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Kein Wohlgefallen: Kriminalroman
Kein Wohlgefallen: Kriminalroman
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eBook354 Seiten4 Stunden

Kein Wohlgefallen: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Katja Herzberger beschließt, endlich aus ihrem Elternhaus, in dem es zugeht wie in einer amerikanischen Seifenoper, auszuziehen, um etwas Distanz zwischen sich und ihre zahlreichen anstrengenden und problembehafteten Geschwister und die kontrollwütige Mutter zu legen. An Heiligabend kommt sie aber brav zurück - und nach dem obligatorischen Kirchgang findet die Familie eine Leiche im Garten, einen eher ungeliebten Bekannten der Familie. Zeitgleich werden Katjas Bruder Nick und sein Freund Raphael immer seltsamer und vor allem immer giftiger Katja gegenüber. Haben die beiden mit dem Mord etwas zu tun? Geht es um Geld? Oder um Rache? Katja schnüffelt selbst ein bisschen herum - auch um den netten Kripobeamten Reuchlin zu unterstützen, der ihr zunehmend besser gefällt...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum30. Jan. 2016
ISBN9783737563857
Kein Wohlgefallen: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Kein Wohlgefallen - Elisa Scheer

    1 – Montag, den 08.11.2010

    „Ich hätte dich nie heiraten sollen!, keifte es unter ihr. „Pech gehabt!, schrie eine Männerstimme zurück. „Jetzt hör endlich auf mit dem Quatsch!"

    „Quatsch nennst du das? Das ist ja interessant!"

    „Ach, lass mich in Ruhe. Ich hab Wichtigeres zu tun."

    Das unverständliche Antwortgekreisch brachte Katja dazu, mit dem bereitstehenden Besenstiel auf den Boden zu klopfen. Nicht, dass das irgendwas genutzt hätte – aber sie wollte doch deutlich machen, dass sie sich gestört fühlte. Und wie!

    Wie sollte man eine Englischschulaufgabe korrigieren, wenn dauernd um einen herum die Hölle tobte? Da konnte man ja gleich in eine Slumgegend ziehen, in ein Haus mit ganz, ganz dünnen Wänden – schlimmer war es dort bestimmt auch nicht. Bloß mehr Läden in der Nähe.

    Alex und Irma schienen sich beruhigt zu haben, dafür drehte Nick nebenan jetzt seine Anlage auf – und den Musikgeschmack wollte sie nicht geschenkt haben.

    Dass man das so deutlich hörte, obwohl ein leeres Gästezimmer dazwischen lag? Verdammt laut hatte er wieder aufgedreht. Blöder Nick! Katja legte den Rotstift beiseite und trat auf den Gang.

    „Ruhe zu brüllen reichte nicht, also riss sie Nicks Tür auf. „Kannst du das bitte mal leiser stellen? Andere Leute müssen arbeiten!

    Nick grinste ihr von seinem stylischen grauen Ledersofa entgegen. „Augen auf bei der Berufswahl, kann ich da nur sagen. Ich hab jetzt frei, und das finde ich um halb acht Uhr abends auch ziemlich angebracht. Außerdem gibt es gleich Essen. Willst du dich nicht umziehen?"

    Katja musterte ihn missmutig. „Ich mach´s wie du. Sakko drüber und aus die Maus. Aber nachher muss ich wirklich noch was tun, und in dieser Lärmhölle geht das absolut nicht."

    „Dafür bist du morgens laut. Musst du immer um halb sechs duschen?"

    „Ich muss um sieben in der Schule sein, und zwar frisch gewaschen. Was schlägst du vor?"

    Nick grinste. „Was Anständiges lernen? Na, dafür dürfte es jetzt zu spät sein. Aber schieß die Rotzgören in den Wind und fang in der Firma an. Für Sachbearbeitung dürfte es gerade noch reichen, du hast ja Abitur."

    „Und zwar ein viel besseres als du!", schoss Katja zurück.

    „Dafür hab ich zwei Staatsexamina", konterte Nick.

    „Ich auch!"

    „Aber im falschen Fach", grinste Nick.

    Katja gab auf, knallte die Tür zu und kehrte in ihr Zimmer zurück.

    Sie musste hier raus, eindeutig. Keiner nahm sie ernst, alle hatten nur ihre Scheißmöbel oder ihre Scheißkinder im Kopf – reuig dachte sie an Leon und Aurora, die je eigentlich niedlich waren und nichts für ihre bescheuerten Eltern konnten.

