Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ein anstrengender Sommer: Kriminalroman
Ein anstrengender Sommer: Kriminalroman
Ein anstrengender Sommer: Kriminalroman
eBook510 Seiten7 Stunden

Ein anstrengender Sommer: Kriminalroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Karen unterrichtet am Leisenberger Leopoldinum und beginnt sich allmählich bei dem Gedanken, noch fünfunddreißig Jahre lang das Gleiche machen zu müssen, etwas zu langweilen. Aber dann überschlagen sich die Ereignisse:
Erstens taucht ein lästiger Exfreund auf und wird kurz darauf tot aufgefunden.
Zweitens beginnt ein besonders engstirniger Kollege, in der Schule immer mehr gegen Sittenverfall und freche Weiber im Lehrberuf zu eifern, und wird schließlich sogar handgreiflich.
Drittens zeigt ein anderer Kollege zunehmend Interesse an Karen, was ihr nach anfänglichem Misstrauen durchaus zu gefallen beginnt.
Damit hat sie jetzt wirklich genug um die Ohren und kann den schönen Sommer kaum noch richtig mit ihren Freunden genießen. Vorläufiger Höhepunkt ist eine Leiche auf dem Abiball - aber erst eine Kollegin, die komplett die Nerven verliert und Karen attackiert, bringt schließlich den Fall der Lösung nahe.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum20. Juni 2015
ISBN9783737552721
Ein anstrengender Sommer: Kriminalroman

Mehr von Elisa Scheer lesen

Ähnlich wie Ein anstrengender Sommer

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Ein anstrengender Sommer

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ein anstrengender Sommer - Elisa Scheer

    EINS

    Schon zu Beginn der sechsten Stunde war ich müde. Meine Begeisterung dafür, einem unwilligen Grundkurs die Details der Spiegel-Affäre zu vermitteln, hielt sich heute ziemlich in Grenzen, und als mehrere Schüler deutlich zu spät kamen und es nicht einmal für nötig befanden, sich zu entschuldigen, ließ ich mich zu einigen scharfen Worten hinreißen. Die so Angeschnauzten schauten mich einigermaßen verblüfft an und entschuldigten sich schließlich leicht verlegen. Als günstiger Nebeneffekt war es wohl auch zu werten, dass sie in dieser Stunde etwas unauffälliger aßen und tranken. Ich schloss die Spiegel-Affäre also samt Quellen und Tafelbild ab – wenn die Bande schon einmal zuhörte! – und beschloss im Stillen, darüber in der nächsten Stunde ein Extemporale zu schreiben. In der Zeugniszeit konnten sie sich ja wohl nicht auf anderweitige Klausuren herausreden.

    „Tut mir Leid, dass ich vorhin so giftig war, sagte ich dann kurz vor dem Läuten, „aber ihr wisst ja, wie sehr es mich nervt, wenn dauernd noch jemand angetrottet kommt und dann sofort seine Brotzeit auspackt. Also kommt pünktlich, dann bin ich auch milde gestimmt.

    Sie lachten und versprachen es, aber ich wusste, dass nur nackte Angst sie dazu bringen konnte, rechtzeitig aufzutauchen. Und der Typ, der Schüler in nackte Angst versetzen konnte, war ich nicht, wollte ich auch gar nicht sein. Mir genügte es, dass ich mit den Schülern gut auskam und dass sie mich respektierten, weil sie bei mir etwas lernten und ich faire, wenn auch nicht allzu einfache Klausuren schreiben ließ. Beim Läuten verschwanden sie blitzschnell, denn heute entfiel ja der Nachmittagsunterricht – natürlich nur für die Schüler, wir konnten uns noch mehrere Stunden in der Konferenz langweilen. Mir graute schon.

    Im Lehrerzimmer war ein Hochbetrieb wie selten. Ich drängte mich zu dem Ecktisch durch, an dem ich meinen Platz hatte – wohl noch für die nächsten fünfunddreißig Jahre – und legte meine Unterlagen dort ab, dann ging ich auf die Suche nach Bettina, die ich schließlich im Raucherkabuff fand. Rauchende Lehrer wurden am Leopoldinum nicht sehr geschätzt, also hatte man ihnen einen ehemaligen Abstellraum neben dem Lehrerzimmer zugewiesen – außer einem großen Standascher, zwei Stühlen und einer wackligen Schülerbank gab es keine Einrichtung. Das ermutigte nicht zu längerem Verweilen, aber man traf hier im Allgemeinen die nettesten Kollegen.

    Bettina lehnte in der hintersten Ecke und sprach mit Sandrine, der diesjährigen Französischassistentin. Als sie mich sah, rief sie: „Willst du schnell essen gehen, Karen?"

    „Nein", rief ich zurück, „keine Zeit. Soll ich dir was vom Deli mitbringen?"

    „Au ja, danke – eine Breze und ein Sandwich mit Kräuterkäse, bitte!"

    Sandrine orderte eine Schinkensemmel, und ich trabte die vielen Treppen herunter und in den kleinen Feinkostladen gegenüber. Als ich zurückkam, legte ich die Tüten auf die jeweiligen Plätze, fischte den Umschlag mit den Halbjahreszeugnissen der 9 a aus meinem Fach und richtete mich auf meinem Platz ein. Roggenbrot mit Leerdamer – lecker!

    Schließlich fegte ich die Krümel vom Tisch und begann mit der Arbeit. In der 9 a hatte ich heute ein Ex in Geschichte geschrieben, in der 8 b zweiunddreißig Hefte mit Übungsaufsätzen eingesammelt, außerdem waren die Zeugnisse zu kontrollieren und zu unterschreiben, die Stunden für morgen – wieder sechs ohne Freistunde – standen auch noch nicht, und vor halb sechs käme ich nicht aus der Konferenz. Und so, wie ich unsere Chefin und die Fachbetreuer in Deutsch und Geschichte kannte, würden sie mir morgen in den ersten Stunden wahrscheinlich einen Unterrichtsbesuch abstatten, um zu gucken, ob ich müde war. Also war Fremdbeschäftigung während der (im Allgemeinen extrem unnenden) Konferenzen blanke Notwehr.

