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Existenzfrage: Kriminalroman
Existenzfrage: Kriminalroman
Existenzfrage: Kriminalroman
eBook520 Seiten7 Stunden

Existenzfrage: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Nach der Scheidung will Sissi nur vorübergehend in diesem hässlichen Haus am Keplerweg wohnen, bis ihr klar ist, was sie langfristig machen wird. Aber warum wollte jemand einbrechen? Wer hat sie attackiert? Was soll die Leiche im Wohnzimmer? Welche Rolle spielt ihr zurückgekehrter deprimierter Vermieter Valentin? Und Peter, der neugierige Reporter vom MorgenExpress? Und Bernd, der korrekte Kavalier? Und Franziska, die als Bodyguard angeheuert wurde? Nicht zu vergessen der etwas unflexible Franz Geigelsteiner... Allmählich bildet sich im Keplerweg eine verschworene WG, die trotz weiterer Anschläge nicht das Feld räumt, sondern herauskriegen will, was die Feinde in diesem vergammelten Haus zu finden hoffen und was überhaupt hinter der ganzen Affäre steckt. Die Auflösung verblüfft alle Beteiligten und nicht zuletzt ganz Leisenberg.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum31. Okt. 2015
ISBN9783737561570
Existenzfrage: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Existenzfrage - Elisa Scheer

    EINS

    So lange schon hatten sie nach diesem Umschlag gesucht – quer durch alle Bundesländer und quer durch mehr als zehn Jahre. Jetzt wussten sie immerhin, wo er sich befinden musste.

    Wenn er nicht längst vernichtet worden war.

    Sollte er auch da nicht sein, wo sie ihn jetzt vermuteten, konnte man wohl davon ausgehen, dass er nicht mehr existierte. Aber wer warf einen Umschlag ins Altpapier, ohne wenigstens einmal hineinzuschauen? Und der Inhalt war brisant genug – drei Fotos, unangenehm scharf, ein Zeitungsartikel und zwei kopierte Dokumente.

    Das erste Foto zeigte nur zwei Männer in Uniform, die etwas verkniffen in die Kamera lächelten. So stand es auf der mit Computer getippten Liste ohne Unterschrift. Der Rest war eindeutig brisanter. Brisant genug, um einen ordentlichen Skandal auszulösen und Karrieren zu vernichten.

    2

    „Und hier ist das Badezimmer!"

    Sissi schaute flüchtig in einen in üblicher Weise weißgekachelten Raum – Klo, Dusche, Wanne, Waschbecken, Ablage – alles da. Himmel, sie wollte das Haus für sechs Monate mieten, nicht es kaufen! „Ja, danke, murmelte sie etwas gereizt. „Danke, ich glaube, ich habe alles gesehen.

    „Und Ihnen ist klar, dass Sie die letzten beiden Zimmer im oberen Stock nicht nutzen können? Der Vermieter hat dort seinen persönlichen Besitz abgestellt, weil er doch für ein halbes Jahr -"

    „Ich weiß, unterbrach Sissi die eifrige Maklerin ungeduldig, „das haben Sie mir doch vorhin schon erklärt. Ich kann die Küche, das eine Bad und die beiden Zimmer unten benutzen, oder? Das genügt doch völlig!

    „Vergessen Sie das große Schlafzimmer im ersten Stock nicht!"

    „Nein, keine Sorge. Drei Zimmer sind wirklich mehr als genug. Warum ist die Miete so niedrig?"

    „Weil Herr – äh – Dalberg sicher gehen will, dass Sie nach Ablauf der sechs Monate wirklich wieder ausziehen. Das müssten Sie dann bitte durch Ihre Unterschrift bestätigen. Hier unten, sehen Sie? Wo das Kreuz ist."

    Gott, hielt diese Frau sie denn für eine völlige Idiotin?

    Das Haus war absolut nicht Sissis Geschmack; langfristig schwebte ihr eher eine Dachwohnung mit großem Balkon vor, aber so lange sie so etwas nicht fand, konnte sie genauso gut in diesem Dreißigerjahre-Bau unterschlüpfen. Immerhin war die Lage – fast direkt am Waldburgplatz – recht günstig: kurze Wege zur Arbeit und schön weit weg von der Gegend, in der sie mit Hubert gewohnt hatte. „Frau Hassfurter?"

    „Was? Ach so, ja." Sie unterschrieb hastig und füllte eine Überweisung für Kaution, Provision und die erste Monatsmiete aus.

    „Der Vermieter hat ja einen etwas eigenartigen Geschmack", stellte sie dann fest und betrachtete die Geweihe, die die Wände im Flur zierten.

    „Ich glaube, das ist nicht sein Geschmack, sondern noch der des Vorbesitzers. Herr Dalberg hat das Haus erst vor kurzem gekauft, so weit ich weiß. Eigentlich wollte er es selbst bewohnen." Ja, und dann war ihm diese Reise nach Amerika dazwischen gekommen. Sissi kam so etwas Spannendes leider nie dazwischen, obwohl ihr Leben zurzeit auch nicht gerade in Routine erstarrt war.

    Das Haus verfügte unten über drei Zimmer, eine Küche, ein Gästebad und den jagdhüttenartigen Flur. Alles etwas penetrant in dunkel gebeizter Eiche getäfelt, scheußlich. Oben gab es vier weitere Zimmer, zwei Bäder, einen großen Balkon und darüber noch einen Speicher, den sie sich lieber gar nicht ansehen wollte.

    Der Keller dagegen war spannend – er verfügte noch über einen echten Luftschutzraum mit Eisentüren und eisernen Fensterläden, ausgestattet mit weißlackierten Möbeln, die wohl ehemals zum Dienstmädchenzimmer gehört hatten. Außerdem gab es eine gewaltige Ölheizung, eine Vorratskammer und eine Art Hobbyraum, vollgestopft mit Kästchen und Döschen, als hätte hier jemand jahrelang Verpackungen gehortet. Offenbar hatte der Vermieter das Haus samt (schrottreifem) Inventar gekauft. Der würde noch viel Spaß beim Aufräumen haben, wenn er aus wo-auch-immer in den USA zurück war.