    Familie war was Schreckliches. Wieso musste sie mit einer Glucke von Mutter und vier Geschwistern geschlagen sein? Und einem schlossartigen Elternhaus, in dem leider wirklich alle Platz hatten? Na, fast alle. Susanne mit Mann und auch schon fünfköpfiger Brut wohnte wenigstens eine Ecke weiter im Kiefernweg.

    Sie sollte ausziehen.

    Bei dem Gedanken wurde ihr ganz flau. Wie sollte sie das denn Mama beibringen, die alle ihre Kinder um sich versammelt wissen wollte?

    Sie konnte ja in der Nähe wohnen… nein, lieber nicht, sie mochte Leiching auch gar nicht, und in der Nähe der Schule war die Gegend viel netter, da war was los, da gab es Läden und Kneipen ohne Ende.

    Sie konnte ja sonntags herkommen. Oder es wenigstens versprechen. Einmal pro Woche war die Bande bestimmt erträglich. Eigentlich waren sie ja alle ganz nett, sie nervten nur tierisch.

    Viertel vor…

    Sie kämmte die schulterlangen braunen Haare flüchtig durch und band sie im Nacken wieder zusammen, dann zog sie den hellbraunen Bouclé-Blazer wieder über, der ihr beim Korrigieren zu warm geworden war.

    Ordentlich, fand sie beim Blick in den Spiegel. Ordentlich reichte für ein Familienessen an einem normalen Novemberabend völlig aus. Morgen musste sie ohnehin zu einem Vortrag, der um sieben begann, da war sie dann zum Essen gar nicht da. Sehr passend, morgen gab es Lamm, und wenn sie etwas hasste, dann Schaf in jeglicher Gestalt. Schaf war nicht essbar, basta.

    Die braunen Samtjeans sahen auch noch vorzeigbar aus. Sie wischte etwas Locherkonfetti von ihrem linken Knie und verließ das Zimmer. Dreißig Jahre alt und wohnte noch bei Mama! Gut, alle wohnten noch bei Mama, und es war eher so wie in einer amerikanischen Soap… aber hatte sie sich vor dem Fernseher nicht auch ab und an gefragt, warum manche der Kinder sich nicht einfach nach Skandinavien, Neuseeland oder sonst wohin davon machten, wo der allzu vereinnahmende Patriarch sie nicht mehr erreichen konnte?

    Vielleicht sollte sie wirklich auch mal nach einer Wohnung schauen…

    Mal sehen!

    Auf der Treppe traf sie Lisa.

    „Na, Leon schon im Bett?"

    „Klar. Acht Uhr ist echt zu spät für ihn. Und Fisch mag er eh nicht. Boah, ich bin so was von müde… die Uni, der Kleine, diese Familie hier…"

    Katja grinste. „Anstrengend, was? Aber woanders müsstest du dir selbst eine Kinderbetreuung suchen."

    „Eben. Nee, ich bleibe hier, ich bin ja nicht doof. Wir bleiben ja alle hier…"

    Sie seufzte noch, als sie nach links Richtung Esszimmer abbog. Katja folgte ihr.

    Die Tafel war üppig gedeckt, mit Tafelaufsätzen, goldgeränderten Tellern, Besteck für mindestens drei Gänge und den entsprechenden Gläsern. Katja grummelte insgeheim. Sie war die einzige, die prinzipiell keinen Alkohol trank, und musste sich täglich dieselben blöden Sprüche anhören.

    „Für Sie Wasser?", fragte Doris auch prompt – in einem Ton, als sei Wassertrinken ein perverses Laster.

    „Ja, bitte", murmelte Katja, der heute ohnehin alles hier auf die Nerven ging. Sie setzte sich gerade, als Alex und Irma hereinkamen – Hand in Hand. Konnten die sich nicht mal dauerhaft vertragen, anstatt sich lautstark zu zanken und dann öffentlich herumzuschmusen?

    Nick eilte herbei. „Gibt´s bald was? Ich will mit Raphael noch ins Theater, und das Stück fängt um halb neun an."

    „Das hättest du besser planen müssen", wies Mama ihn zurecht, die hereingesegelt kam, gefolgt von Doris mit Wasser und Wein.

    „Ach, Katja, dieser alberne Puritanismus! Zu einem gepflegten Essen gehört nun mal auch ein guter Wein."