    Lieber zuerst die Übungsaufsätze – die Hefte waren zu dick, um sie vor dem Blick von Frau Dr. Werner zu tarnen... Als ich meinen Apfel gegessen und gerade mal die ersten drei Hefte geschafft hatte, läutete es schon: zwei Uhr, die Konferenz begann.

    Ich beschriftete schnell einen Schmierzettel: Vielleicht gab es ja doch einmal eine wichtige Information? Dann ließ ich die Hefte verschwinden und legte mir die Zeugnisse bereit. Oh, die arme Bettina musste das Protokoll führen!

    Die Chefin verkündete die Tagesordnung, die seit einer Woche am schwarzen Brett gehangen hatte, wo sie mal wieder keiner gelesen hatte. Der erste Punkt war ja noch ganz interessant: Personalverhältnisse: Bekamen wir Frischfleisch? Annerose war zum ersten Februar in den Mutterschaftsurlaub gegangen, jemand musste sie ersetzen, zwei hatten sich sinnigerweise zum Halbjahr vorzeitig pensionieren lassen und wurden nun feierlich verabschiedet.

    „Und nun zu unseren Neuzugängen", kündigte Frau Dr. Werner an und ich reckte den Hals.

    „Als Ersatz für Herrn Siebel, der uns am Freitag ja verlassen wird, hat uns das Ministerium Frau Dr. Andrea von Falkenstein zugewiesen, mit den Fächern Latein, Deutsch und Geschichte."

    Am Sportlertisch (wieso denn dort?) erhob sich eine junge Frau mit halblangen, rotbraunen Haaren und grüßte freundlich. Unser Beifall fiel etwas verhalten aus, denn sie war hochschwanger – ein toller Ersatz für Siebel, wirklich. Also mussten wir ihn noch eine Zeit lang vertreten? Die Neue lächelte verlegen.

    „Nach Ostern bin ich voll einsatzbereit – allerdings nur mit acht Wochenstunden..."

    Die Chefin nickte ihr zu und stellte den Referendar Thomas Wagner vor, Englisch und Geschichte, und eine grämlich dreinschauende Frau Kerner mit Sport und Wirtschaft, abgeordnet vom Albertinum. Mehr gab´s nicht... Zwei neue Geschichtslehrer – betraf mich das eigentlich? Ich fischte meinen Stundenplan für das zweite Halbjahr aus dem Stapel, den ich mit den Zeugnissen aus meinem Fach geholt hatte.

    Ach ja – man hatte mir die 11 c in Geschichte entzogen; der Vermerk REF zeigte mir schon, dass ich in dieser Klasse auf den kleinen Referendar aufzupassen hatte. Den hatte ich eben gar nicht so recht wahrgenommen – hoffentlich war er einigermaßen nett... Dafür hatte ich eine von Siebels Klassen geerbt, eine Zehnte in Deutsch. Toll, das war eine Stunde mehr, aber nach Ostern müsste diese Falkenstein sie ja wieder übernehmen... Und diese Klasse hatte ich gleich am Donnerstag in der ersten Stunde, nichts mehr mit später anfangen!

    Ich schrieb Siebel ein Briefchen und bat um Informationen, was er mit der Klasse bis jetzt gemacht hatte, ob eine Schulaufgabe anstand, Lektüre.... Statt aufzupassen, verfolgte ich, ob das Briefchen bei ihm ankam. Er las es und schüttelte dann mit strafender Miene langsam den Kopf. Alter Schwachkopf, dann fragte ich eben am Donnerstag die Klasse, auch wenn die sicher behaupten würden, sie hätten überhaupt nichts durchgenommen - oder nichts verstanden – und außerdem habe Siebel nie etwas aufgegeben.

    Am Tisch daneben saßen meine beiden Spezialfreunde, Holzner, der Mistkerl, und Brandes mit dem Pokerface. Der ging mir auch stark auf die Nerven... Na gut, dann kontrollierte ich eben meine Zeugnisse, während die Termine bis Juli besprochen wurden, die doch ohnehin auf der Übersicht standen, die man uns in die Fächer gelegt hatte. Ich hatte den Packen schon durch und alles unterschrieben, als sich die Chefin endlich dem wichtigsten Punkt zuwandte, der Frage, welche Schüler nun gefährdet waren. Ich kannte das alles ja schon aus den Klassenkonferenzen am Freitag und musste erst wieder zuhören, als meine eigene 9 a besprochen wurde. Glücklicherweise war dort niemand gefährdet, die Klasse war ungemein brav und eifrig, fast schon unnatürlich. Holzner natürlich hatte etwas zu meckern, er verlangte, ich sollte den Schülerinnen verbieten, sich so stark zu schminken, das sehe unsittlich aus.

    „Mein Gott, die üben doch noch!, entgegnete ich. „In dem Alter habe ich mich auch so grausig ausstaffiert, das vergeht von selbst wieder.

    Er warf mir quer durch den Raum einen hässlichen Blick zu. „Dass Sie keinen Blick für das aufreizende Verhalten dieser Mädchen haben, wundert mich nicht!, blaffte er dann. Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und die Chefin runzelte die Stirn. Die Antwort war ja reichlich mehrdeutig, aber wohl wenig treffend. „Aufreizend? Ich finde die Mädels eher erheiternd, aber natürlich, wenn es auf Sie anders wirkt...

    Brandes neben ihm biss sich auf die Unterlippe, Bettina kicherte und fragte, ob dieser Punkt ins Protokoll aufgenommen werden sollte. Frau Dr. Werner winkte ärgerlich ab und bat uns beide, mit der albernen Debatte aufzuhören. Solange die Mädchen kein Ärgernis erregten, könnten sie doch herumlaufen, wie sie wollten.

