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Der Mord von gegenüber: Kriminalroman
Der Mord von gegenüber: Kriminalroman
Der Mord von gegenüber: Kriminalroman
eBook487 Seiten7 Stunden

Der Mord von gegenüber: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Xenia, zunehmend entnervt von ihrem reichlich spießigen Freund, arbeitet von zu Hause aus und hat so reichlich Zeit, Magnus, den attraktiven neuen Mieter von gegenüber, zu beobachten und festzustellen, dass er offenbar Probleme mit dubiosen Gestalten hat. Als er sogar in einen rätselhaften Mordfall verwickelt wird, versucht sie ihm zu helfen und merkt bald, dass nicht nur der kriminalistische Eifer sie beflügelt, sondern auch ihr wachsendes Interesse an Magnus. Dass sie sich mit gefährlichen Leuten eingelassen haben, merken die beiden beinahe zu spät.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum25. Juli 2015
ISBN9783737552783
Der Mord von gegenüber: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Der Mord von gegenüber - Elisa Scheer

    1

    Ich weiß noch genau, wie es war, als ich ihn das erste Mal sah. Es war Abend, etwa halb acht, Ende April, also noch nicht dunkel, aber man konnte schon das Licht einschalten. Unser Appartementhaus, der Bonifatiushof, ist U-förmig gebaut, so dass man einen hübschen Blick auf die Fenster gegenüber genießt, wenn man nicht gerade das Pech hat, im Mitteltrakt zu wohnen. Deshalb haben wir wohl alle als erstes nach dem Einzug möglichst blickdichte Gardinen aufgehängt.

    Eigentlich ist das Haus sonst sehr schick, die Appartements sind großzügig geschnitten und gut ausgestattet, im Mitteltrakt gibt es in jedem Stockwerk einen Laden: im Erdgeschoss Lebensmittel, im ersten Stock Bücher, Zeitungen und Schreibwaren, im zweiten Stock eine Reinigung, im dritten Stock Wolle, Kurzwaren und Bastelbedarf, im vierten, obersten Geschoß ein Café mit Dachterrasse. Natürlich kann es sein, dass wir Pech haben, die nützlichen Läden schnell eingehen und durch Anglerbedarf, Pelzmoden, ein Nagelstudio oder sonstigen Mist ersetzt werden. Bis jetzt aber kann man in diesem Haus das herrlichste Leben führen, ohne es jemals zu verlassen, wenigstens, wenn man wie ich notgedrungen zu Hause arbeitet. Und wenn man ins Helenenbad möchte, hat man lediglich eine Straße zu überqueren. Das Appartement war meine bisher beste Anschaffung, dachte ich.

    An diesem Tag also, es war Freitag, der 27. April, hatte ich eine Dissertation fertig getippt und Material und CDs abholbereit verpackt, zwanzig Geschäftsbriefe online verschickt und drei Präsentationen eingerichtet und auf CD gebrannt. Am späten Nachmittag hatte der Kurier den Kram abgeholt, der Kühlschrank war noch wohlgefüllt, die Wohnung war aufgeräumt und draußen nieselte es. Ich hatte nichts mehr zu tun und keinen Grund, auszugehen. Ehrlich gesagt war mir ein bisschen langweilig.

    Ich strich also durch das große Zimmer, rückte die Sofakissen zurecht, arrangierte den Nippes zwischen den Büchern neu, sortierte meine CDs und hatte dann wieder nichts mehr zu tun. Vor dem Fenster blieb ich stehen, zündete mir eine Zigarette an und starrte gelangweilt nach draußen. Es dauerte etwas, bis ich realisierte, dass genau gegenüber wieder jemand eingezogen war. Im Zimmer brannte eine nackte Birne, der Mieter oder die Mieterin hatte aber noch keine Gardinen aufgehängt, so dass man die aufgestapelten Kisten und das Sammelsurium von voll gestopften Penny und Aldi-Tüten sehr deutlich studieren konnte.

    Ich schaute mir das Durcheinander eine Zeitlang zufrieden an und dachte an meine eigene perfekt durchgestylte Wohnung direkt hinter mir, bis der neue Mieter quasi ins Bild kam. Ziemlich groß, wenn man den Türstock als Maßstab nahm, jedenfalls größer als ich, kräftig, braunhaarig und schön braungebrannt – er trug nämlich nur enge Jeans. Als er sich umdrehte und sich an einem herumliegenden Kleidungsstück, wahrscheinlich seinem Sweatshirt, den Schweiß abwischte, sah ich, dass er einen wunderhübschen knackigen Hintern hatte, der in den stramm sitzenden Jeans auf das Attraktivste zur Geltung kam. Ich pfiff anerkennend durch die Zähne, schließlich konnte er mich ja nicht hören, und staunte dann über mich selbst. Seit wann hatte ich denn solche Baustellenmanieren? Paul schließlich dachte, ich sei eine Dame. Andererseits dachte und redete Paul überhaupt ziemlich viel Unsinn, wenn man es recht bedachte.

    Mir fiel ein, dass er beim Herumräumen nur aufsehen musste, um zu bemerken, dass ich sabbernd an meinem Fenster klebte, also trat ich schnell zurück und löschte das Licht im Wohnzimmer. Ich schlich aber sofort wieder ans Fenster und beobachtete ihn weiter. Nicht nur der Arsch war knackig, stellte ich fest; wenn er sich bückte, spielten die Muskeln auf seinem Rücken und in seinen Armen sehr anziehend. Wahrscheinlich quälte er sich täglich im Fitnessstudio. Na, ab jetzt hatte er da kurze Wege, wir hatten ein einschlägiges Etablissement im Keller, über der Tiefgarage. Ich plagte mich dort auch einmal die Woche ab, aber ich erzielte nicht annähernd solche Erfolge. Bis jetzt war es mir nur gelungen, meine von Natur aus eher üppigen Formen so weit zu bändigen und in Muskelmasse zu verwandeln, dass ich noch knapp in Größe vierzig passte. Bei einer Größe von einem Meter achtzig war das durchaus akzeptabel, abgesehen von meinem Busen, der ruhig etwas kleiner hätte sein dürfen, wie ich fand.