    Was ging es sie an? Sie kannte den Kerl ja nicht einmal, aber wenn er dieses Haus freiwillig gekauft hatte, war er zumindest seltsam. Ob das jemand auch von ihr sagen würde, wenn er sah, was sie da – fast – freiwillig gemietet hatte? Ach, wer sollte das schon sehen? Die meisten Freunde waren ja doch bei Hubert geblieben. Wenn schon, auf solche Freunde konnte sie auch verzichten!

    Sicher, Nadine war noch ihre Freundin, aber die hielt aus Prinzip zur Frau, egal, was zwischen beiden vorgefallen war. So schmeichelhaft war das also auch nicht. Außerdem war Nadine mit ihrem ewigen Gejammer auch nicht unbedingt eine aufmunternde Gesellschaft.

    Das Haus war wirklich seltsam, aber für ein lumpiges halbes Jahr würde es schon gehen. Sie hatte nicht vor, mehr als Küche, Wohnzimmer und Arbeitszimmer im Erdgeschoss und Schlafzimmer und ein Bad im ersten Stock zu nutzen. Den Rest sollte dieser Dalberg von ihr aus ruhig abschließen.

    Als sie das der Maklerin mitteilte, fuhr die regelrecht zusammen. „Aber Herr Dalberg ist doch längst weg! Der muss schon in Kalifornien sein!"

    „Okay, dann schließen Sie eben ab und nehmen die Schlüssel in Verwahrung. Oder was immer Sie für richtig halten. Apropos Schlüssel... wann kann ich einziehen?"

    „Sofort, wenn Sie wollen. Hier, zwei Sätze Hausschlüssel. Der kleine ist für die Garage – ach nein, da steht ja Herrn Dalbergs Auto... was machen wir denn da? Das haben wir mit ihm gar nicht geregelt! Das ist mir jetzt aber peinlich."

    „Mein Gott, dann parke ich eben vor der Garage! Wenn er nicht da ist, kann er ja auch kaum da raus wollen, oder?"

    „Sehr gute Lösung, Frau Hassfurter! Ja, und dieser Schlüssel hier passt für den Briefkasten. Sie müssten bloß noch ein Namensschild..." Als sie den ironischen Blick bemerkte, verstummte sie verzagt.

    Das war ihr erster eigener Abschluss, und dann musste sie gleich an diese ungeduldige und sarkastische Kundin geraten. Sah nicht schlecht aus, die Frau, aber sie wirkte irgendwie streng und verbittert. Geschieden, vermutlich, dachte die junge Maklerin und erinnerte sich zufrieden an ihren eigenen Freund, mit dem sie ihr Leben lang zusammenbleiben würde. Garantiert! Aber diese Frau Hassfurter – die hatte etwas Unglückliches an sich, fand sie. Ziemlich jung noch, vielleicht dreißig, und eigentlich ganz schick, aber irgendwie frustriert... Ach, was ging es sie an.

    Sissi streckte ungeduldig die Hand aus, bis die Maklerin die beiden Schlüsselsätze hineinfallen ließ. „Ich kann also gleich meine Sachen holen? Na prima. Bevor ich es vergesse – gibt es im Erdgeschoss einen Telefonanschluss? Auch fürs Internet? Das gab der Maklerin den Rest; sie stammelte Verwirrtes und Sissi seufzte. „Vergessen Sie´s, ich krieg das auch noch selber raus.

    Eigentlich fand sie das Haus blöd, aber so viele möblierte Behausungen mit drei Zimmern in annehmbarer Gegend gab es eben nicht. Sicher waren die Möbel auch scheußlich, aber Sissi hatte absolut keine Lust, sich für die paar Monate auch noch Möbel zu kaufen. Ja, wenn sie erst einmal die ideale Wohnung gefunden hatte, dann... Einbauschränke, Maßarbeit, richtig perfekte Stücke. Aber jetzt lohnte sich das absolut nicht. Einen kleinen Moment lang trauerte sie ihrer kleinen Empirekommode nach, die immer noch bei Hubert stand. Na, der würde schon einen Grund finden, warum sie eigentlich ihm zustand! Und sich darum streiten – wirklich nicht! Das war unter ihrem Niveau.

    Die Maklerin sah sie erwartungsvoll an. „Ja, ich denke, dann sind wir hier fertig, nicht? Vielen Dank auch, Frau – äh -"

    „Schneider, half die Maklerin eifrig aus und errötete. Sissi lächelte nachsichtig. „- Frau Schneider. Ja, entschuldigen Sie bitte. Wenn es noch Fragen geben sollte – haben Sie eine Karte?

    Sie verwahrte das Kärtchen sorgfältig in ihrem Terminplaner und reichte Frau Schneider höflich die Hand. „Dann auf Wiedersehen!"

    Sie sah Frau Schneider nach, die durch den Schneematsch im Keplerweg davonstakste und schließlich ihren silbernen Ford Ka aufsperrte. Dann seufzte sie tief auf und betrachtete etwas zweifelnd ihre Neuerwerbung. Depressionen konnte man hier kriegen! Und das auch noch im Spätherbst... Der Garten stand voller großer, kahler Bäume, die sogar unbelaubt noch Düsternis verbreiteten, und warum jemand das Haus in diesem trüben Graubraun hatte verputzen lassen, mochten die Götter wissen. Kein Geschmack? Farbenblind? Freudloser Charakter? Oder der Dreck der letzten siebzig Jahre?

    Sie zuckte die Achseln und ging hinein, um wenigstens im Wohnzimmer die Heizung hochzudrehen und in der Küche den Kühlschrank einzuschalten.