    „Ich habe noch zu arbeiten", entgegnete Katja und schenkte sich selbst etwas Wasser ein.

    „Jetzt noch?" Der Ton klang nahezu fassungslos.

    „Sag ich ja, feixte Nick, „Augen auf bei der Berufswahl! Und wenn du dir alle Nächte um die Ohren schlägst, befördert wirst du doch nicht.

    „Wieso nicht?", fragte Irma irritiert.

    Katja grinste in sich hinein. Kein Grund, emanzipatorische Geschütze aufzufahren – das tat Irma immer dann gerne, wenn sie Alex eins auswischen wollte.

    „Nicht aufregen, das ist das Beamtenrecht. Ich bin gerade erst auf Lebenszeit verbeamtet worden, also wird es ca. zwanzig Jahre dauern, bis ich befördert werden kann. Aber nachdem mit dieser Beförderung eine Gehaltserhöhung von etwa fünfzig Euro verbunden ist, ist es mir ziemlich wurscht, ob ich ein Ober vor die Studienrätin setzen kann oder nicht."

    Mama warf ihr einen milde tadelnden Blick zu und begann mit Alex ein Gespräch über die neue Duo-Combi-Linie, während Doris die Suppe austeilte.

    Katja löffelte stumm. Sie hatte vergessen, dass das Lehrerdasein nicht als schickliches Gesprächsthema galt. Sie hätte BWL studieren und in der Firma mitarbeiten sollen. Oder Jura. Oder Design. Oder Holzwirtschaft. Aber dafür gab´s ja schon genug Familienmitglieder. Und dafür hatte sie sich auch noch nie interessiert.

    War sie deshalb eine Schmarotzerin? Das hatte Mama ihr schon einmal vorgeworfen – sie lebe vom Unternehmen, sie habe von Papa Geld geerbt, das ins Unternehmen gehöre, sie tue nichts für das Unternehmen… Aber sie arbeitete doch! Nur woanders. Sie zahlte ihre Steuern, sie konnte keine Miete zahlen, weil Mama keine annahm – das hätte sie ihres liebsten Druckmittels beraubt.

    Solange sie hier lebte, wäre sie immer ein Fremdkörper. Nein, gleich morgen würde sie sich nach einer Wohnung umschauen. Leisten konnte sie es sich schließlich. Zwei Zimmer oder so. Verkehrsgünstige Lage, moderne Installationen, Dusche und Badewanne. Das Heißwasser hier war ja ein Trauerspiel.

    „Du bist heute so still? Und willst du keinen Fisch?"

    Katja sah auf. „Oh. Doch, doch." Sie nahm sich von der hingehaltenen Platte ein bisschen gekochten Pangasius und großzügig Brokkoli und Kartoffeln.

    Toll war es nicht, was Frau Remmler da zusammenkochte: Alles ein bisschen trocken. Aber ob sie selbst es besser konnte? Kochen hatte sie nie gelernt. Na, wenn schon. Gab es eben Brote, bis sie den Dreh raus hatte.

    „Worüber denkst du eigentlich nach?", fragte Alex, der neben ihr saß.

    „Sorry. Nur über morgen. Viele Termine. Ich bin zum Essen morgen leider nicht da. Abendveranstaltung in der Schule."

    „Und da gehen alle Pauker immer hin?", fragte Nick spöttisch.

    „Nein. Aber sie sollten eigentlich."

    „Und deswegen übst du dich in preußischer Pflichterfüllung?"

    Katja grinste breit. „Ganz genau."

    „Streitet euch nicht schon wieder, mahnte Mama. „Katja, fang doch nicht immer wieder von diesem leidigen Thema an!

    „Ich? Katja war entrüstet, winkte dann aber ab. „Ach, egal. Ich werde mich bessern.

    Nick lachte. „Armes Opfer!"

    Der Tisch war zu breit, um auf der gegenüber liegenden Seite ein Schienbein zu erwischen, leider. Katja brütete über dieser Ungerechtigkeit. Wieso war sie denn immer Schuld, auch wenn Nick anfing? Oder Alex? Oder Irma? Oder dieser Affe Adrian?