    Holzner knurrte und ich unterdrückte taktvoll ein Grinsen. Dieser widerliche Heuchler! Die anderen Religionslehrer waren doch auch nicht so? Abwechselnd machte er zweideutige Bemerkungen und benahm sich dann wieder wie der letzte Puritaner. Er tat so, als sei er überall von Obszönitäten umzingelt. Seine beiden Töchter gingen auch hier zur Schule und machten einen recht blassen und gedrückten Eindruck. Eigentlich nette Mädchen - aber dieser Vater! Ein Frauenfeind war er obendrein, aber das passte ja ganz gut dazu, wenn man es recht bedachte.

    Ich wandte mich meinen angeschwollenen Mappen zu. Zwei Extemporalien, eines in Geschichte, eines in Deutsch, waren komplett und konnten abgelegt werden. Ich sortierte sie unauffällig alphabetisch, füllte das Umschlagformular aus und legte je eine Notenliste und einen Erwartungshorizont dazu. Nach der Sitzung würde sie beim Fachbetreuer bzw. im Archiv landen.

    Brandes würde sich freuen, wenn er den Packen nachher in seinem Fach fand – das geschah ihm recht, was war er auch immer so zickig! Ich betrachtete ihn unauffällig. Er saß steif da und hörte anscheinend wirklich zu, jedenfalls schwätzte er nicht mit Holzner. Aber gut, wer wollte mit dem schon reden?

    Brandes war erst seit diesem Schuljahr bei uns und hatte sich schon gründlich unbeliebt gemacht, einigen Kollegen offen mitgeteilt, dass ihr fachliches Niveau zu niedrig war, Klausuren und Kurzarbeiten kritisiert (mal waren sie zu einfach, mal zu schwierig) und sich überhaupt wie der sprichwörtliche neue Besen aufgeführt. Logisch, dass die meisten Geschichtslehrer mauerten! Auch ich ging ihm lieber aus dem Weg, um nicht unfreiwillig weiter gebildet zu werden. Mittlerweile war es kurz vor vier und immer noch kein Ende abzusehen. Bettina schaute grimmig – sie hatte wohl auf 15.50 als Ende gewettet und soeben verloren. Missmutig schrieb sie mit, was diverse Kollegen von Fortbildungen zu berichten hatten, danach, welche neuen Erlasse aus dem Kulturministerium uns das Leben hinfort versüßen wurden.

    Erst bei den Abiturterminen hörte ich wieder zu und schrieb das Wichtigste mit. In meinem Grundkurs wollten nur zwei Geschichte als drittes Abiturfach wählen – ich hatte auch energisch abgeraten -, aber sieben hatten es als Colloquiumsfach gewählt. Nun, jetzt wusste ich wenigstens, welche Wochen dafür draufgehen würden.

    Projekte und Wettbewerbe waren der nächste Punkt; ich hörte mit halben Ohr zu und bereitete das neue Ex zur Korrektur vor: Notenliste, Entwurf eines Erwartungshorizonts, Punkteschritte, alphabetisches Sortieren... Halb fünf... Was lag denn jetzt noch an? Ich versuchte auf die Distanz die ausgehängte Tagesordnung zu entziffern, aber sie war zu weit weg...

    Obwohl – wenn wir schon bei der Standardpredigt waren, konnte es nicht mehr ewig dauern! Die Chefin wies wieder darauf hin, dass wir die Schüler energischer dazu anhalten müssten, ihre Klassenzimmer sauber zu halten und dass das Schneeballwerfen auf dem Schulgelände verboten sei. Jaja...

    Zehn vor fünf: „Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Nachmittag!"

    Sie erhob sich und sammelte ihre Unterlagen ein. Toll, von dem Nachmittag war auch nichts mehr übrig, und weder das Ex noch die Übungsaufsätze waren fertig. Das würde noch ein langer Abend, dachte ich mir, als ich das erledigte Geschichtsex Brandes ins Fach stopfte und die Zeugnisse einem der Direktoratsmitarbeiter überreichte. Wenigstens das war erledigt!

    In meinem Fach lagen zwei zusammengefaltete Zettel, die ich unbesehen einsteckte.

    Bettina brauchte dringend eine Zigarette, und ich begleitete sie. Normalerweise rauchte ich nicht, aber nach einem solchen Tag... „Was machst du heute Abend?", fragte sie mich und gab mir Feuer.

    „Rate mal – Ex und Übungsaufsätze und die Stunden für morgen!", grummelte ich nach einem tiefen Zug.

    „Schlechtes Timing, kritisierte sie mich. „An einem solchen Tag lässt man doch nichts schreiben!

    „Nächste Woche ist Schulaufgabe, ich muss diese dämlichen Übungsaufsätze schreiben, das ist Vorschrift. Gut, das Ex war eine Schnapsidee, aber jetzt hab ich´s schon in der Tasche. Mensch, und Siebel, der alte Sack – will mir nicht sagen, was er mit dieser Zehnten bis jetzt gemacht hat! Aber dem laufe ich nicht nach!"

    „Ist doch wieder typisch, fand Bettina, „und Holzner steht ja wohl kurz vor dem religiösen Wahn, was? Er lechzt nach einer Hexenverbrennung.

    „Kannst du laut sagen, murrte ich, „aber ich gehe jetzt nach Hause, mir reicht´s für heute! Was machst du noch?

    „Emma abholen und dann fahre ich auch heim." Emma war Bettinas achtjährige Tochter, die sie praktisch alleine großzog, weil ihr Mann sich um gar nichts kümmerte und auch selten da war.

    „Na, dann bis morgen... Ciao!"

    Ich stopfte meinen ganzen Kram in die Tasche, die nur mit Mühe zuging, wickelte mich irgendwie in meinen Wintermantel und verzog mich nach Hause. Wenigstens wohnte ich nur zwanzig Minuten von der Schule entfernt – zu Fuß, das war sehr praktisch.