    Ich war so in das Spiel der Rückenmuskeln versunken – und in die effiziente Art, wie der Typ seine Möbel aufbaute und einräumte – dass ich heftig zusammenfuhr, als das Telefon läutete. Ich tappte im Dunklen hin und nahm ab.

    „Röhr?"

    „Mäusle, ich bin´s!"

    „Ach, Paul, seufzte ich, wenig begeistert, „stimmt ja, heute ist Freitag. Wann kommst du?

    „Ich fürchte, es wird eine halbe Stunde später als üblich. Um acht, ja? Was gibt es denn heute Gutes?"

    Mist, über das Essen hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht! „Das ist eine Überraschung", antwortete ich schnell. Paul kam immer Freitagabend und blieb über Nacht, seit rund eineinhalb Jahren. Ich kochte, er erzählte von der Arbeit und was seine Kollegin Kluges gesagt hatte, dann sahen wir zusammen ein bisschen fern, tranken eine Flasche Rotwein (er brachte immer den gleichen mit) und gingen schließlich ins Bett. Zu diesem Zweck hatte er bei mir eine Auswahl Trikotschlafanzüge gelagert und eine elektrische Zahnbürste und einen Reiserasierer im Bad deponiert.

    Samstagabend pflegte er seine Eltern zu besuchen, die in einer Anlage für betreutes Wohnen im Bäderdreieck wohnten, und an den übrigen Abenden ging er früh ins Bett, um für die Arbeit fit und ausgeruht zu sein.

    Paul war ein netter Mensch, und das Leben mit ihm hatte etwas Beruhigendes. Ich wusste genau, wann er kam und wann nicht und dass wir eines Tages heiraten würden, wenn er sein Elternhaus, ein Siedlungshäuschen aus den frühen Sechzigern in Kirchfelden West, fertig renoviert hätte. Wirklich, sehr beruhigend. Vielleicht ein bisschen zu beruhigend. In letzter Zeit beschlich mich manchmal der Gedanke, dass es mit Paul vielleicht doch ein klein wenig langweilig war.

    Ich löste mich ungern von meinem Aussichtsplatz am Fenster und trottete in die Küche. Was könnte ich kochen? Was war denn noch da? Ich fand tiefgefrorenen Blätterteig und eine Gemüsemischung, außerdem noch hundert Gramm gekochten Schinken, der ohnehin wegmusste. Gut, dann gab es eben Gemüsestrudel!

    Ich rollte den Teig hauchdünn aus, rührte eine kräftig gewürzte Sauce an und packte das in der Sauce geschwenkte eiskalte Gemüse in den Teig, den ich danach faltete wie ein Geschenkpaket und mit Eigelb bestrich und mit etwas Käse bestreute. Ab in den Ofen! Dann deckte ich den Tisch und polierte zwei Weingläser.

    Wie der Abend ablaufen würde, wusste ich schon; spätestens um halb elf lagen wir im Bett, und um Viertel vor elf schlief Paul tief und fest. Ich schlich zum Fenster zurück und spannte noch ein bisschen. Mein Gegenüber räumte immer noch um, reckte und streckte sich, stand auf einer Leiter, um weitere Lampen anzubringen, faltete Kisten zusammen und brachte das Zimmer, das man sehen konnte, in einen einigermaßen vorzeigbaren Zustand, bis mir einfiel, dass ich den Ofen herunterschalten und einen Salat anmachen sollte.

    Paul klingelte exakt um 20.00. Er war immer extrem pünktlich, was ich durchaus zu schätzen wusste. Früher hatte ich auch Freunde gehabt, die mich unbekümmert eine halbe Stunde warten ließen und sich dann nicht einmal entschuldigten, obwohl mir meine Wut deutlich anzusehen war. Er küsste mich auf die Wange, wie immer, sagte „Mäusle, ließ mich los, stellte seine Aktentasche ab, hängte seinen Mantel auf, schnupperte, sagte „Hm, das riecht aber gut, und verschwand im Bad, um sich die Hände zu waschen. Jeden einzelnen Schritt hätte ich genau so vorher sagen können. Warum irritierte mich das heute? Seit Monaten wusste ich, dass die Wochenenden so und nicht anders abliefen, und es hatte mich nie gestört. Ich kontrollierte den Strudel und stellte die Salatschüssel schon einmal auf den Tisch, während Paul den Wein von heute verräumte und den Wein vom letzten Freitag (er brachte immer exakt eine Flasche mit, und genau eine Flasche tranken wir auch zusammen) öffnete und einschenkte.

    Der Strudel war fertig und duftete viel versprechend. Ich schnitt ihn in der Form auf und stellte ihn zwischen unsere Teller. Die ersten zehn Minuten aßen wir schweigend, abgesehen von Pauls Lob und meinem Dank dafür, dann war sein erster Hunger gestillt und er eröffnete die Konversation.

    „Heute haben wir die Vorlagen für die neuen Sicherheitsausweise bekommen", begann er.

    „Wofür sind die?", erkundigte ich mich ohne allzu großes Interesse.

    „Für das neue Datenzentrum. Das sind hochsensible Daten, da darf nicht jeder ran, und unsere Abteilung wurde ausgewählt, diese Ausweise zu erstellen und ihre korrekte Verwendung zu überwachen. Eine große Ehre, die von PA II haben sich ebenfalls darum beworben."

    „PA II?" Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

    „Na, Personalabteilung Zwei. Wir sind Eins. Aber Xenia, das weißt du doch, ja?"

    „Stimmt, ich hatte nur gerade nicht dran gedacht."