    Wahrscheinlich, weil sie die einzige war, die nicht das tat, was Mama für angemessen hielt – sie arbeitete nicht in der Firma und sie war nicht Mutter. Susanne mit ihren fünf Kindern war da natürlich Vorbild. Und Lisa, die immerhin nach dem Studium vorhatte, bei Herzberger Design anzufangen, war auch eine Brave. Die Jungs, Alex und Nick, ja ohnehin. Nur sie machte seltsame Dinge. Anderer Leute Kinder unterrichten – das war befremdlich.

    Fand Mama jedenfalls.

    Und deshalb war Katja auch eine Exotin in dieser Familie.

    Sie sah auf. Alles aß gleichmütig, Nick erörterte mit vollem Mund eine Rechtsfrage mit Alex, Irma plauderte mit Mama über eine Ausstellung, Lisa rieb sich die Augen. Niemand beachtete sie.

    Der Brokkoli war nicht besonders – aber wenigstens gesund. Katja schob das Essen auf dem Teller herum, aß wenigstens die Kartoffel und ein bisschen Gemüse und die trockenen Ränder des Fischs – in der Mitte war er nicht so ganz durch, schien es ihr.

    Hier war es furchtbar. Heute kam es ihr noch furchtbarer vor als sonst. Allein schon die Möbel! Im ganzen Haus schweres, dunkles, reich geschnitztes Mobiliar. Der Geschmack von Papas Großeltern, die das Haus um 1900 gebaut hatten, als Herzberger-Möbel eben solches Zeug herstellte und damit reich wurde. Repräsentativ waren die Möbel, das schon – aber wer sollte diese Schnitzereien ohne Dienstmädchen – ohne mehrere Dienstmädchen! – sauber halten?

    Sie hatte vor kurzem eine Kollegin besucht, und dort waren die Möbel aus Birkenholz, glatt, mit Stahlkanten. Hell und klar, eindeutige Linien. Die Räume hatten fast leer gewirkt, übersichtlich und durchdacht. Ihr hatte das gut gefallen.

    Wenn sie ausziehen würde, dann hätte sie irgendwann vielleicht auch solche Möbel. Irgendwann…

    Wieso eigentlich so kleinlaut?, fragte sich Katja und reichte Doris den halb geleerten Teller, den diese mit mürrischem Gesicht entgegen nahm. Reiches Pack, die essen nicht mal auf, stand ihr praktisch auf der Stirn geschrieben.

    Doris mochte sie nicht, schon deshalb, weil sie ihren Schreibtisch in Ruhe lassen sollte. Und einmal hatte sie sie ganz spitz gefragt, warum sie denn ihre Schubladen abschließe? Ob sie denke, dass das Personal stehle? Ob man ihr jemals Grund zu einer solchen Annahme gegeben habe?

    Katjas eilige Versicherungen, dass es nur wegen der Schülerakten sei, die geheim zu halten sie verpflichtet sei – sie müsse auch in der Schule darauf achten, dass alles abgeschlossen sei – wurden mit dem verdienten Unglauben entgegen genommen: Kein Lehrer trug Schülerakten mit nach Hause. Und sie war für so etwas auch nicht verantwortlich.

    Seitdem hatte Doris sie noch verächtlicher gemustert. Vielleicht weil sie ihr Zimmer peinlich ordentlich hielt und Doris maximal mal Staub wischen oder durchsaugen konnte. Wahrscheinlich musste man dem Personal gegenüber unbefangener auftreten, aber das konnte sie eben nicht.

    Doris kam mit dem Dessert. Katja warf einen Blick auf die crème brulée und schüttelte den Kopf. „Ich nehme heute lieber Käse."

    „Bitte, dann nicht", pampte Doris sie halblaut an, was ihr einen strafenden Blick der Hausherrin eintrug.

    Wahrscheinlich war sie auch an der nun fälligen Strafpredigt schuld, dachte Katja und sah sich wieder einmal um.

    Alles löffelte crème brulée, dieses widerliche Zeug mit dem Geschmack nach verbrannter Milch. Keiner sprach. Gefräßiges Schweigen. Betont zierlich aß nur Irma, der Rest schaufelte.

    Vielleicht war sie ein Kuckucksei, überlegte Katja nicht ohne Amüsement; alles, was die anderen liebten, war ihr egal oder zuwider.

    Nein, Quatsch. Leider sah sie genauso aus wie die anderen – blaue Augen, braune, leicht gelockte Haare und ein ziemliches Durchschnittsgesicht. Alle Mädels genau 1,75 groß, alle Jungs genau zehn Zentimeter größer. Alle wie aus einer Gussform.