    Auf meine Wohnung freute ich mich heute auch nicht. Sie war schön und gut geschnitten, das ja, und sie gehörte mir, wenigstens fast, aber nun wohnte ich schon seit Oktober dort und war immer noch nicht fertig eingerichtet. Und die Nachbarn kannte ich auch kaum, nur Susanne neben mir und Marianne über mir. Oben wohnte noch ein Mann, unter mir auch und links im Erdgeschoss eine ziemlich aufgetakelte Dame in mittleren Jahren, die aber nie da zu sein schien.

    Zu essen gab es auch nichts Gescheites. Ich kochte mir ein Süppchen und schichtete dann missmutig den Inhalt meiner schweren Schultasche auf den Schreibtisch. Nun musste ich wohl an die Arbeit gehen. Zuerst die Übungsaufsätze, die wollte ich morgen wieder zurückgeben. Gegen zehn hatte ich sie alle fertig und aus häufiger vorkommenden Fehlern ein Übungsblatt geschnitzt. Immerhin, schon eine der sechs Stunden von morgen war vorbereitet! Hastig suchte ich mir etwas für die anderen zusammen und bastelte eine Wortschatzübung für die 9 a in Italienisch. Dann räumte ich meine Tasche ein – das Ex konnte ich auch morgen machen. Dabei fand ich die beiden Zettel und entfaltete sie neugierig. Der eine war nur die Mitteilung, dass die Matheschulaufgabe in der 11 c verschoben werden musste. Egal, an dem Tag hatte ich dort ohnehin nichts schreiben lassen wollen. Der andere war eine Botschaft von Brandes – ob es mir etwas ausmachen würde, beim nächsten Mal die Arbeiten vollzählig abzugeben? Bei der 11 c fehlten die Arbeiten von Meierhöfer und Zorn.... Wütend sah ich in meinen Notenlisten nach – die beiden hatten ja gar nicht mitgeschrieben, und das hatte ich bestimmt auf dem Umschlag vermerkt. Blöder Erbsenzähler!

    Jetzt reichte es aber wirklich. Und aus diesem dämlichen Kostüm musste ich auch raus. Ich hängte es sorgfältig auf. Warum trug ich immer diese Kostüme? Nur, weil unsere Seminarlehrer uns das nahe gelegt hatten? Morgen nicht!

    Ich schlüpfte in ein Nachthemd, schminkte mich ab und zog die Haarnadeln aus meinem Knoten. Diese Haare waren langsam auch lästig. Ich dröselte den Zopf auf und begann zu bürsten. Sollte ich die Mähne mal abschneiden? Ich wusste nur nicht, wie es dann wohl aussah, meine schwarzen Haare waren leicht gewellt und ich wollte nicht herumlaufen wie mit einer erschlafften Dauerwelle. Heute war ich aber zu müde, um mir noch groß Gedanken zu machen, ich hatte ja auch Zeit – die nächsten fünfunddreißig Jahre lagen sehr übersichtlich vor mir. Hatte ich mir das heute nicht schon einmal gedacht?

    Am nächsten Morgen war ich immer noch gereizt, warum, war mir selbst nicht ganz klar. Aus Trotz zog ich Jeans und einen Pullover an, etwas, was ich an dieser Schule noch nie getan hatte, dazu warme Stiefel, denn es hatte schon wieder geschneit und die Straßen waren voller Matsch. Meinen Knoten steckte ich ziemlich nachlässig auf, im Ausgleich dazu schminkte ich mich etwas kräftiger, vielleicht konnte ich Holzner damit ärgern?

    Schon vor acht warf ich Brandes einen Zettel ins Fach Meierhöfer/Zorn haben gar nicht mitgeschrieben, vgl. Umschlag und Siebel Kann ich dann wenigstens die Einzelnoten der 10 b haben?. Wenn ich so weitermachte, würde ich mit gewissen Leuten nur noch schriftlich verkehren. Aber es gab wirklich Kollegen, bei denen man sich von Anfang an auf den Tag freute, an dem sie endlich pensioniert wurden!

    Dann kopierte ich meinen Bedarf für heute; aus dem Nebenraum hinter dem Kopierer hörte ich nach einiger Zeit Stimmen, die auf einen Krach schließen ließen. Verstehen konnte ich nichts, außerdem wäre es peinlich, beim Lauschen ertappt zu werden, also machte ich, dass ich mit meinen Kopien fertig wurde, und verzog mich an meinen Platz. Noch eine Viertelstunde – sollte ich an diesem Ex weiter korrigieren? Ach, das lag ja zu Hause auf dem Schreibtisch... Gut, dann eben erst einmal Frühstück. Und was sagte der Vertretungsplan?

    Ich studierte ihn noch, als Brandes aus dem Nebenraum geschossen kam. Mit steinernem Gesicht nickte ich ihm einen gemessenen Gruß zu und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er den Zettel aus seinem Fach holte. Grinste er etwa? Frechheit!

    Ich packte meine Tasche um und wollte mich gerade in die 6 d aufmachen, als er auf mich zukam.

    „Was heißt vgl. Umschlag?"

    Er hielt ihn mir hin. Mist! Ich hatte es doch nicht draufgeschrieben. Ich riss ihm den Umschlag aus der Hand, schrieb die fehlenden Arbeiten darauf und gab ihn zurück. „Da steht´s doch! Außerdem hätte man es auch der Notenliste entnehmen können!"

    Er grinste spöttisch. „Schon – aber es wäre doch nett, wenn Sie die Arbeiten etwas kundenfreundlicher aufbereiten."

    „Ich werde mich bemühen, entgegnete ich spitz. „Und jetzt muss ich zum Unterricht!