    Er warf mir einen irritierten Blick zu, ritt aber nicht weiter darauf herum. „Jedenfalls hatte Heide eine wirklich geniale Idee, wie wir die Verwendung und die Geltungsdauer dieser Karten viel Kosten sparender überwachsen können, nämlich..."

    Ich hörte nur noch mit einem Ohr zu. Heides kluge Aussprüche gingen mir manchmal etwas auf die Nerven, denn sie sparte nicht nur das Geld ihres Arbeitgebers, sondern ließ mir Gesundheitstipps und Vorschläge für die Arbeitssuche via Paul übermitteln, was ich etwas unverschämt fand, denn wir kannten uns persönlich überhaupt nicht. Ich ließ ihr ja auch nicht ausrichten, sie solle nicht so siebengescheit sein, das käme bei Männern nicht gut an! Dass sie keinen hatte, wusste ich, Paul hatte es berichtet. Sein Vortrag plätscherte so dahin und meine Gedanken schweiften zu den prall gefüllten Jeans gegenüber, bis die plötzliche Stille mich aufschreckte. Paul musterte mich erwartungsvoll.

    „Und, wie findest du diese Idee?"

    „Genial", behauptete ich und aß hastig weiter. Das schien

    gepasst zu haben, er sprach also immer noch von Heides Ideen, und Heides Ideen waren ohnehin immer genial.

    „Nicht wahr? Darauf wäre ich nie gekommen. Übrigens, Heide meint, du könntest im Mai doch bei uns jobben. Deine Stelle trittst du doch erst zum ersten Juli an, oder? Und bis dahin musst du doch ein bisschen Geld verdienen..."

    Das musste ich eigentlich nicht, außerdem hatte ich genügend Schreibaufträge, aber ich fand es nett von Paul, dass er sich um meine Finanzen sorgte. Er hätte sie auch gerne verwaltet, aber das hatte ich schon so lange alleine gemacht, dass ich davon nicht mehr lassen konnte.

    „Mal sehen, murmelte ich also und kratzte die Salatschüssel aus. „Magst du noch Strudel?

    „Ja, eine kleine Portion. Sehr lecker, wirklich. Woher hast du das Rezept?"

    „Selbst erfunden", gestand ich ohne nachzudenken, und beobachtete, wie er zusammenzuckte. Von meiner Großmutter oder Aus Pour Elle oder Aus dem Kochbuch war ihm lieber, dann stand doch eine Kochautorität dahinter.

    „Keine Sorge, ich habe es nicht mit etwas Unverträglichem gewürzt", versicherte ich ihm etwas spöttisch, aber den Unterton bemerkte er glücklicherweise nicht. Er half mir danach beim Abräumen und wählte, während ich rasch abspülte, das Fernsehprogramm aus: zunächst den Freitagskrimi, dann eine Wissenschaftssendung. Ich löschte das Licht in der Küche, trug die Weingläser zum Couchtisch und setzte mich neben Paul, der sich die Fernbedienung gesichert hatte und gespannt auf den Bildschirm sah.

    Der Alte – der ganz Alte – löste einen ausgesprochen vorhersehbaren Mordfall. Die Folge war doch mindestens fünf Jahre alt? Jedenfalls kannte ich sie schon, die war ja auch schon einmal im Nachmittagsprogramm gelaufen. So langweilte ich mich ein bisschen, während Paul, die Ellbogen auf die Knie gestützt, unbeweglich dasaß und das Geschehen gebannt verfolgte. Möglichst leise stand ich auf und strich ziellos durch die Wohnung. Paul bemerkte es nicht, und so konnte ich einige Minuten aus dem Fenster schauen. Die Wohnung gegenüber schien fast fertig zu sein – schade, jetzt ging das Licht aus!

    Und der Krimi war immer noch nicht spannender geworden; die Schwiegermutter war´s, ich konnte mich noch ziemlich sicher daran erinnern. Kaum war der Abspann gelaufen, schaltete Paul um, schenkte uns den Rest Wein ein und verfolgte dann stumm und fasziniert einen Bericht über die tropische Insektenwelt. Ich war regelrecht erleichtert, als mein Handy klingelte.

    Ich schnappte es und verzog mich ins Schlafzimmer, als ich Pauls belästigten Blick auffing.

    „Röhr?"

    „Hallo Xenia, hier ist Anna. Was machst du gerade?"

    „Anna, es ist Freitagabend! Was mache ich wohl gerade?"

    „Eine Runde Mitleid für dich. Was guckt er denn?"

    „Irgendwas über Insekten. Mich juckt es schon beim Zuschauen. Machen wir morgen was zusammen? Du könntest gegen vier vorbeikommen."

    Anna lachte. „Klar! Ich hab dir einiges zu erzählen, du wirst staunen."

    Sie trennte die Verbindung. Ich schaltete das Handy aus und blieb einen Moment lang gedankenverloren auf der Bettkante sitzen. Anna und ihre Kerle... Ich konnte mir schon denken, was sie wieder zu erzählen hatte, sicher hatte sie wieder den Mann fürs Leben – oder für den nächsten Monat – aufgegabelt und wollte mich mit allen Einzelheiten beglücken. Aber ein lustiges Leben hatte sie, das musste ihr der Neid lassen.

    Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo sich die atemberaubende Saga der tropischen Insekten dem dramatischen Finale näherte; ein Gähnen unterdrückend, setzte ich mich neben Paul und musterte ihn von der Seite. Der gute Paul, so lieb, so zuverlässig... Und er sah auch nicht schlecht aus, ein bisschen blass vielleicht, ein bisschen schmal, aber größer als ich (und bei meiner Größe konnte ich dafür schon dankbar sein), dunkelblond und freundliche braune Augen. Diese Augen hatten es mir damals zuerst angetan... und seine fürsorgliche Art. Er hatte wirklich etwas Väterliches an sich, obwohl er erst einunddreißig war, etwas Solides und Beruhigendes. Bei ihm wusste ich, wie mein Leben aussehen würde. Ich dachte ja schon wieder das Gleiche – musste ich mir selbst etwas beweisen?