    3

    Es war ihr, sobald sie die Kiste, zwei Koffer, die Reisetasche und diverse Plastiktüten im Auto verstaut hatte, ein besonderes Vergnügen, das Zimmer im Appartementhotel zu kündigen – saftige Preise für ein winziges Kabuff und so gut wie keinen Service, nicht einmal der Fernseher ging richtig, und frische Handtücher hatte es nur einmal die Woche gegeben. Von wirklich heißem Wasser in der Dusche, dichten Fenstern und anständigen Matratzen wollte Sissi ja gar nicht reden. Das pampige Mädchen an der Rezeption fertigte gelangweilt die Rechnung aus. „Hatten Sie was aus der Minibar?"

    „Natürlich nicht – bei den Preisen! Und bevor Sie fragen, ich hatte auch den Pornovideoservice nicht. Und kein Essen aufs Zimmer."

    „Das sehe ich selbst."

    Der Drucker begann zu surren und spuckte ein Blatt aus. Sissi schob ihre Kreditkarte über den Tresen und ließ gelangweilt ihren Blick über die Brieffächer und die Schlüssel wandern. Ach ja, ihren musste sie auch noch abgeben – der sperrige Holzanhänger beulte ihr ohnehin die Hosentasche aus.

    Sie unterschrieb den Beleg – rausgeschmissenes Geld, leider! – und schob das Original samt Schlüssel über den Tresen; dafür erhielt sie den gelben Durchschlag und ihre Karte zurück.

    „Viel Spaß hier noch", wünschte sie dann und schwang sich die voll gestopfte Umhängetasche über die Schulter, bevor sie lässig durch die quietschende Drehtür entschwand. Klasse – eine halbe Stunde vor der Tür geparkt, und schon ein Strafzettel! Blödes Kaff, dachte Sissi, als sie das feuchte Formular unter dem Scheibenwischer hervorklaubte, nichts klappt hier, aber die Politessen sind fleißig. Wahrscheinlich war die Stadt so pleite, dass sie von den Strafzetteln leben musste. Wenn man sich das feiste Gesicht des Ersten Bürgermeisters ansah... und das hungrige des Zweiten – ein richtiges Ganovenpärchen, Filz, Amigos, was man nur wollte. Seufzend stieg sie ein und ließ den Motor an. Auf in eine anständige Behausung! Anständig? Naja!

    Gott sei Dank musste – nein, durfte! – sie morgen wieder arbeiten.

     Der heutige Tag würde komplett für Haushaltslästigkeiten draufgehen, aber morgen – sie freute sich schon wieder auf ihr elegantes Büro, auf die sachlichen, zurückhaltenden Kollegen, die ihr nicht einmal zur Scheidung kondoliert hatten, das Designerfood in der Mittagspause, die weißen Wände ganz ohne Hirschgeweihe...

    Sie seufzte wieder und bog in Richtung Waldburgviertel ab. Hoffentlich wohnten im Keplerweg nicht zu viele lästige Leute! Auf Kontakte mit den Nachbarn legte sie keinen übertriebenen Wert. Absolute Horrorvorstellung: Wir machen jetzt alle zusammen ein Straßenfest, damit wir uns mal so richtig kennen lernen. Dann lieber zurück in ein Appartementhotel – aber ein besseres.

    Der Keplerweg war menschenleer, sehr gut. Sissi fuhr den Wagen in die Einfahrt und parkte so, dass die geöffnete Heckklappe genau neben der Haustür war, dann trug sie in Windeseile ihr ganzes Gepäck hinein, knallte die Heckklappe wieder zu, betätigte die Fernbedienung und schloss die Haustür hinter sich. So, was jetzt?

    Mutlos betrachtete sie den Kram. In jedem Behältnis herrschte Durcheinander, weil sie so hastig gepackt hatte, also konnte sie nicht einmal entscheiden, was nach oben gehörte und was nicht. Nur eins war klar: Die Knoblauchpresse und die Thermoskanne gehörten in die Küche, mehr Küchenkram besaß sie gar nicht.

    Alles bei Hubert, sollte er doch damit glücklich werden...

    Schließlich raffte sie sich auf und zog den Reißverschluss der ersten Tasche auf. Aha, Bettwäsche, eine Handvoll Bücher, ein halbvolles Duschgel, eine Plastiktüte mit Schreibtischkram, Socken, zwei Paar Schuhe, ein zusammengerollter Schal, eine Handtasche...

    Sie verteilte den entsprechenden Kram im unteren Stockwerk und schleppte die Reste nach oben. Das vordere Schlafzimmer hatte wenigstens ein anständiges Bett mit harter Matratze, und darauf lagen sogar eine etwas muffige Daunendecke und ein fleckiges Kissen. Hatte die Maklerin nicht was von Waschküche gesagt?

    Im Keller fand sich nichts dergleichen. Sissi sah sich ratlos um. Das gab´s doch gar nicht – ein Luftschutzraum war da, aber keine Waschküche?

    In der Küche, die weniger historisch, eher funktional wirkte (weißes Resopal allenthalben), entdeckte sie schließlich in der Ecke eine Waschmaschine und einen Trockner. Zweifelnd betrachtete sie sich die Geräte. Ob die wohl noch funktionierten? Lief das Wasser überhaupt noch?

    Doch, der Hahn am Spülbecken funktionierte. Vielleicht sollte sie mal Waschpulver einkaufen. Und etwas zu essen? Ihr Magen knurrte jedenfalls vernehmlich, und anders als bei diesem grässlichen Appartementhotel gab es hier auch keinen MacDonald´s schräg gegenüber.

    Sie schloss das Haus sorgfältig ab und fuhr einige Zeit durch die Gegend, bis sie einen Supermarkt entdeckte. Eher klein, aber er bot das Nötigste an. Mit einer Tüte voller Lebensmittel, Waschpulverkissen, Raumparfum gegen den muffig-unbewohnten Geruch im Haus, einem Universalputzmittel und einer Packung Vliestücher kam sie wieder nach Hause – eine Flasche Scotch hatte sie sich mühsam verkniffen. Zum Saufen war jetzt keine Zeit, auch wenn sie es sich bestimmt verdient hätte!

    Sie breitete alles in der Küche aus, schichtete Wurst, Käse, Eier und Butter in den Kühlschrank, stopfte das unappetitliche Kopfkissen mit einem Gelkissen in die Waschmaschine und hoffte das Beste. Als die Maschine trocken zu laufen begann, drehte sie hastig den kleinen Hahn dahinter auf. Na endlich!