    Auf dem langen Weg ins Erdgeschoss des Alten Flügels (erbaut 1897) überlegte ich, was mich an Brandes eigentlich so ärgerte. Dass er immer Recht hatte? Dass er in dem halben Jahr, seitdem er uns vor die Nase gesetzt worden war, so viel geändert hatte? Dass er uns alle offenbar nicht ernst nahm? Wenigstens troff ihm die Ironie aus allen Knopflöchern, Und so schön war er auch nicht, ziemlich grau schon und irgendwie dürr – fünfzig war der bestimmt! Und diese lange Nase...

    Andererseits – an dieser Schule gab es überhaupt keine schönen Männer. Holzner hätte gar nicht übel ausgesehen, aber wenn man den miesen Heuchler kannte... Die Damen gaben optisch einfach mehr her. Egal!

    Vor der Tür der 6 d war ein wildes Fußballspiel im Gange. Ich schnappte mir den Tennisball, der mir sehr praktisch entgegensprang, und steckte ihn ein. Wildes Protestgeheul. „Kriegen wir den nachher wieder?"

    „Am Ende des Schuljahres. Ihr wisst genau, dass ihr im Schulhaus nicht Fußball spielen dürft."

    „Was machen Sie jetzt mit dem?", wollte Fabian wissen.

    „Ich lege ihn zu den anderen sieben, die ich euch schon abgeknöpft habe. Und jetzt rein mit euch, wir haben was zu tun!"

    Sarah blieb entsetzt stehen. „Schreiben wir ein Ex??"

    „Nein, nicht schon wieder. Marsch auf die Plätze!"

    Nach einigen Minuten hatten alle ihren Kram ausgepackt, ihr Essen wieder verschwinden lassen und sich beruhigt, so dass wir uns mit dem Leben der Kinder in Athen und Sparta befassen konnten. Die Sage vom Fuchs, der dem spartanischen Jungen die Eingeweide zerfraß, erschreckte die Kleinen gebührend, animierte sie aber auch dazu, von allen Horrorfilmen zu erzählen, die sie jemals gesehen hatten. Mühsam brachte ich sie wieder zum Thema zurück.

    Die achte Klasse, einen Stock höher, wurde für die recht fehlerhaften Übungsaufsätze gerüffelt.

    „In welchem Tempus schreibt man eine Textzusammenfassung, Anja?"

    „Im Präsens, warum?" Sie war ehrlich erstaunt.

    „Warum tust du´s dann nicht? Hier, schau mal!"

    Sie warf einen Blick in ihr Heft. „Oops!"

    „Ich zieh euch in der Schulaufgabe mindestens eine Note ab, wenn ihr nicht endlich daran denkt! Und liefert bitte nicht so schäbige Basissätze ab, man muss schon erkennen, ob ihr die Kernaussage erfasst habt."

    Finsterer Blick meinerseits; die Klasse starrte ebenso finster zurück, heiterte sich aber sichtbar auf, als ich ein Blatt mit Stilblüten austeilte, Von der Muse geküsst? Das liebten sie sehr, und jeder bekannte sich freudig zu missverständlichen Äußerungen, rätselhaftem Satzbau und unfreiwilliger Komik. Hoffentlich lernten sie auch etwas daraus, manchmal war ich mir da nicht so sicher... Die jedes Mal fälligen Übungen zu das/dass und Groß- und Kleinschreibung durften heute auch nicht  fehlen, wenn sie auch wenig Wirkung zu haben schienen.

    Nun in den neuen Trakt, in dem die ungeraden Klassen untergebracht waren, und dort wieder in den dritten Stock! In dieser Schule blieb man wirklich fit. Meine 11 c – hier ging es heute friedlich zu, wir erarbeiteten die Unterschiede zwischen Parabel und Gleichnis und übten uns in Selbstbeherrschung:

    „Du wirst doch wohl noch bis zur Pause warten können?"

    „Ich hab aber so Hunger!" Erbarmungswürdiger Blick.

    „Nix! Du wartest!"

    Natürlich warteten sie nicht, aber sie waren wenigstens diskret – das hatten wir früher auch so gemacht. Ich konnte nur das Ungenierte nicht leiden, das manche Schüler an den Tag legten.  Endlich Pause! Ja, von wegen... heute hatte ich Pausenaufsicht auf dem Hof. Ich schritt mit betont grimmiger Miene auf und ab, um das Schneeballwerfen zu unterbinden, wurde dann aber doch von einigen Mädchen aus meiner Neunten abgelenkt, die nach ihrem Geschichtsex fragten.

    „Hab ich noch nicht angeschaut. Wir haben doch erst morgen wieder Geschichte!"

    „Ooch..." Sie trollten sich und gaben den Blick frei auf Freund Fabian aus der 6 d, der gerade einen prachtvollen Wurf landete und wie erstarrt stehen blieb, als er bemerkte, wer ihm da zugesehen hatte. Ich winkte ihn zu mir.

    „Tja, nun kann ich wohl nicht anders, nicht?" Er nickte kleinlaut.

    „Ist das dein erster Verweis?"

    „Nö... der dritte..."

    Ich pfiff anerkennend durch die Zähne. „Fleißig! Wie wär´s, wenn du mal vorher an dein Sündenregister denkst?"

    Er gelobte Besserung – aber langfristiges Denken war von einem Sechstklässler noch ein bisschen viel verlangt. Nun, um den Verweis kam er nicht herum. Immerhin hatte die Szene dafür gesorgt, dass in dieser Pause niemand mehr einen Schneeball formte.

    Beim ersten Läuten trieb ich zusammen mit Holger alle wieder ins Schulhaus zurück und eilte dann in den zweiten Stock zur 9 a. Zwei Stunden Italienisch... gut, dass es in Ragazzi so lustige Übungen gab! Außerdem mussten sich einige über Holzner beschweren und darüber debattieren, welche Poster sie an der Rückwand aufhängen wollten. Ansichten von Italien wurden glatt von *NSYNC und Britney Spears geschlagen. Wenn schon, ich hatte früher die Starschnitte aus der Bravo an die Wand geklebt.

    „Von mir aus – aber nicht wieder halb nackt, sonst kriegt Herr Holzner einen Anfall. Das muss ja nicht sein..."