    Paul ließ den Abspann noch laufen, weil er, wie er sagte,

    wissen wollte, ob die Sendung von BBC 1 produziert worden war (für ihn ein untrügliches Qualitätsmerkmal), dann schaltete er den Fernseher aus und wandte sich mir zu.

    „Zeit fürs Bett, Mäusle."

    Ich nickte stumm und trug die leeren Gläser und die Flasche in die Küche, während Paul im Bad verschwand. Als das Wohnzimmer wieder klinisch sauber aussah, ging ich ins Bad, duschte schnell, zog ein Nachthemd an, schrubbte mein Gesicht und putzte mir die Zähne.

    Paul lag schon im Bett, in seinem Lieblingsschlafanzug, hellblaugrau gestreifter Sweatshirtstoff. Ich stieg auf „meiner" Seite ins Bett, küsste ihn leicht und löschte das Licht. Wie ein langjähriges Ehepaar, musste ich plötzlich denken, als sich Paul im Dunklen mir zuwandte.

    Er küsste mich, ließ seine Hand langsam über mein Nachthemd wandern und schob es dann bis zur Taille hoch.

    „Ich liebe dich, murmelte er, seine warme Hand auf meinem Bauch, und küsste mich auf den Hals. Ich gab einen wohligen Laut von mir, als ich die leichte Erregung verspürte, die sich wie Wärme in mir ausbreitete. Er hörte ihn herumnesteln und Cellophan knistern, dann schob er sich über mich und drückte meine Schenkel auseinander. Seine Hand suchte kurz nach dem Weg, dann drang er langsam in mich ein und murmelte: „Du bist einfach die Beste.

    Seine Bewegungen gewannen rasch an Tempo, und ich konzentrierte mich auf ihn und auf meine Erregung, aber wie immer reichte es nicht – als er fertig war, war ich noch lange nicht so weit. Er küsste mich noch einmal, rollte dann wieder von mir herunter, murmelte schläfrig „Das war toll", und schlief fast umgehend ein.

    Ich lag neben ihm und starrte im Dunklen an die Decke. Stimmte es, dass alle Männer so waren? Anna hatte mal erzählt, dass fast keine Frau auf diese Weise zum Orgasmus kam. Etwas verschämt ließ ich meine Hand unter der Bettdecke tiefer gleiten und suchte mit dem Zeigefinger den magischen Punkt, um selbst für das zu sorgen, was Paul nicht geleistet hatte. Als ich spürte, wie sich die Spannung in einer Reihe leise pochender Kontraktionen auflöste, war ich zufrieden und rollte mich auf die Seite, um zu schlafen.

    Zufrieden? Fast. Ganz zufrieden war ich damit nicht – aber gab es die wilde Leidenschaft im richtigen Leben überhaupt? Oder fand man so etwas nur in Kitschromanen und entsprechenden Filmen, wo die Leute sich wild und zügellos auf dem Fußboden liebten? In Wirklichkeit tat das bestimmt fast niemand, das musste doch total unbequem sein!

    Auch der Samstag verlief wie üblich; wir frühstückten ausführlich, Paul gab mir gute Ratschläge für meine Schreibarbeiten und erzählte Anekdoten aus seiner Arbeit – natürlich gewürzt mit den weisen Sprüchen von Heide  , wir gingen im Prinzenpark spazieren, küssten uns ab und zu flüchtig in verschwiegenen Winkeln (Paul stand nicht so sehr darauf, bei Zärtlichkeiten beobachtet zu werden) und aßen hinterher im Florian zu Mittag. Das finanzierte traditionsgemäß Paul, denn ich war ja für das Essen am Freitagabend zuständig. Hinterher gab es am frühen Nachmittag noch Kaffee und ein Stück Kuchen, dann brach Paul in seinem auf Hochglanz polierten Wagen auf, um seine Eltern zu besuchen. Ebenfalls wie immer warf er, als er von unserem Parkplatz rangierte, einen missbilligenden Blick auf mein Auto, das ungewaschen und zugemüllt in einer finsteren Ecke sein Dasein fristete. „Du musst ihn endlich waschen und einwachsen! So verkommt doch der Lack völlig, das verkürzt die Lebensdauer erheblich."

    „Ja, Paul", antwortete ich fromm und vergaß es sofort wieder. Der Dreck war schließlich eine Schutzschicht, das verlängerte die Lebensdauer! Behauptete Anna wenigstens, deren Wagen genauso vernachlässigt aussah und schon seit zwölf Jahren unverdrossen fuhr, wo immer sie hinwollte.

    Ich fuhr im Lift in den dritten Stock und ließ mich mit einem wohligen Seufzer auf mein Sofa fallen. Warum wohlig? War ich etwa froh, dass Paul für diese Woche abgehakt war? Ich schämte mich ein bisschen für meine unfreundlichen Gedanken: Paul war so ein lieber und fürsorglicher Mensch, aber gestern und heute hatte er mich wirklich gelangweilt, und der Gedanke, womöglich die nächsten fünfzig Jahre lang jeden Tag so zu verbringen, verursachte mir gewisse Beklemmungen. Gut, wir würden Kinder haben. Drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, Paul wusste auch schon, wie sie heißen sollten. Natürlich würde ich meine Arbeit erst wieder aufnehmen, wenn das Jüngste im Gymnasium war. Alle drei würden ein altsprachliches Gymnasium besuchen und eine wirklich gediegene Ausbildung erhalten, danach studieren und beruflich erfolgreich und privat glücklich und solide leben. Über kurz oder lang würden wir uns an wohlgeratenen Enkeln erfreuen und unseren Kindern mit klugen Ratschlägen aus dem reichen Schatz unserer Erfahrung das Leben erleichtern...

