grünen Apfel. Sie trug Geschirr und Apfelbutzen zur Küchenzeile, rülpste satt und spülte schnell ab, dann warf sie sich mit dem Handy aufs Bettsofa und rief ihre Schwester an.

    Merle freute sich, sie zu hören, und erwähnte umgehend eine dringend zu schreibende Seminararbeit und eine sehr unruhige Emma. Das funktionierte auch sofort: „Soll ich vorbeikommen und ein bisschen auf Emma aufpassen?"

    „Das wäre toll! Mama ist auch beschäftigt – und Papa ist mit Emma immer ein bisschen ungeschickt."

    Also machte Nele sich wieder auf, noch einmal zurück über die Leiß, jetzt aber in das etwas bürgerlichere Mönchberg! In Selling musste sie dazu in einen anderen Bus umsteigen, aber unterwegs konnte sie ja immerhin ein bisschen lesen… außerdem wurde sie unterwegs gleich dreimal angerufen – eine Umfrage, die sie gleich wegdrückte, Papa, der morgen grillen wollte: ob Nele kommen und vielleicht einen Tomatensalat mitbringen könne? Nele sagte zu, das konnte ja vielleicht ganz lustig werden. Der dritte Anruf kam von einem Callcenter: Ob sie Interesse an lukrativen Geldanlagen hätte?

    „Das heißt im Klartext, ob ich mich gerne ausnehmen lassen möchte? Nein, danke. Übrigens machen Sie sich strafbar, wenn Sie Leute ohne deren Einverständnis belästigen, wissen Sie das nicht?"

    „Wieso belästigen?"

    „Leute, die mir gegen meinen Willen Geld aus der Tasche ziehen wollen, egal wofür, belästigen mich. Oder haben Sie auch noch eine Einverständniserklärung gefälscht? Ohne ist es doch nicht umsonst verboten, Sie blöder Möchtegern-Krimineller!"

    Der Anrufer legte abrupt auf und Nele grinste: Heute war sie gut, schon zwei Leute beleidigt!

    Sie sah auf und registrierte das breite Grinsen des Mannes gegenüber. „Toll, wie Sie mit denen umspringen. Diese Telefonwerbung ist wirklich eine Pest!"

    Nele bedankte sich heiter für das Lob und erhob sich, um auszusteigen.

    Merle freute sich, als sie das große Zimmer im ersten Stock des leicht verwohnten Reihenhauses betrat. Emma dagegen sah ihr leicht misstrauisch entgegen, entspannte sich aber, als Nele sich zu ihr auf die Spieldecke setzte und zwei der Plastikbausteine aufeinander stapelte. Da quietschte sie erfreut und streckte die Ärmchen aus, um hochgenommen zu werden. Nele nahm sie auf den Arm, wo sie sofort zwei Babyarme um ihren Hals spürte.

    „Merle, kann ich mit ihr in den Garten gehen?"

    „Ja, klar – dann kann ich hier mal ein Stück weiterkommen. Wenn du sie an den Händen hältst, läuft sie schon! Na, sagen wir, sie versucht es. Und kräht dabei vor Stolz."

    „Na, Emma, wollen wir im Garten herumlaufen?"

    Emma warf ihr einen matten Blick zu und vergrub ihr Gesicht an Neles Hals; Nele angelte sich noch einen Ball und verließ das Haus mit Emma durch das Wohnzimmer und die Terrassentür.

    Draußen stellte sie Emma auf die Beine und hielt die kleinen, dicken Händchen fest. Emma stand stocksteif da und drehte schließlich den Kopf, um Nele mit ihren großen braunen Augen unsicher anzusehen. Als Nele sich einen kleinen Schritt vorwärtsbewegte, verstand ihre Nichte und tappte ebenfalls einen Schritt voran. Danach hatte sie verstanden, was von ihr erwartet wurde, und machte selbstständig, immer noch an der Hand ihrer Tante, einige Schritte, nicht ohne triumphierend zu lachen.

    Nele lobte sie: „Toll, was du schon kannst, meine Süße! Schau, wir gehen zur Decke und dort spielen wir mit dem Ball!"

    Dort setzte sie Emma in die eine Ecke, sich selbst gegenüber, und rollte dann den Ball langsam zu Emma hinüber. Die lachte so breit, dass man ihre nagelneuen Zähnchen sah, und schlug mit der flachen Hand auf den Ball, so dass er ein wenig zurückrollte.

    Emma war doch wirklich ein liebes, freundliches und auch sehr aufgewecktes Kind – es war überhaupt nicht nachvollziehbar, was der alte Huther immer hatte, überlegte Nele, während sie den Ball mit einem deutlich ausgestreckten Zeigefinger zurückschubste und sich freute, als auch Emmas winziger Zeigefinger aktiv wurde. Gut, man musste sich schon sehr strecken, um den Ball zurückzurollen, aber Emma lernte wirklich schnell.

    Wie konnte dieser alte Idiot da behaupten, Emma werde nicht

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