    Bis sie das Kissen nass und zusammengefallen aus der Maschine nehmen und in den Trockner stopfen konnte, hatte sie immerhin schon ihre Kleider aufgehängt, das Bad einigermaßen eingerichtet (wenigstens hatte sie bei ihrem hastigen Auszug einige anständige Handtücher an Hubert vorbeigeschmuggelt), ihren Rechner im Arbeitszimmer aufgebaut und sich bei ihrem Provider umgemeldet. Das war ohnehin das Allerwichtigste.

    Mittlerweile hatte sie schon wieder keine Lust mehr. Mit letzter Kraft raffte sie sich auf, suchte einige Teller, Gläser, Töpfe und etwas Besteck aus den verstaubten Schränken zusammen und füllte die Spülmaschine damit.

    Früher Nachmittag: Jetzt könnte eine interessante Sitzung sein, und stattdessen versuchte sie, dieses vergammelte Haus bewohnbar zu machen!

    Immerhin wurde das Kissen im Trockner nahezu perfekt – dick, weich und wohl duftend, von den Flecken war fast nichts mehr zu sehen. Sie bezog ihr Bett, widerstand der Versuchung, einfach hineinzufallen, und wischte stattdessen mit einem der neuen Lappen über alle Flächen im Schlafzimmer. Schlafen und duschen konnte man hier schon, zur Not wenigstens. Und sich anziehen.

    Essen auch, wenn sie daran gedacht hätte, die Spülmaschine einzuschalten. Und sich frei bewegen, wenn die Behältnisse nicht immer noch halb gefüllt als Stolperfalle im Flur gestanden hätten. Nein, jetzt reichte es trotzdem erstmal!

    4

    Wie Hubert es geschafft hatte, diese Blitzscheidung durchzuziehen, war ihr immer noch ein Rätsel, überlegte sie, als sie langsam durch die Straßen ihrer vorübergehenden Heimat schlenderte und den teils skurrilen, teils prachtvollen Villen links und rechts kaum einen Blick gönnte.

    Andererseits hatte sie nach seinen Worten auch keinen Grund mehr gesehen, die Sache irgendwie hinauszuzögern. Sie war so schnell wie möglich ausgezogen und hatte nur das Nötigste mitgenommen - was brauchte man außer den Kreditkarten, dem Handy und dem Rechner schon groß? Vielleicht noch Souvenirs an diese misslungene Ehe? Ganz bestimmt nicht! Danach hatte sie sich im Appartement-Hotel verkrochen. Ihre Anwältin hatte zwar pausenlos den Kopf geschüttelt, aber bei Gütertrennung gab es nicht viel zu regeln, und sie hatte ja einen gut bezahlten Job und ihr eigenes Vermögen.

    „Warum wehren Sie sich nicht?", hatte sie dauernd gefragt und nie verstanden, dass man einen Kerl, gegen den man sich wehren musste, gar nicht mehr haben wollte. Eine Ehe, um die man kämpfen musste, war es nicht wert. Ihre Mutter hatte das – stundenlang in den Hörer zeternd – natürlich anders gesehen, aber das war Sissi völlig egal. Sollte Hubert doch seinen Kumpel Frajo heiraten, wenn er dem mehr vertraute als ihr! Was ging es sie noch an?

    Die Scheidung war durch, ihren Kram konnte er von ihr aus behalten (oder doch nicht, so oft, wie sie darüber nachdachte? Lieber nicht zu genau die eigenen Gefühle erforschen!), und sie würde sich wieder etwas Eigenes aufbauen. Drei vergeudete Jahre.

    Oder doch nicht, jetzt wusste sie wenigstens, was von Männern zu halten war, die insgeheim Frauen gar nicht mochten. Ja, dafür schon, aber ihnen nicht trauten. Immerhin war sie jetzt zweiunddreißig, geschieden, solo und ohne Zuhause. Das Hirschgeweihmuseum war nur ein besserer Unterschlupf, kein Zuhause. Außerdem konnte man sich in sechs Monaten kaum irgendwo einleben. Sissi schlurfte weiter vor sich hin, kickte eine schon etwas beschädigte Kastanie vor sich her und versuchte, nicht an Hubert zu denken.

    Verdammt, so schwer würde es ja wohl nicht sein, einen Besseren zu finden. Die Welt musste voller Männer sein, die besser waren als Hubert, er war schließlich nicht mehr zu unterbieten.

    Außerdem war das nicht unbedingt eilig, beschloss sie energisch. Erst einmal würde sie sich in die Arbeit stürzen, sich, wenn es so weit war, eine richtig schöne Wohnung einrichten, und dann ganz langsam, nach einer angemessenen Erholungspause, das Angebot sichten.

    Nur keine unnötige Hast!

    Jedenfalls hatte sie von Männern erst einmal die Nase gestrichen voll. Es gab schließlich andere Hobbys, stellte sie fest, als sie merkte, dass ihr Spaziergang sie ins Univiertel geführt hatte und sie vor einem großen Drogeriemarkt stand.

    Zweiunddreißig – so jung war das auch nicht mehr. Intensive Pflege war angesagt! Und in diesem Drogeriemarkt gab es die verlockendsten Sächelchen, Cremes mit geheimnisvollen Zusätzen (sicher frei erfunden), die die Hautalterung hemmten, Zahncremes, die Zähne weiß und kräftig machten, Badezusätze, die entspannten und anregten (wenn auch wohl nicht gleichzeitig), schöne Kerzen im Kombipack mit Wellness-Musik: warum nicht? Für stille Abende im Jagdmuseum? Vitamine für und gegen alles und jedes, Nagellack in den unglaublichsten Farben, jede Menge Neuerscheinungen auf dem Parfumsektor, allerdings rochen sie alle ähnlich, nach einer Mischung aus Pfirsich und Moschus. Angewidert wischte Sissi sich den Handrücken an den Jeans ab.