    Oder ihnen damit tierisch auf die Nerven gehen, überlegte ich missmutig und warf meinen Rechner an. Bis Anna kam, konnte ich gut noch ein Stück an dieser (meiner Ansicht nach im Ansatz verfehlten) Hausarbeit tippen, die ein reiches, faules und nicht übermäßig talentiertes Mädchen für ein Hauptseminar in Kommunikationswissenschaften verfasst hatte. Dreißig Seiten à zwei Euro – ein stolzer Preis, um drei Stunden Arbeit zu vermeiden. Na, sie hatte es ja offensichtlich – und ich konnte es brauchen.

    Außerdem lenkte das Tippen mich von meinem eigenartigen WochenendBlues ab.

    Anna kam kurz nach vier, glänzender Laune.

    „Jetzt hör schon auf zu tippen, es ist Wochenende!"

    Bereitwillig speicherte ich und stand auf, um eine Flasche Pinot Grigio und zwei Gläser zu holen. Wir lümmelten uns auf die Sofas und tranken erst einmal einen Schluck.

    „Und, was wollen wir machen?"

    „Erst Café, in der Carolinenstraße, schlug Anna vor, „und danach ins Kino, ja?

    Ich nickte. Im Internet fanden wir schnell einen geeigneten Film, tranken aus und machten uns auf. Das Café hatte schon Stühle nach draußen gestellt, so dass wir gemütlich Leute begucken konnten – immer das Schönste am Cafébesuch! „Schau mal, die da!, tuschelte Anna. „Wie kann man bei solchen Fettmassen ein Häkeltop tragen? Schaut ja grauenhaft aus!

    „Mhm. Hast du den Kerl mit der verspiegelten Brille und dem Dschingis-Khan-Schnurrbart gesehen? Wie aus den Siebzigern! Jason King oder so..."

    „Ob er wohl auch eine Wildlederjacke mit innen Pelz hat und außen bestickt? Wäre stilecht! Weißt du noch, der Schulmädchenreport, denn wir vor ein paar Wochen zusammen geguckt haben? Da sah der Verführer doch genauso aus, nicht?" Ich kicherte begeistert und hätte mich fast an meinem Fruchtcocktail verschluckt.

    „Jetzt schau dir die an! Das gibt´s ja wohl nicht!"

    Es näherte sich eine Familie, bei der alle, Vater, Mutter und drei Kinder, identische T-Shirts mit dem Familiennamen drauf und dazu Häkelmützen trugen. Dass Vater und Kinder sich das gefallen ließen? Die hässlichen Dinger hatte garantiert die Mutter fabriziert, die sah schon so aus. „Ich sehe richtig, wie sie auf dem altdeutschen Sofa sitzt, den Mutantenstadel guckt, ein bisschen mitsummt und häkelt. Und der Papa daneben!"

    „Nein, widersprach Anna, „du hast nicht auf seinen T-Shirt-Rücken geguckt. Der ist Hobbyfunker, wetten? Er verbringt die Abende im Keller. Und sicher geht er erst ins Bett, wenn seine Alte schon pennt. Auf die hätte ich auch keine Lust! Stimmte, Mutters Miene wirkte reichlich verkniffen. Aber Albert, nicht schon wieder, wir haben doch schon drei Kinder...

    Anna zündete sich eine Zigarette an und wandte sich mir zu. Plötzlich stand richtiger Ernst in ihrem Gesicht. „Xenia, warum willst du dir das antun?"

    „Was denn?" Ich verstand nicht recht, worauf sie nun anspielte.

    „Das mit Paul. Du endest über kurz oder lang in der gleichen Spießeridylle!"

    „Ich werde Paul nie einen Hut häkeln", widersprach ich, um das Thema ins Lächerliche zu ziehen.

    „Lenk nicht ab, verlangte Anna streng. „Du weißt genau, dass Paul ein wahnsinniger Spießer ist. Ich bitte dich, dieses grässliche Häuschen, an dem er immer herumbastelt! Seine starrsinnigen Angewohnheiten! Seine Besserwisserei! Dieser Vaterattitüde! Ist er wenigstens gut im Bett?

    Ich nahm einen Schluck und spürte, wie meine Wangen zu brennen begannen.

    „Also nicht, stellte Anna resigniert fest. „Wusste ich´s doch!

    „Anna, bitte, murmelte ich, peinlich berührt. „Müssen wir das hier besprechen?

    „Nein, du hast Recht. Komm, vergiss das Kino, das machen wir nächste Woche oder so. Gehen wir ins Salads, da ist um diese Zeit niemand und wir können uns in Ruhe unterhalten."

    Ja, das war besser, ich hatte nicht die geringste Lust, mein Liebesleben in einem überfüllten Straßencafé zu diskutieren. Was wollte Anna überhaupt?

    „Was ich will?, fragte sie entrüstet, als wir uns im Salads in die hinterste Ecke verzogen hatten. „Mädel, du bist sechsundzwanzig, und du willst dich auf eine Zukunft einlassen, die noch einer Fünfzigjährigen zu langweilig wäre! Kannst du dir echt vorstellen, dein ganzes Leben in diesem Winzhäuschen mit Putzen zu verbringen, drei kleine Pauls großzuziehen und jedes Wochenende keinen Orgasmus zu haben? Ist das alles, was du dir vom Leben wünschst?

    Ich ärgerte mich über Anna, vor allem deshalb, weil ich das dumpfe Gefühl hatte, dass an ihren Argumenten etwas Wahres war. Aber sie verstand mich nicht, und das sagte ich ihr auch.

    „Dann erklär´s mir! Ich verstehe wirklich nicht, was dir an Paul gefällt. Sicher, er ist ein herzensguter Kerl "

    „Eben! Und er ist zuverlässig!"