    Nein, sie gehörte eindeutig zu dieser Familie.

    Kleinlaut… sie hatte vorhin an kleinlaut gedacht…

    Ach ja – sie konnte sich Möbel leisten, sie konnte sich eine Wohnung leisten, sie konnte sich nahezu alles leisten. Ihr Erbteil hatte sich in den letzten elf Jahren sehr nett vermehrt. Aus hundertfünfzigtausend Euro waren mittlerweile rund vierhunderttausend geworden. Sie könnte sich fast ein Häuschen leisten. Wie das hier, bloß kleiner. Und es geschmackvoll einrichten…

    „Was grinst du da vor dich hin?"

    Katja sah auf und Alex in die fragenden Augen.

    „Bloß so, warum? Darf ich nicht gut gelaunt sein?"

    „Bist du sonst doch auch nicht, entgegnete Alex. „Du lebst hier wie die Made im Speck und ziehst noch eine Lätsch´n. Was willst du eigentlich?

    Weg will ich, dachte Katja, aber sie hütete sich, das zu sagen.

    „Wieso Made im Speck?", fragte sie stattdessen.

    „Na, zahlst du hier vielleicht Miete?"

    „Hier zahlt niemand Miete. Du doch auch nicht."

    „Ich schaue ja auch nicht immer drein, als sei mir hier alles nicht gut genug. Du lebst hier kostenlos, kriegst die Zimmer geputzt, die Wäsche gemacht, das Essen serviert – du könntest wenigstens dankbar sein."

    Katja öffnete den Mund, um zu protestieren – sie hatte nur ein Zimmer, machte ihre Wäsche selbst (im Waschsalon, um das Personal nicht zu vergrämen – aber Doris wäre es ja eine Freude, ihre Blazer zu kochen und die Jeans zu bügeln) und wollte diese schrecklichen Abendessen gar nicht. Aber dann winkte sie ab. „Wie du meinst. Aber sei doch froh, dass ich keine crème brulée mag, so ist für dich doch noch ein zweites Schälchen abgefallen. Außerdem – sie senkte die Stimme – „leben wir nicht hier, weil wir aufs Hotel Mama angewiesen sind, sondern weil Mama darauf besteht.

    „Na und? Sie hat eben Familiensinn. Du ja nicht so."

    „Wenn schon. Kann dir doch egal sein. Ihr habt dafür alle ein bisschen zuviel davon."

    „Was zischelt ihr da?", wollte Mama wissen.

    „Ach, nichts Besonderes", log Alex rasch.

    „Besonderes bespricht er nur mit mir, nicht wahr, mein Schatz?", gurrte Irma und schmiegte sich an Alex´ andere Seite.

    „So wird´s sein, bestätigte Katja gleichgültig. „Oh, fein, da kommt der Käse!

    Sie betrachtete sich das Tellerchen mit mehr Begeisterung, als es verdiente – ein Eckchen Gruyere, ein Klacks Frischkäse, ein winziges Stück arg reifer Camembert, zwei Scheibchen Baguette, eine Traube, eine schwarze Olive. Naja.

    Wenn sie erst einmal eine eigene Küche hätte, würde sie sich mal einen richtigen Käseteller machen. Mit allen Schikanen und vielen leckeren Sorten. Und grünen Oliven.

    „Heute kommt ein alter Tatort", verkündete Mama, die gerade zierlich ihr Schälchen crème brulée ausgelöffelt hatte.

    Katja mochte alte Tatorte nicht, außer denen, die in Münster spielten – aber die waren Mama wieder zu destruktiv. Also verkündete sie, sie habe noch zu arbeiten.

    Stimmte ja auch; Lust hatte sie allerdings keine mehr. Wenn man so spät aß…

    2 – Dienstag, den 09.11.2010

    So früh wie Katja musste sonst keiner aus dem Haus, also schlief noch alles, als sie so leise wie möglich duschte, sich anzog, ihre Tasche kontrollierte und aus dem Haus schlich. Auf dem Weg zur Schule kam sie an einer exzellenten Bäckerei vorbei, die um sechs öffnete und um halb sieben schon sehr gut sortiert war. Dort holte sie sich zwei Sandwiches, eine Flasche Orangensaft und eine Flasche Wasser. Mandarinen hatte sie noch in ihrem Fach liegen (wenn sie keiner geklaut hatte).