    Sie gelobten feierlich, nur schickliche Poster aufzuhängen. Holzner würde sicher wieder Mutter Teresa oder etwas Ähnliches vorschlagen, aber das war für durchschnittliche Neuntklässler einfach zu weit weg, das würde er nur nie verstehen.

    Noch eine Stunde Grundkurs Deutsch, gemütliche Lektüre von Homo faber – aus diesem Roman konnte man immer etwas machen. Walter Fabers Kampf mit seinen Trieben war den Kollegiaten allerdings offenkundig etwas peinlich; sie arbeiteten gut mit, solange ich von ihnen nicht verlangte, die Tatsache beim Namen zu nennen, dass die kurzen Pausen im Text für Sex zwischen Walter und Ivy standen. So pubertär waren sie doch gar nicht mehr? Die mussten doch langsam selbst ein Privatleben haben? Im Gegensatz zu mir... Wie kam ich jetzt mitten im Unterricht darauf?

    Endlich ein Uhr, fertig!

    Im Lehrerzimmer kontrollierte ich mein Fach – zwei Prospekte, wieder ein Zettelchen von Brandes, der eine Sammelbestellung für einen fetten Quellenband zur Zeitgeschichte herumgehen ließ. Ich blätterte kurz in dem Band, durchaus brauchbar, und trug mich in die Liste ein, als erste – aber für die digitale Version, war ich denn blöd? Wollten die anderen ihn nicht? Er sah doch sehr nützlich aus!

    Ich unterhielt mich noch kurz mit Holger, der den Nachmittag hier verbringen musste, und Bettina, die heute zwei Schulaufgaben geschrieben hatte und damit schon wusste, wie ihr Nachmittag aussehen würde. Da hatte ich es noch relativ gut.

    Ich kaufte noch ein bisschen ein und korrigierte dann das Geschichtsex der 9 a. Erstaunliche historische Erkenntnisse traten da zutage... An der Inflation waren die Amerikaner schuld? 1923 wurde das Geld ganz abgeschafft? Seufzend unterstrich ich diese Peinlichkeiten rot. Immerhin, als ich fertig war, hatte sich ein Durchschnitt von 2,73 ergeben, nicht zu schlecht trotz einzelner Aussetzer. Die 9 a war wirklich eine gute Klasse.

    Morgen hatte ich nur drei Stunden, die neue Klasse war ja erst nächste Woche fällig. Das war alles schnell vorbereitet, und danach sah ich mich tatendurstig in meiner Wohnung um. Das Arbeitszimmer war einwandfrei, das war auch das einzige, was ich von Anfang an gründlich eingerichtet hatte. Gut, die Küche war auch in Ordnung, aber im Wohnzimmer und im Schlafzimmer standen noch die vergammelten Möbel aus dem Einzimmerappartement, das ich bis vor einem halben Jahr bewohnt hatte, und ich konnte diese wackligen Möbelmarktscheusäler allmählich nicht mehr sehen.

    Wie gut war ich eigentlich bei Kasse? Ich klickte mein Konto an. Was? Ich hatte fast 30.000 Mark auf dem Girokonto? Welche Sünde, da nützte es mir doch fast nichts! Im Depot lagen immerhin Fonds und Aktien für etwa 25.000 Euro. In viereinhalb Jahren müsste ich der Bank rund hunderttausend Mark – oder dann wohl eher 51.000 Euro – bezahlen, glücklicherweise hatte ich einiges Eigenkapital gehabt, als ich mich für diese Wohnung entschieden hatte.

    Dann war ich ja gar nicht so arm? Ich kaufte mir online für fast 20.000 Mark Fondsanteile – hauptsächlich Rentenfonds, der hysterischen Börse traute ich nicht mehr so recht – und beschloss, dass ich etwa 8.000 Mark auf den Kopf hauen dürfte.

    Das hatte ich in meinem Leben noch nicht gemacht, Geld auf den Kopf gehauen… Ich klickte mich wieder aus dem Netz und ging ins Schlafzimmer, wo ich mich aufs Bett warf, die Arme hinter dem Kopf verschränkte und an die Decke starrte. Wann hatte ich jemals das Leben genossen? Eigentlich nie, überlegte ich. Woran lag das wohl? Schafften es Silke und Meike eher, ihr Leben zu genießen? Wir waren doch alle drei gleich erzogen worden?

    Meine Eltern hatten spätestens mit Meikes Geburt in der Panik gelebt, es könnte ihnen nicht gelingen, drei Töchter großzuziehen, sie könnten daran Bankrott gehen, spätestens, wenn sie die Hochzeiten finanzieren müssten. Immer hatten sie uns gedrängt, schneller zu lernen, schneller zu studieren, als liefe irgendwo eine Uhr laut tickend ab. Sollte sie verstummen, mein Vater also in Pension gehen, bräche das nackte Elend herein.

    Bei mir hatte es geklappt; sie hatten mich gegen den Rat der Lehrer genötigt, die zehnte Klasse zu überspringen, um ein Jahr zu sparen. Mir gefiel es nicht in der neuen Klasse, und ich war ohnehin früh eingeschult worden. Das Ergebnis bestand dann darin, dass ich die einzige Schülerin war, die bis zum Abitur ihre Entschuldigungen von den Eltern unterschreiben lassen musste. Abitur, aber minderjährig – ich hatte das als extrem peinlich empfunden.

    Silke, die zwei Jahre jünger war als ich, hatte sich das angesehen und dann ihren Notendurchschnitt sorgfältig auf einer mäßigen Drei gehalten, so dass ein Überspringen gar nicht in Frage kam. Meike dagegen, die für Widerstand weniger geeignet war, hatte ebenfalls mit knapp achtzehn Abitur gemacht.