    „Ich finde, Zuverlässigkeit wird überschätzt", behauptete Anna und trank ihr Glas nachdrücklich aus.

    „Finde ich nicht. Schau, du bist in einer braven Familie aufgewachsen, alle haben dich behütet und sich um dich gekümmert, deshalb brauchst du das jetzt wohl nicht mehr. Ich brauche es noch, und Paul kann es mir geben. Mir ist das wichtiger als Spannung!"

    „Warum brauchst du das noch? Wegen deiner Eltern?"

    Ich brummte zustimmend. Anna kannte die Geschichte doch! Meine Eltern waren reizend gewesen, aber sehr unbeständig. Vielleicht waren sie auch zu jung gewesen, als ich auf die Welt kam, beide noch nicht einmal zwanzig. Wenn sie da waren, kümmerten sie sich intensiv um mich, aber sie waren oft nicht da, sie reisten zu gerne, und immer in Gegenden, die sich für ein kleines Mädchen nicht eigneten, in den australischen outback, nach Indien (letzte Nachwehen des Hippietums), zum Mardi gras nach New Orleans... Also wurde ich bei Mamas Eltern abgestellt, bei Freunden oder bei Nachbarn, und in den frühen Jahren fühlte ich mich dann immer sehr verlassen, ich konnte nicht glauben, dass sie wiederkämen, und überlegte verzweifelt, was ich falsch gemacht haben könnte, um sie zu vertreiben. Mit elf hatte ich mich an die Situation gewöhnt und war nun sicher, dass sie zurückkämen. Und dann kamen sie tatsächlich nicht mehr zurück – eine Hängebrücke im Regenwald war offenbar doch morscher gewesen, als sie aussah.

    Ich blieb bei meiner Großmutter, bis ich volljährig war, dann legte ich das Geld aus der (ungewohnt bürgerlich abgeschlossenen) Lebensversicherung krisenfest an und zog in eine eigene kleine Wohnung, fest entschlossen, emotional nie wieder von einem Menschen abhängig zu sein. Sie machten sich ja doch alle aus dem Staub! Als meine Großmutter vor drei Jahren gestorben war, war dieses Gefühl wieder sehr stark geworden. Ich kannte auch nur zwei Sorten Menschen: brave, zuverlässige, ein bisschen langweilige, wie Paul, und die schillernden Persönlichkeiten, die Sachen sagten wie Morgen? Morgen kann ich nicht, ich habe gerade beschlossen, ein halbes Jahr durch Thailand zu trampen, um mich selbst zu finden. Verstehst du doch, ja? Da konnte man nur nicken und den Betreffenden im Geiste abhaken. Und wieder hatte ich es nicht geschafft, jemanden festzuhalten!  Paul dagegen blieb, auf ihn konnte ich mich verlassen, und das war mir mehr wert als alle Spontaneität. Nur Anna war spontan und blieb bei mir – aber bei Freundinnen war das ja etwas anderes.

    „Ach, Anna, du kennst mich doch! Und bei Paul weiß ich doch, woran ich bin."

    „Stimmt, ich kenne dich. Und deshalb bin ich auch sicher, dass dir dieses Leben auf die Dauer nicht genügen wird. Du langweilst dich doch jetzt schon, gib´s zu!"

    „Ein bisschen, bekannte ich ungern, „aber was soll ich machen? Diese Abenteuertypen verunsichern mich zu sehr. Und Paul ist wirklich ein lieber Mensch.

    „Zu lieb. Und zu festgefahren. Warum ist er eigentlich so? Waren seine Eltern auch so flippig wie deine?"

    „Nein, die sind genau wie er. Aber er mag sie und wollte wohl genauso leben. Sonst würde er ja wohl kaum sein Leben in seinem alten Elternhaus verbringen wollen. Die Hütte ist das größte Handicap, gestand ich, „ich finde sie scheußlich.

    „Aber Paul renoviert sie doch?"

    „Ja, aber er stellt den Originalzustand wieder her, sie wird nicht modernisiert. Wenn er fertig ist, haben wir ein Museum der sechziger Jahre. Und die Möbel sind so solide, die halten noch ewig. Deshalb gibt es auch keinen Grund, etwas Neues zu kaufen. Das Schlimmste sind die schwachen Stromleitungen. Für Spülmaschine und Trockner wird das nicht reichen, vom Platz ganz zu schweigen. Aber Paul findet ohnehin, dass die Wäsche im Trockner kaputtgeht und von Hand gespültes Geschirr schöner glänzt."

    Ich verstummte ärgerlich. Das hatte ich Anna gar nicht erzählen wollen, es war ja Wasser auf ihre Mühle!

    „Also Paul ist manchmal schon schräg drauf, finde ich. Aber du musst wissen, was du willst. Ein Leben ohne Spülmaschine! Oder will er den Abwasch machen?"

    „Aber nein! Wenn ich mich um die Kinder kümmere, muss ich doch ohnehin zu Hause bleiben, dann fällt auch das Abspülen in mein Ressort. Das haben wir schon festgelegt."

    „Du meinst, er hat das festgelegt? Bist du eigentlich

    sicher, dass er wirklich so anhänglich ist? Vielleicht bleibt er vor allem bei dir, weil du dir wirklich alles gefallen lässt?"

    „Glaubst du echt? Der Gedanke erschreckte mich etwas. „Weiß ich nicht. Könnte doch sein, oder? Du bist einfach die Idealfrau für ihn, du bist mit allem zufrieden. So etwas findet er doch nie wieder!

    „Du hältst mich für blöde, oder?", fragte ich leise.

    „In dieser Hinsicht schon etwas, antwortete sie brutal. „Xenia, du bist jung, gescheit, hübsch. Kannst du nicht mehr vom Leben verlangen als einen Mann, der zuverlässiger ist als deine Eltern? Vielleicht brauchst du mal einen Psychologen, der dir hilft, deine Kindheit aufzuarbeiten.