    Nussmischungen, streng ökologisch korrekt, und – ha! – die Ökogummibärchen aus reinem Kirschsaft.

    Sissi lud sich den Wagen voll, nahm noch einige Duftsäckchen für die Wäsche mit (der Kleiderschrank hatte einen leicht stockigen Geruch verströmt) und rollte sehr befriedigt zur Kasse. Jetzt noch eine Buchhandlung und dann gebadet, eingecremt und wohl duftend früh ins Bett und nett geschmökert.

    Wozu eine Buchhandlung? An der Kasse stand ein Drehständer mit Taschenbüchern. Zwischen all den Wie-ich-Mann-und-Kinder-durch-eine-heimtückische-Krankheit-verlor-und-trotzdem-meinen-Lebensmut-behielt-Schinken fanden sich einige Fantasyromane und glücklicherweise auch ein verirrter Krimi von Boris Akunin, den sie noch gar nicht kannte. Tod des Achilles... sehr viel versprechend! In den Wagen damit!

    5

    Die Sonne versank ausgesprochen dekorativ im Pazifik und malte einen glühenden Streifen auf die ölig wirkende Wasseroberfläche. Für den Spätherbst war es hier in Kalifornien wirklich noch erstaunlich warm.

    Zuhause in Bayern schneite es wahrscheinlich schon und die Menschen hasteten nach Weihnachtsgeschenken herum. Das taten sie hier auch, aber hier wirkte der Weihnachtsrummel so kitschig und übertrieben, dass er Valentin kein bisschen an zu Hause erinnerte. Gott sei Dank.

    Vor solchen Erinnerungen war er schließlich geflohen - und er war regelrecht dankbar dafür, dass hier alles anders war. Statt Schneematsch warmer Sand in den Schuhen, statt ernster Gesichter vergnügte, oberflächliche Kameradschaftlichkeit. Hier nannten sie ihn Val und interessierten sich nur für seine Softwareentwicklungen, niemand sah ihn betroffen an und fragte mit umflorter Stimme, ob er sich schon von seinem Verlust erholt habe.

    Verlust – das hatte sich immer angehört, als hätte er sein Handy im Bus liegen gelassen, nicht, als sei ein geliebter Mensch plötzlich nicht mehr da. Er wollte doch nicht mehr daran denken!

    Vorwärts blicken! Heute Abend hatte er eine Verabredung mit Liz und Tony in einem Szenelokal in Santa Monica. Glücklicherweise würden sie ihn abholen, er neigte immer noch dazu, schneller zu fahren als es hier erlaubt war. Außerdem machten diese Automatikgetriebe auch nicht den geringsten Spaß.

    Jutta war so gerne Auto gefahren – nein. Weg mit diesen Gedanken, sonst kam er doch nie davon los. Vielleicht lenkte es ihn ab, wenn er an Irene dachte, ihre Würde, ihre geistreichen Äußerungen, ihre beeindruckende Ruhe – und ihren elenden Tod. Nein, auch das nicht.

    Was war an ihm, dass alle Frauen starben? Jutta, Irene, Verena... brachte er Unglück? Andere hatten ihn unbeschadet überstanden, aber die hatte er auch nicht so geliebt. Oder redete er sich das im Nachhinein ein? Allmählich wurde es dämmerig. Das passte ausgezeichnet zu seiner Stimmung – dunkel und tot. War er dazu verurteilt, alleine zu bleiben, weil seine Frauen starben?

    Nach Juttas Tod hatte die Polizei ihn schon sehr seltsam angeschaut – so, als verdächtigten sie ihn, etwas damit zu tun zu haben. Natürlich war das Blödsinn, niemand konnte es schließlich besser wissen als er selbst. Aber warum es passiert war... hatte es doch an ihm gelegen? Indirekt, sozusagen?

    Vielleicht stellte er zu hohe Ansprüche an seine Freundinnen, und das schwächte dann ihr Immunsystem oder ihr Nervenkostüm... Blödsinn, das alles war nur eine Kette tragischer Zufälle gewesen.

    Er seufzte und erhob sich, klopfte sich den Sand aus den Chinos und schlenderte zurück zu seinem Haus. Gemietet natürlich. Kurz dachte er an das Haus, das er in Leisenberg gekauft hatte. Hässlich wie die Nacht finster, aber eine echte Herausforderung. Das würde ihn ablenken, und zwar monatelang, wenn er erst wieder zurück war. Bis jetzt hatte er ja nicht mehr geschafft, als all seinen Kram – sehr viel war es nicht – und das bisschen, was ihm von Jutta geblieben war, sozusagen in einer Ecke aufzustapeln.

    Bevor er auch nur einen Besuch im Baumarkt oder einen Anruf bei geeigneten Handwerkern ins Auge fassen konnte, war der Anruf aus Santa Monica gekommen, und er hatte es gerade noch geschafft, das Maklerbüro, das den Kauf vermittelt hatte, zu beauftragen, das Scheusal für ein halbes Jahr zu vermieten, billig, aber das Geld konnte bei den zu erwartenden Sanierungskosten nicht schaden. Und außerdem wurde das Haus so wenigstens beheizt und bewacht.

    Er hatte gehandelt wie ein Zombie, telefoniert, gebucht, gepackt, angeordnet, delegiert – schließlich musste der Betrieb ja weiter laufen – aber sich kaum einen nichttechnischen Gedanken und schon gar kein Gefühl gestattet. War das eigentlich normal? Jutta war schon fast zwei Jahre tot, und er hatte den Geschmack am Leben immer noch nicht wieder gefunden.