    Fürsorglich hatten meine Eltern mir dann einen lukrativen Ferienjob besorgt und mich dazu bewogen, nicht etwa ein Jahr gemütlich herumzustudieren, sondern sofort zielstrebig Scheine zu machen. Als ich für immerhin drei Fächer dann doch zehn Semester bis zum Staatsexamen brauchte, waren sie ehrlich enttäuscht von mir. Immerhin hatte ich immer neben dem Studium gejobbt und mich so fast ganz selbst finanziert, sogar etwas auf die hohe Kante gelegt. Dass ich aber seit dem ersten Semester bei jedem Sonntagsbesuch gefragt wurde „Und? Wann bist du mit dem Studium fertig?", hatte mich schon damals tierisch genervt. Heute noch viel mehr, denn nun wusste ich, wie andere studiert hatten – mit lustigen Nebenjobs, Festen, langen angetrunkenen Nächten, einem aufreibenden Privatleben und intensivem Umsehen in ganz anderen Fächern. Ich hatte dagegen die Liste aller für das Examen nötigen Scheine und Praktika pflichtbewusst abgearbeitet und nicht rechts und nicht links geschaut. Wie langweilig! Gut, das Erbe meiner Großeltern war mir auch zupass gekommen. Ich hatte es gut angelegt – mein Vater legte großen Wert darauf, dass wir uns mit Investitionsmöglichkeiten auskannten, meine Zockerei im letzten Jahr hätte er allerdings nicht gebilligt, wenn er davon gewusst hätte – und so diese Wohnung fast ganz finanzieren können.

    Eigentlich konnte ich also ganz zufrieden sein – und hatten meine Eltern nicht Recht gehabt?

    Aber wann hatte ich wirklich gelebt? In der Schulzeit nicht, immer hieß es Wenn du dein Abitur hast, dann... Im Studium? Nach dem Examen, dann... Gut, ein bisschen gelebt hatte ich schon, ich dachte kurz an Peter und Neil und diese chaotische Reise nach Griechenland. Nach dem Examen? Bring erst einmal deine Referendarzeit hinter dich... Das hatte ich getan und sofort eine Planstelle erhalten, vor fast fünf Jahren. Noch können sie dich wieder entlassen, warte auf die Verbeamtung auf Lebenszeit. Auch das hatte ich in der Tasche. Sollte ich nun mit dem Leben warten, bis ich die nächste Beförderung hinter mir hatte? Oder bis nach der Pensionierung? Was dachten sich meine Eltern eigentlich bei diesen Mahnungen? Und mittlerweile war es auch meine eigene Stimme, die mich vorwärts trieb. Perfekt konditioniert.

    Nur – vorwärts wohin? Ich war am Ziel, vor mir dehnten sich noch fünfunddreißig Jahre Schulalltag. Was sollte mich jetzt treiben? Plötzlich fühlte ich eine unbestimmte Leere in mir, aber bevor ich mich im Selbstmitleid suhlen oder Pläne schmieden konnte, wie ich das Geld ausgeben sollte, klingelte das Telefon.

    „Hallo, ich bin´s, Meike."

    „Meike! Wie geht´s?"

    „Beschissen. Die Kinder kreischen rum, Robbi ist nicht da, und ich bin total pleite. Hier schaut´s aus...! Kannst du nicht mal vorbeikommen?"

    Ich seufzte. Meike wollte mich im Allgemeinen nur sehen, damit ich ihr im Haushalt half, ihre Kinder beruhigte und ihr Ratschläge erteilte, an die sich ohnehin nie hielt. Darauf hatte ich gar keine Lust.

    „Na gut, aber nur eine Stunde. ich hab noch total viel zu tun."

    Das war gelogen, aber ich wollte später noch ein bisschen über die Zukunft nachdenken. Oder mich in Selbstmitleid suhlen.

    Bei Meike ging es zu wie immer. Vanessa und Oliver stritten sich um eine MonsterMan-Puppe, und Meike saß in der chaotischen Küche, Selina an der Brust, und aß Schokolade. Ich betrachtete sie kopfschüttelnd und füllte erst einmal die Spülmaschine. Als sie lief, setzte ich mich zu meiner kleinen Schwester an den Küchentisch.

    „Schau mich nicht so kritisch an, Karen!, verteidigte sie sich schwach. „So ist es eben, wenn man Kinder hat.

    „Tu nicht so, als sei das Schicksal. Du wolltest doch Kinder! Und ich glaube nicht, dass man sich so gehen lassen muss. Du siehst aus, als seiest du immer noch schwanger. Himmel, du bist doch nicht schon wieder - ?"

    Sie schüttelte den Kopf. „Wie denn? Robbi rührt mich kaum noch an, und ich kann´s ihm nicht verdenken."

    War das einfach Schlamperei oder eine postnatale Depression? Andererseits war Selina schon fünf Monate alt... Ich entschied mich für die Schlamperei. Allerdings hätte ich in einer Dreizimmerwohnung mit drei kleinen Kindern auch Zustände bekommen.

    „Kann Vanessa nicht bald in den Kindergarten? In einen ganz normalen, damit du da nicht noch mehr eingebunden bist?"

    „Ja, ab ersten April hab ich einen Platz für sie."

    „Wenigstens etwas. Komm, wenn Selina satt ist, räumen wir auf und dann duschst du mal und ziehst dir was Besseres an. Du siehst aus wie ein Bündel Lumpen, so kannst du dich doch nicht wohl fühlen!"

    „Ich bin so schlapp..."

    „Das kommt vom Rumsitzen", antwortete ich streng und kam mir vor, als hätte ich eine lustlose Schülerin vor mir.

    „Jetzt schau, dass du deinen Arsch hochkriegst – er hängt sowieso", fügte ich kritisch hinzu und Meike sah mich böse an.

    „Das weiß ich auch. Fürs Fettabsaugen haben wir kein Geld!"

    „Fett absaugen? Beweg dich und lass die Schokolade weg, das reicht schon!"