    „Lass mich bloß damit zufrieden! Das hat mir Pauls Vorgänger schon vorgeschlagen, als er fand, dass ich mich zur Klette entwickelte."

    „In dieser Hinsicht hatte er vielleicht nicht Unrecht. Und möchtest du nicht wenigstens einmal im Leben einen guten Liebhaber haben?"

    „Gibt´s das überhaupt? Du hast doch mal erzählt, Männer schaffen es eh nie, eine Frau wirklich zu befriedigen!"

    „Das hab ich mal gesagt? Ich rede auch viel Schwachsinn, wenn der Tag lang ist... Natürlich gibt es Männer, die das können. Nicht alle, aber manche

    eben schon. Wenn ich da an Gerd denke...."

    „Ist das dein Neuer?"

    Anna nickte versonnen, und ihre blauen Augen funkelten, offenbar erinnerte sie sich an eine unvergessliche Nacht. „Traumhaft, sag ich dir. Gut, in mancher Hinsicht ist er ein bisschen seltsam, aber im Bett..."

    „Seltsam? Inwiefern?" Anna hatte schon immer seltsame Typen angezogen, vielleicht weil sie so harmlos aussah mit ihren blauen Augen, ihren blonden Locken und ihrer Surf Girl-Ausstrahlung. Ich wirkte im Vergleich dazu mit dunklen Augen, lockigem, dunkelrotem Haar und der eher üppigen Figur wohl zu exotisch. Anna war Werbeplakat, ich war eher Gustav Klimt, hatten wir mal festgestellt.

    „Ich kann es so genau noch nicht sagen. Im Bett ist er normal, nur eher besser, ansonsten – naja, er ist Vegetarier  "

    „Das warst du doch auch schon mal?"

    „ steht auf Stummfilme, liebt Bergsteigen  "

    „Echt krank!", spottete ich.

    „ und will später mal auf einem Einödhof leben, ganz im Einklang mit der Natur."

    „Brr!"

    „Könntest du mal aufhören, zu spotten?"

    „Warum? Du nimmst über Paul doch auch kein Blatt vor den Mund! Darf ich das etwa nicht?"

    Anna musste lachen. „Stimmt. Bist du bei Paul eigentlich auch so frech?"

    „Nein, er versteht es nicht so ganz, wenn ich über etwas spotte. Ironie findet er destruktiv, er hat es gerne, wenn ich positiv bin und immer das Gute in allem sehe."

    „Mich juckt es schon, wenn das bloß höre, murrte Anna, „kann man ihn nicht mal aus seiner spießigen Selbstzufriedenheit schütteln? Und jeden Freitagabend musst du selbst zu Ende bringen, was er angefangen hat?

    Ich nickte verlegen.  „Hattest du überhaupt schon mal einen anständigen Orgasmus bei ihm?"

    „Nein... Woran erkennt man eigentlich einen anständigen Orgasmus?"

    Anna sah mich mit zusammengekniffenen Augen an und wedelte den Rauch ihrer Zigarette weg. „Wenn du es erlebst, weißt du´s. Beschreiben kann man das nicht! Ich werde mal nach einem wirklich guten Lover für dich Ausschau halten."

    „Anna, lass das, ich will Paul nicht hintergehen. Und ich bin sicher, dass ich mit ihm sehr zufrieden leben werde."

    „Zufrieden, aber nicht glücklich!"

    „Glücklich! Wer ist das schon immer? Zufrieden ist mir wichtiger. Und jetzt wechseln wir das Thema!"

    Anna fügte sich, aber sie hatte meine verborgenen Zweifel doch an die Oberfläche befördert: Am Sonntag dachte ich immer noch über das Gespräch nach. Wollte ich wirklich mit Paul den Rest meines Lebens so voraussehbar verbringen? In Kirchfelden West? In diesem Zeitgeistmuseum? Nie wissen, wie richtige Leidenschaft aussah? Pauls Vorgänger waren in dieser Hinsicht auch eher von der schnellen Truppe und wirklich keine Offenbarung gewesen, also hatte ich Sex immer ganz nett, aber nicht besonders wichtig gefunden. Manchmal hätte ich tatsächlich lieber ferngesehen!

    Konnte das alles gewesen sein? Und wollte ich den Job, der mir ab dem ersten Juli in der Pressestelle eines Computerkonzerns winkte, wirklich nach der Hochzeit wieder aufgeben, um das Häuschen zu polieren? Ohne Spülmaschine? Was wäre die Alternative? Ich könnte im Bonifatiushof bleiben, meine Arbeit machen und nebenbei weiter mein Mini-Schreibbüro betreiben. Eigenes Geld, eigenes Leben, Ärger mit den Kerlen, Einsamkeit, auch keine Zukunft... Scylla und Charybdis!

    Alles andere, die große Leidenschaft, die Bestand hatte, war doch ein Märchen! Ich versuchte, meinen Frust in fieberhafte Arbeit umzusetzen, merkte aber, dass ich mich nicht konzentrieren konnte. Als ich schließlich feststellen musste, dass ich in einer germanistischen Magisterarbeit über Peer Gynt dauernd Paul Gynt geschrieben hatte, gab ich es wütend auf. Ich ließ die Ersetze-Funktion darüberlaufen, stopfte meine Sporttasche voll und verzog mich ins Fitnessstudio im Keller, wo ich meinen Ärger an den Geräten auslassen konnte, ohne dabei denken zu müssen.

    „Heute so energisch, Xenia?", fragte der Inhaber und grinste mir zu. Ich knurrte nur und legte mehr Gewicht auf.