    Ach, kein Wunder, dachte er, während er mehr oder weniger lustlos duschte und sich in Hemd und Anzug quälte. Nach dem dritten Mal konnte man schon nachdenklich werden. Und nie war er dabei gewesen – vielleicht hätte er etwas tun können, etwas verhindern...? Bei Krebs ja wohl nicht, aber Tabletten... und wenn er an diesem Nachmittag am Strand geblieben wäre, anstatt sich mit dem Autoverleiher herumzuzanken... wenn er Verena diese dämliche Luftmatratze weggenommen hätte... wenn er energischer darauf bestanden hätte, dass Jutta ihm sagte, was sie bedrückte... wenn – ja, wenn er alles anders gemacht hätte…

    Er war eigentlich hergekommen, um zu vergessen – gut, und um wegen der Softwarelizenzen zu verhandeln und damit Kapital satt zu beschaffen – aber das schien nicht zu klappen. Er musste sich eben daran gewöhnen, alleine zu leben. Oder nur ganz unverbindliche Beziehungen zu haben. Den flüchtigen Bekanntschaften ging es heute immer noch glänzend.

    Flüchtige Beziehungen lagen ihm nur leider nicht, er wollte die große Liebe. Scheiß-Romantik. Er hatte die große Liebe dreimal gehabt, und dreimal hatte es in einer Katastrophe geendet – wenn das kein Zeichen war!

    Vielleicht würden Liz und Tony ihn ablenken. Aber hoffentlich brachten sie nicht wieder eine gute Freundin mit! Das ist Brenda, sie ist frisch geschieden und hat einen kleinen Sohn, der sich brennend für Computer interessiert... Und dann gequälter Smalltalk...

    6

    Sissi lag auf dem Sofa und sah sich durchaus zufrieden um. Auf dem Couchtisch mit der hässlichen Kachelplatte brannten die Duftkerzen (Nelke und Sandelholz), im Dämmerlicht konnte man das allzu Rustikale nicht mehr deutlich erkennen, die Wellness-Musik hatte wirklich eine entspannende, fast schon einschläfernde Wirkung. Außerdem hatte sie sich ein sehr befriedigendes heißes Bad gegönnt, einen Teller Suppe gegessen, ein bisschen durch die Nachrichten gezappt und ihre Businesstasche für morgen gepackt und in den Flur gestellt. Ja, sogar die schwarzen Pumps hatte sie auf Hochglanz poliert!

    Sie kam sich fast vor wie als Kind, wenn sie ausnahmsweise ihre Schultasche rechtzeitig gepackt hatte und im Nachthemd noch ein bisschen mit fernsehen durfte – natürlich nur bis maximal neun Uhr.

    Ihr Elternhaus hatte auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Jagdhütte hier gehabt, nur war es deutlich kleiner und es gab nur ein einziges Hirschgeweih – nein, einen Rehbock, im Flur, an dem die Hüte ihres Vaters gehangen hatten.

    Ob ihre Mutter dieses Ding immer noch im Flur hängen hatte? Sie hatte seit Jahren nicht mehr darauf geachtet, und bei all diesen Umgestaltungen... wahrscheinlich lag das Ding längst im Keller.

    Mutter und der Rehbock – sehr unwahrscheinlich: Was würden ihre Freundinnen dazu sagen? Die Freundinnen, mit denen sie sich einmal in der Woche traf, zum Canasta-Spielen (für Bridge hatte es anscheinend nicht ganz gereicht) und zum Austausch von „Neuigkeiten", also von Klatsch und Tratsch, garniert mit dezenter Angabe.

    Sissi sah die Damen so richtig vor sich, frisch vom Friseur kommend (Meine Liebe, hast du eine neue Frisur? Sehr elegant!), in gepflegten Kostümen, vorzugsweise in tauben- oder lavendelblau, in halbhohen Pumps mit kleinen goldenen oder silbernen Verzierungen an der Seite, in den dünnsten und unauffälligsten Stützstrümpfen, die sie finden konnten, und reich mit Ringen und Broschen ausgestattet. Broschen waren Erbe, die zeigten, dass man nicht irgendwer war, sondern einmal Großeltern und Großtanten gehabt hatte, die einem Schmuck vererben konnten. Wie die Broschen den guten Stall markierten, markierten die Ringe – die sich von den fleischigen Fingern garantiert nicht mehr abziehen ließen – den Erfolg im Leben, denn Ringe (nicht nur den Trauring) schenkte einem der Mann, den man ergattert hatte. Der Ehemann (ehrfürchtig auszusprechen!). Nicht, dass eine der Damen auch nur die geringste Ehrfurcht vor den ausnahmslos bereits verstorbenen Gemahlen bezeugt hätte – von dezentem Kichern begleiteter Erfahrungsaustausch hinsichtlich männlicher Macken war an der Tagesordnung. Nein, der Ehemann an sich war ein Statussymbol, denn – und daran glaubten die Damen allen Ernstes – ihn einzufangen und dann zu umsorgen war schließlich der Lebenszweck einer Frau! Sissi musste demnach als Versagerin gelten, als eine, die ihrer Mutter Schmach und Schande bereitet hatte und deren tragisches und selbstverschuldetes Geschick – für das Gelingen einer Ehe war alleine die Ehefrau zuständig – einigen Gesprächsstoff hergab.

    Da konnte Mutter ja nur froh sein, dass es auch noch Doro gab, dachte Sissi spöttisch und räkelte sich auf dem hässlichen, aber erstaunlich bequemen Sofa. Doro hatte wirklich immer programmgerecht funktioniert: Mäßige Schulleistungen, aber ein bildhübsches Kind. Ein Abitur mit nicht weiter erwähnenswertem Schnitt, aber bereits ein fester Freund. Zwei Semester Kunstgeschichte, aber die Mittagspause immer in der Cafeteria der Zahnmediziner verbracht. Natürlich nur, weil dort der Kaffee besser war!

    Dort hatte sie Detlef geschnappt (alleine schon der Name war ein Scheidungsgrund), der kurz vor dem Staatsexamen stand, Traumnoten hatte, promovieren wollte – was nicht jeder Zahnarzt auf sich nahm, wie Mutter seitdem nicht müde wurde zu betonen – und, am allerbesten, eines Tages die Praxis seines Vaters übernehmen würde. Staatsexamen, Heirat, Doro war für das gemütliche Heim zuständig und gestaltete es so, dass es absolut mehrheitsfähig war und keinen Funken eigenen Geschmacks bewies.