    Ich nahm ihr Selina ab, die mir etwas Milch auf die Schulter rülpste, und setzte sie in die Babywippe, damit sie uns beim Aufräumen zusehen konnte. Das gefiel ihr, sie sah gerne, wenn andere arbeiteten.

    Vanessa und Oliver bekamen den Auftrag, ein schönes Bild zu malen, den MonsterMan versteckte ich erst einmal. Sofort begannen sie, sich um die Stifte zu zanken. Meike schlurfte hinter mir her, begann dann aber doch, den herumliegenden Kram im Wohnzimmer in die Regale zu räumen und holte wenigstens den Staubsauger. Während ich das Wohnzimmer weiter in Ordnung brachte und die verstaubten Pflanzen einmal wieder goss, zog sie auf meinen Befehl hin das etwas muffige Ehebett ab und stopfte eine Ladung Wäsche in die Maschine. Ich putzte danach die Küche, Meike bezog die Betten frisch, brachte das Schlafzimmer auf Hochglanz und entfernte die Schmutzränder im Bad.

    „Das reicht erst mal, fand ich. „Du duschst jetzt, wäschst dir deinen Bappkopf und ziehst dich etwas besser an. Oder passt außer den Jogginghosen gar nichts mehr?

    „Die schwarzen Jeans müssten noch gehen..."

    „Dann ab mit dir. Ich spiele mit den Kindern Memory."

    Vanessa und Oliver kreischten begeistert – das einzige Spiel, bei dem sie jeden Erwachsenen schlagen konnten! Ich ließ mich, das Baby auf dem Schoß, von ihnen in zähem Kampf besiegen, bis Meike etwas frischer wieder ins Zimmer trat.

    „Du solltest etwas mehr planen, wenigstens wochenweise", empfahl ich ihr besserwisserisch.

    „Ich weiß ja, dass du es doch nicht tust, aber ein Pfund pro Woche abnehmen, die Bude putzen, etwas Gymnastik, Vanessa in den Kindergarten, etwas hübscher stylen... Hilft Robbi dir eigentlich gar nicht?"

    „Nur am Wochenende ein bisschen. Sonst kommt er ja immer so spät, aber das ist doch unser einziges Einkommen..."

    „Sag mal – noch ein Kind wollt ihr aber nicht, oder?"

    Meike schaute verkniffen drein. „Nicht unbedingt, aber man weiß ja nie..."

    „Ich finde ja, drei reichen. Aber das müsst ihr wissen. Irgendwann willst du doch auch wieder arbeiten, oder?"

    „Was denn? Grafik wird doch heute mit dem Computer gemacht – und sonst hab ich doch nichts gelernt. Ich hab ja nicht studiert wie du!"

    Langsam wurde ich sauer. „Sag das nicht in einem Ton, als hättest du nicht studieren dürfen! Niemand hat dich zu deiner Ausbildung und zu dieser Ehe gezwungen. Lass endlich dieses Selbstmitleid! Du hast einen akzeptablen Mann, drei putzige Kinder – naja, mehr oder weniger putzig – und jetzt mach was draus. Ich kann doch nicht immer kommen und dich aus dem Sessel zerren. Jaulst du Robbi auch in diesem Ton an? Dann wundert es mich nicht, dass er Überstunden macht."

    Meike sah mich mit Tränen in den Augen an. „Und stell diesen waidwunden Blick ab! Bei mir zieht das nicht, das sehe ich täglich. Du müsstest nur noch dazu sagen Ich versteh´ das nicht, eben war die Hausaufgabe noch im Heft! Raff dich endlich auf! Ich komme nächste Woche mal zu einem Kontrollbesuch, und dann bist du anständig angezogen und die Wohnung ist vorzeigbar, klar?"

    „Boah ey, bist du in der Schule auch so fies drauf?"

    „Klar, sonst gehst du da unter."

    Sie musterte mich. „Und du hast so eine tolle Figur..."

    Ich verdrehte die Augen. „Wir haben alle drei exakt die gleiche Figur. Wenn du sie wieder haben willst, dann beweg dich und hör mit dieser blöden Schokolade auf. Wenn du sie nicht wieder haben willst, dann trag´s mit Grazie – aber nicht mit einem Jogginganzug."

    „Ja, Mama... Ich werd´s versuchen..."

    „Du wirst es nicht versuchen, du wirst es tun, verstanden? Und jetzt muss ich an meinen Schreibtisch zurück, ciao."

    Ich fuhr auf dem Rückweg gleich beim Supermarkt vorbei und füllte den Kofferraum, voller Energie: Ich war ja so viel besser als Meike! Als ich in der Tiefgarage meine Kartons auslud, sah ich Marianne, die schräg über mir wohnte. Ich wollte sie schon grüßen, merkte dann aber, dass sie nicht alleine war. Der Mann aus der Wohnung über mir zog sie gerade in seine Arme und die beiden küssten sich so intensiv, dass ich schon nach einem Blick darauf ganz weiche Knie bekam. Waren die zusammen? Warum wohnten sie dann in zwei Wohnungen?

    Ich schleifte meine Beute in den ersten Stock und verstaute alles in der Küche. Für die nächste Woche war ich damit versorgt.

    Dann ließ ich mich wieder aufs Bett fallen. Der Anblick eben hatte in mir etwas ausgelöst – aber was? Wollte ich auch so etwas? Andererseits – Männer störten einen doch nur bei der Arbeit... Meike hatte ein Mann drei Kinder und Verzweiflung eingebracht... Blödsinn, das hatte die dumme Meike doch ganz alleine geschafft – na, fast... Und Silke? Immer wenn sie mal wieder einen Kerl hatte, schlampte sie bei der Arbeit - nur gut, dass die Kerle immer schnell verbraucht waren, sonst hätte diese Modezeitschrift meine elegante, aber unzuverlässige Schwester schon längst gefeuert.

    Und wie war´s früher bei mir?

    Peter, im zweiten Semester... Eigentlich hatte er mich nicht von der Arbeit abgehalten, wir

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1