    Erst als ich schweißgebadet war und beim Aufstehen merkte, dass mir die Knie zitterten, war ich zufrieden und ließ es für heute gut sein. Das Problem hatte ich aber immer noch nicht gelöst, wie denn auch! Hatte ich mit Paul eine Zukunft? Das bestimmt, aber ob sie mir wirklich gefallen würde – da war ich mir plötzlich gar nicht mehr so sicher. Mein Zorn richtete sich gegen Anna, die den Zweifel in mir geweckt hatte. Was sollte ich denn jetzt tun? Was konnte ich überhaupt tun?

    Wenn ich ehrlich war, musste ich aber zugeben, dass das alles nicht nur Annas Schuld war. Ich hatte mich doch am Freitagabend schon mit Paul gelangweilt! Und wie war meine Einstellung ihm gegenüber, wenn ich mal genauer hinsah? Ich nahm seine Marotten großmütig hin und ihn eigentlich nicht ganz ernst. Für die emotionale Sicherheit, die er bot, lieferte ich ihm doch reichlich wenig! Ich sollte an der Beziehung mit ihm arbeiten, beschloss ich. Es musste doch nicht so langweilig bleiben!

    Ich fuhr wieder nach oben, zog mich um und stopfte meine verschwitzten Sportklamotten in die Waschmaschine. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und schlenderte unschlüssig im Wohnzimmer herum. Sollte ich es noch einmal mit der Magisterarbeit probieren? Am Freitag sollte ich sie fertig haben... Nein, keine Lust. Ich starrte blicklos aus dem Fenster und brauchte fast fünf Minuten, bis ich merkte, dass gegenüber wieder das Licht brannte und der Knabe immer noch keine Vorhänge aufgehängt hatte.

    Hübsch, wirklich... Und schon wieder ohne T-Shirt... Endlich drehte er sich auch mal um (ich zog mich hastig ins Dunkel zurück) und präsentierte eine breite, behaarte Brust. Sehr attraktiv! Ich verglich ihn im Geiste mit dem schmalen, glatten Oberkörper von Paul und schalt mich sofort dumm und oberflächlich. Paul war ein wertvoller Mensch, gut, ein bisschen festgefahren und verspießert – aber das konnte man doch vielleicht ändern? So alt war er doch schließlich nicht, überlegte ich und beobachtete meinen halbnackten Nachbarn weiter aus der dunklen Wohnung heraus; ich durfte mir nur nicht mehr alles gefallen lassen. Anna hatte doch gesagt, ich sei zu willfährig!

    Ich starrte weiterhin in das hell erleuchtete Fenster, hinter dem eifrig aufgeräumt wurde, was das Muskelspiel auf Rücken und Brust gut zur Geltung brachte. Wie könnte ich Paul so ummodeln, dass er weniger langweilig war und gelegentlich auch einmal meine Vorlieben berücksichtigte? Denn das tat er allzu selten, wenn ich ehrlich war. Wie wir leben würden, wie wir im Moment den Freitag und den Samstag miteinander verbrachten, was im Leben wichtig und richtig war – das alles entschied er alleine, und ich hatte es mir gefallen lassen. Damit war jetzt Schluss, ich würde Anna – und mir selbst – schon beweisen, dass Paul gar nicht so unbelehrbar war!

    Und vielleicht, dachte ich mir leicht geniert, könnte ich ihn eines Tages auch noch in einen begabteren Liebhaber verwandeln – obwohl ich wohl kaum die Erfahrung hatte, ihn dabei wirkungsvoll anzuleiten.

    Gegenüber verlosch das Licht, und ich gab meinen Beobachtungsposten auf. Nun konnte ich auch noch einen Teil dieser Magisterarbeit erledigen, und es gelang mir tatsächlich, den Namen Paul herauszuhalten.

    Die folgende Woche verlief trotz meiner guten Vorsätze kaum anders. Ich arbeitete fieberhaft und freute mich über die recht üppigen Einnahmen, telefonierte mit Anna, die mit ihrem Gerd offenbar sinnliche Wonnen höchster Kategorie erlebte, mir aber die wirklich interessanten Details kichernd verschwieg, und überlegte, an welcher Stelle ich bei Paul ansetzen sollte, wenn er am Freitag wieder um halb acht vor der Tür stehen würde: im Bett? Oder sollte ich etwas Ungewöhnliches kochen? Kino oder Kneipe statt Freitagskrimi? Vorschläge zur Ausgestaltung des Häuschens? Spitze Bemerkungen über Heide? Das wohl besser nicht...

    Einige kleine Scherze vielleicht? Wenn man Paul dazu bringen könnte, leichte Ironie interessant und amüsant zu finden... Bis jetzt war ich damit nicht unbedingt erfolgreich gewesen, aber Witze waren mir ja auch nie gezielt, sondern immer nur aus Versehen entschlüpft, so dass ich die Wirkung nicht so recht steuern konnte.

    Sollte ich mal versuchen, Heide kennen zu lernen?

    Oder sähe ich neben ihr nur alt aus? Pauls Äußerungen zufolge war sie für ihn aber keine interessante Frau, sondern nur das Orakel von Delphi.

    Ich beschränkte mich also unter der Woche darauf, so viel zu arbeiten, dass ich mir ein freies Wochenende gönnen konnte, pflegte an mir herum, bis ich mich selbst ziemlich unwiderstehlich fand (wenn man auf handfestere Formen stand), gönnte mir ein hinreißendes Wäscheset aus dunkelblauer, in creme bestickter Spitze und dachte darüber nach, was ich Verführerisches kochen könnte. Pauls Lieblingsessen war Rheinischer Sauerbraten mit Kartoffelknödeln. Nun gut, das kriegte ich doch hin – samt Gurkensalat und Vanilleeis mit heißer Cassis-Sauce dazu, als erste Kostprobe des Unbekannten. Bis Freitag hatte der Braten zwei Tage in der Marinade gelegen, so dass die ganze Wohnung ein bisschen säuerlich roch, aber ansonsten war alles so perfekt geputzt und aufgeräumt, dass auch der größte Freund der fleißigen Hausfrau zufrieden

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