    Nach angemessener Frist erst einen Erben für die Praxis, Florian, und dann ein Schwesterchen, Jennifer, damit Florian lernte, mit jungen Damen charmant umzugehen. Im Moment äußerte sich der Charme noch darin, dass er ihr Legosteine an den Kopf warf und verkündete, Mädchen seien sowieso bescheuert. Und beide Kinder so intelligent! Diese drolligen Aussprüche! Und Doros Glück als Mutter! Denn insgeheim, nicht wahr, sehnt sich ja doch jede Frau nach Kindern, und dass diese modernen Karrierefrauen heute damit so lange warten... wir damals waren junge Mütter für unsere Kinder. Wer will schon für die Oma gehalten werden?

    „Na, Sissi, wird es für dich nicht auch langsam Zeit? Du bist doch auch schon bald dreißig, oder?" Das folgte an dieser Stelle regelmäßig, wobei sich die Freundinnen abwechselten. Auch ein Grund, warum Sissi darauf achtete, selten und nicht mehr während der Canastarunden bei ihrer Mutter aufzutauchen. Mürrisch zu korrigieren, dass sie bereits über dreißig sei, wurde nicht als hinreichende Antwort akzeptiert.

    Und jetzt hatte sie auch noch in ihrer Ehe versagt! Da sollte sie sich lieber eine Zeitlang rar machen, um Mutters Status nicht noch weiter zu ruinieren, gerade jetzt, wo Frau Treifels Jüngste diese glänzende Partie gemacht hatte. Sissi wünschte der affigen Claudia, dass sich der Knabe als Crackdealer herausstellte, aber das war wohl kindisch. Außerdem hatte Frau Treifel den Schwiegersohn in spe garantiert von ihrem Anwalt durchchecken lassen.

    An Hubert hatte Mutter nichts auszusetzen gehabt... Betriebswirt, eigene Firma, großes Haus, passendes Alter. Das er sich als miese Ratte entpuppt hatte, die glaubte, Frauen lögen, wenn sie nur den Mund aufmachten, krankhaft eifersüchtig noch dazu, war egal. Außerdem hätte Mutter das auch schlecht herausfinden können, das hatte Sissi ja selbst zu spät gemerkt.

    Mutter zufolge war es eine der negativen Erscheinungen der modernen Welt, dass Ehefrauen über eigenes Geld verfügten – ohne Beruf und ohne eigenes Kapital hätte Sissi ja bei Hubert bleiben müssen, notgedrungen. Und dann hätte Mutter ihren Freundinnen erzählen können, wie Sissi ihre Ehe gerettet hatte, anstatt beichten zu müssen, dass sie der Scheidung freundlich (sogar begeistert!) zugestimmt hatte. Ob Doro eigentlich glücklich war? Oder stellte sich ihr die Frage gar nicht, mit zwei kleinen Kindern, ohne Beruf? Wahrscheinlich hatte sie ihren Anteil an Vaters Erbe freudig ihrem Detlef anvertraut, damit er es gewinnbringend investierte.

    Hubert hatte damals tatsächlich angesäuert reagiert, als Sissi auf Gütertrennung beharrt hatte und außerdem der frevelhaften Ansicht war, ihr eigenes Vermögen könne sie selbst recht gut verwalten. Sie war aus dem Nemax-Boom rechtzeitig ausgestiegen und hatte in Renten- und Geldmarktfonds umgeschichtet, so dass sie heute noch über alles verfügte, was ihr der Boom eingebracht hatte. Das war gar nicht so wenig, für die angestrebte Dachwohnung mit Terrasse (zweieinhalb oder drei Zimmer) reichte es allemal, außerdem für ein kleines Zubrot zum Gehalt, ein bis zwei schicke Reisen pro Jahr (vielleicht mal eine Kreuzfahrt? Karibik oder Baltikum?) und bei Bedarf ein anständiges neues Auto.

    Wenn man sich hier so umsah, sollte man zwar nicht glauben, dass sie sich auch etwas Anständiges leisten konnte, aber schließlich war die Jagdhütte nur eine Übergangslösung, und sie hatte nicht vor, hierher großartig Leute einzuladen. Wen denn auch?

    Bevor sie jetzt wieder in Selbstmitleid versank, weil Hubert alle ihre Freunde auf seine Seite gezogen hatte, sollte sie lieber noch mal einen Blick in die Nachrichten werfen. Alleine schon wegen des Wetters, damit sie notfalls morgen genug Zeit zum Scheibenkratzen einkalkulierte.

    Das übliche mäßig interessante Weltgeschehen. Die USA zeterten wegen angeblicher Massenvernichtungswaffen im Irak herum, die Gewerkschaften ließen die Muskeln spielen, die drei Teenies, die nach einem Discobesuch gegen einen Alleebaum bei Kirchfelden gerast waren, waren alle auf dem Wege der Besserung (kurzer Kameraschwenk über die Krankenbetten, aus denen hauptsächlich eingegipste Arme und Beine herausragten), die letzten von der Ulmenkrankheit befallenen Ulmen im Prinzenpark waren gefällt worden und sollten im Frühjahr durch etwas Robusteres ersetzt werden.

    Kurz vor dem Wetterbericht legte die Ansagerin ihr Gesicht in betroffene Falten, raschelte bedeutungsvoll mit ihren Blättern – als läse sie nicht ohnehin alles vom Teleprompter hinter der Kamera ab! – und verkündete, Franz Katzeder, der allseits beliebte Erste Bürgermeister, sei bei einer Veranstaltung in den Räumen des Städtischen Museums in den frühen Abendstunden zusammengebrochen und ins Städtische Krankenhaus eingeliefert worden – sobald man Genaueres wisse, werde des Publikum umgehend informiert, notfalls sei mit Programmänderungen zu rechnen.

    „Höchstens beim Lokalsender, kommentierte Sissi halblaut, „der hat sicher bloß wieder zu viel gegessen.