    Das war am Mariengymnasium wie an allen Schulen das Problem - niemand hatte etwas ausreichend Großes und Abschließbares – es gab Postfächer, die mit der Sendung eines Prüfexemplars und zwei Kopiervorlagen schon vollgestopft waren, und die Stapel auf den Tischen – jeder hatte vor sich Bücher, halb eingesammelte Schulaufgaben, diverse Zettel, unbearbeitete Post, einen Kaffeebecher mit Stiften, meistens noch weitere Kaffeebecher mit unappetitlichen Kaffeeresten, Obst, angebrochene Gebäcktüten, daneben (sofern noch Platz war) einen CD-Player und zusammengerollte Lerntafeln. Für etwa dreißig arrivierte Kollegen gab es noch abschließbare Schränkchen im Format vierzig mal vierzig – mit drei Ordnern waren die praktisch voll, aber den Besitzlosen erschienen diese zerkratzten Schränkchen an der hinteren Wand des Lehrerzimmers als unerhörter Luxus.

    Katja stellte im noch menschenleeren Lehrerzimmer fest, dass sich niemand an ihrem Stapel vergriffen hatte, packte ihre Tasche aus und um und ging nach nebenan, um den Kopierer hochzufahren.

    Sie produzierte drei Stapel Arbeitsplätter und eine Folie, lochte alles und verräumte es, danach packte sie ihre Brotzeit in das Körbchen auf ihrem Platz und verschloss es.

    Ach nein, sie hatte ja noch gar nicht gefrühstückt! Sie trank ein paar Schlucke Saft, aß die Semmel mit Leberkäse, Senf und Gurke, verräumte den Müll und begrüßte die ersten Kollegen, die nun langsam eintrudelten. Kurz vor halb acht, da wurde es hier immer lebendig.

    Das freundliche Nicken von Luise Wintrich und Hilde Suttner freute sie am meisten, die beiden waren nett und kompetent und bemühten sich wirklich, in dieser heillos überfüllten Schule die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

    Nicht leicht ohne Geld und ohne Platz, aber sie hatten schon einiges erreicht. Luise hatte es vor einiger Zeit sogar fertig gebracht, Teile des Albertinums noch hier unterzubringen. Die hatten jetzt eine nagelneue Schule draußen in Mönchberg. Mit nicht gerade wenigen Mängeln und schon wieder zu klein, wie man hörte…

    An Katjas Tisch wurde es zusehends voller. „Hast du deine Englisch-Klausur schon fertig?, fragte Sabine, heftig in ihrer Tasche wühlend. „Verflucht, wo hab ich´s denn, ich kann´s doch nicht vergessen haben…

    „Nö. Du?"

    „Ach wo. Ich schaff´s bestimmt nicht bis zum sechzehnten. Ich seh mich überhaupt nicht mehr durch. Und jetzt hab ich die Mappe für die achte in Spanisch vergessen. Kacke."

    „Bis zum sechzehnten musst du´s aber schaffen, mahnte Katja. „Hilft nichts, aber die Waldner ist da streng. Drei Wochen, nicht länger.

    „Mist. Wie weit bist du denn? Hast du mal einen Rotstift?" Sabine plumpste neben sie. Katja gab ihr einen von denen, die für schnorrende Kollegen gedacht waren – von denen kriegte man nie was zurück.

    „Hier. Nur noch den Essay, den Rest hab ich. Vielleicht kann ich´s am Donnerstag rausgeben. Schaut nicht schlecht aus."

    „Bei mir schon. Garantiert über vier null. Dann muss ich ja auch noch zum Chef – dann kann ich die drei Wochen ja gar nicht einhalten." Sie grinste triumphierend.

    „Vergiss es, zerstörte Katja ihre Hoffnungen, „so was ist eingerechnet. Du musst dich wohl ranhalten. Aber ein Wochenende hast du ja noch.

    „Was nützt mir ein Wochenende? In meinem Kurs sind 22 Leute, ich hab noch vier Aufgaben vor mir, und wir fahren am Wochenende zu Wolfis Schwester nach Hamburg. Mal so richtig durch die Kneipen ziehen."

    Katja wunderte sich ein bisschen. Was war das für eine Planung? Andererseits war so etwas Kopfloses für Sabine durchaus typisch.

    „Ich hab 25, sagte sie also nur. „Oh, ich muss los. Die 10 b wohnt mal wieder am Arsch der Welt, im Dachgeschoss.