    Das Wetter folgte – Nachtfrost, vereinzelte Niederschläge, Schneefälle in Schleswig-Holstein. Wenig beeindruckende Bilder – nach Naturkatastrophe sah das noch lange nicht aus. Sissi rappelte sich auf, schaltete den Fernseher aus, kontrollierte, ob die Hautür und die hintere Küchentür verschlossen und verriegelt waren, und probierte eine Zeitlang an der etwas vorsintflutlichen Alarmanlage herum, deren Anleitung sie in der Flurkommode entdeckt hatte, Schließlich leuchtete es grün auf. „Scheint ja wohl richtig zu sein", murmelte Sissi, warf noch einen Kontrollblick in die Runde und verzog sich ins Bett.

    7

    „Hat man jetzt schon Informationen aus dem Krankenhaus?" Das klang etwas ungeduldig, und die Sekretärin zuckte auch sehr deutlich zusammen.

    „Nein, Herr Bürgermeister. Bis jetzt heißt es immer noch, entweder ein Schwächeanfall oder was mit dem Herzen. Möchten Sie noch einen Kaffee?"

    „Natürlich! Und hängen Sie sich noch mal ans Telefon. Vielleicht weiß Katzeders Assistent was."

    „Bestimmt. Aber Sie wissen doch selbst, wie zugeknöpft der ist. Der würde uns nicht mal verraten, wie Herr Katzeder mit Vornamen heißt."

    „Stellen Sie sich nicht so an, machen Sie schon!"

    Gereizt lief Leonhard Schmieder in seinem Büro auf und ab. Als sich die Tür hinter der beleidigten Frau Schmalfuß geschlossen hatte, hielt er inne und starrte die nachgedunkelten Porträts oberhalb der Holztäfelung an. Lauter Zweite Bürgermeister. Ganz nett, ja. Aber Erster Bürgermeister, das war eben doch etwas anderes. Vor allem für jemanden, der kein gebürtiger Leisenberger war. Sicher, Katzeders Vorgänger, Ludwig Hawlic, war auch nicht von hier gewesen, aber ein Nachkriegsflüchtling, der schon seit 1946 für die Belange der Flüchtlinge und ihre Integration gekämpft, nebenbei einen florierenden Betrieb (Gewerbesteuern! Werkswohnungen!) aufgebaut und etliche Preise für sein politisches Wirken kassiert hatte. Da konnte er nicht mithalten, er lebte erst seit zwölf Jahren hier. Aber gerade deshalb wäre das Amt des Ersten Bürgermeisters die absolute Krönung. Man müsste nur wissen, wie es Katzeder ging… Natürlich war er in aller Frühe voller Besorgnis und mit einem Riesenstrauß Blumen im Krankenhaus aufgetaucht – von der dort herumlungernden Presse beifällig vermerkt – aber man hatte ihn nicht vorgelassen. Immerhin konnte keiner sagen, er hätte es nicht versucht.

    Mies eigentlich, fand er insgeheim, aber in der Politik galt der Schein eben doch mehr. Ob er Katzeder mochte oder nicht, war egal, solange er den Betroffenen gab, sobald eine Kamera auf ihn gerichtet war.

    Dabei mochte er Katzeder, der gemütlich und bodenständig war und dick und harmlos wirkte, was seine Feinde immer wieder leichtsinnig werden ließ. Katzeder sah zwar aus wie aus dem Bauerntheater entlaufen, aber er war auch bauernschlau. Geradezu ausgefuchst und ein exzellenter Wirtschaftskenner, selbst Geschäftsmann und ein heimtückischer Jurist, der zu allem bereit war, wenn es Leisenberg nur nützte. Obendrein völlig unbestechlich. Er nahm nur, was er legal kriegen konnte, und lieferte es bis auf den letzten Cent bei der Stadtkasse ab. Sein Sparprogramm hatte dafür gesorgt, dass Leisenberg finanziell deutlich besser dastand als manch größere Stadt, er hatte solide Betriebe in die Stadt geholt und erbittert gegen Industriegebiete in den Gemeinden gekämpft, die nicht mehr zu Leisenberg gehörten. Sein letzter Coup war die Privatisierung der Städtischen Buslinien gewesen, die seitdem, da zu zwei Firmen gehörend, nicht nur die Fahrpreise gesenkt, sondern auch noch den Service verbessert und einige neue Fahrer engagiert hatten. Wie er das bloß wieder hingekriegt hatte...

    Dem Zweiten Bürgermeister blieben dagegen traditionsgemäß Kulturbelange (die bloß kosteten und die Bürger kaum interessierten) und Repräsentationspflichten. Um die großen Dinge kümmerte sich Katzeder immer selbst, und als Nachfolger hatte er sich wohl diesen jungen Dr. Richter ausgeguckt, der als sein treu ergebener Assistent schon Erfahrungen sammeln konnte und bei allen Insidergesprächen dabei war. Im Gegensatz zu ihm!

    Schmieder seufzte frustriert. Wenn er Richter aus dem Rennen werfen wollte, musste er es raffiniert anfangen. Nur wie? Sollte er schon eine Kampagne planen? Wenn Katzeder länger außer Gefecht gesetzt wäre, würde eine Nachwahl angesetzt werden, und dann musste er schneller sein als Richter.

    Aber wenn er jetzt vorpreschte, sah es ziemlich nach Leichenfledderei aus. Gut, er konnte betonen, dass er im Sinne des leider verhinderten, allseits verehrten Katzeder weitermachen wollte – aber diese Schiene würde schon Richter fahren. Blöde Situation. Es klopfte. Na endlich, vielleicht hatte die Schmalfuß neue Fakten!

    Statt Frau Schmalfuß trat aber seine Tochter ein. Sie küsste die Luft neben seiner Wange und er trat hastig zurück, weil ihm ihr extrem herbes Parfum Kopfschmerzen verursachte. „Was gibt es?"

    „Weißt du schon, was du tun willst? Es heißt, Katzeder hat einen schweren Herzinfarkt."

    „Ach ja? Eben noch hieß es, kein Kommentar."

    „Ich habe meine Quellen. Der Herzinfarkt

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