    „Dann mach dich mal an den Aufstieg. Hasta la vista, baby."

    Eine Stunde Vorbereitung auf die Lateinschulaufgabe, eine Doppelstunde Englisch in der Elften, dann hatte sie wieder eine längere Pause. Sie trieb sich im Lehrerzimmer herum, sortierte ein Ex fertig, dessen letzte Exemplare man ihr ins Fach gelegt hatte, und steckte es der Fachbetreuerin für Latein ins Fach, tat das gleiche mit einem Ex der 5 c und begann die Sozialkundeklausur zu entwerfen. Da hatte sie alle vier Kurse gleichzeitig – furchtbar, fast hundert Leute. Sie hatte erst eine korrekturtaugliche Aufgabe gebastelt, als sie wieder in den Unterricht musste – ein Häppchen Sozialkunde, zwei Stunden Intensivierung in der Fünften.

    Die Kleinen waren einfach entzückend, sinnierte sie auf dem Weg zurück ins Lehrerzimmer. Und so eifrig. Manchmal noch nicht so ganz gewitzt, aber es waren ja auch noch so kleine Köpfe…

    Im Lehrerzimmer herrschte immer noch gewaltiger Trubel. Katja fiel ein, dass heute Nachmittag Seminare stattfanden – also war das Gedränge wohl kein Wunder. Na, ihr reichte es jetzt. Vielleicht würde sie im nächsten Jahr auch ein Seminar anbieten…

    Da sollte sie mal drüber nachdenken.

    Isi setzte sich zu ihr und stöhnte. „Boah – wieso hab ich eigentlich nur Mittelstufe? Solche Rotznasen! Für ihre Muttersprache interessieren die sich doch einen Dreck."

    „Hast du dich mitten in der Pubertät für Textzusammenfassungen und indirekte Rede interessiert?"

    Isi musste lachen. „Nee, du hast ja Recht. Ist mir alles total am Arsch vorbei gegangen. Aber wir glauben ja immer -"

    „- dass wir so wahnsinnig motivierend sind, ganz anders als unsere ollen Pauker früher", vollendete Katja den Satz und feixte.

    Isi feixte zurück. „Ganz genau. Na, ich gehe jetzt heim und streiche den Flur. Hab ich schon seit Tagen vor. So was lenkt so schön von allem anderen ab. Und wenn man schon mal keine Schulaufgaben liegen hat…"

    „Welche Farbe?"

    „Zart apricot. Der Flur ist so dunkel. Die Wohnung ist eigentlich grausig, aber die Miete ist schön billig. Am Bahnhof. Nur schlechte Kneipen, wohin man schaut."

    „Das stelle ich mir eigentlich ganz lustig vor", überlegte Katja.

    „Echt? Ich hätte lieber was Gepflegteres in einer besseren Gegend. Aber dafür reicht´s noch nicht. Ist schließlich erst mein zweites Jahr hier. Wo wohnst du eigentlich?"

    „Leiching", gab Katja ungern zu.

    Isi pfiff durch die Zähne. „Wow! Vom Feinsten, was?"

    „Naja. Fade Gegend. Und ich würde lieber wo wohnen, wo es genug heißes Wasser gibt, eine funktionierende Heizung und wenigstens überhaupt mal eine Kneipe."

    „Hast du so ne Bruchbude erwischt? Dann zieh doch um!"

    „Will ich jetzt auch. Ausziehen, besser gesagt."

    Isi schaute besorgt. „Du willst dich trennen? Tut mir Leid."

    „Wie – trennen?"

    „Na – ausziehen, das klingt, als wolltest du dich von einem Macker verabschieden."

    Katja spürte, wie sie rot wurde. „Lach nicht – ich wohne noch zu Hause. Sozusagen, ich finde nicht, dass das ein Zuhause ist."

    „Bei den Eltern? Wie alt bist du? Dreißig?"

    Katja nickte. „Meine Mutter ist eine wahnsinnige Glucke, sie hat praktisch alle Kinder um sich versammelt. Nur meine Schwester ist entkommen."

    „Hut ab!"

    „Zu viel der Ehre. Sie wohnt eine Straße weiter und hat schon fünf Kinder. Und ich glaube nicht, dass es dabei bleibt. Mama kennt nur zwei mögliche Karrieren für ihre Töchter – Ehefrau und Mutter oder in der Firma arbeiten. Deshalb bin ich sowieso das schwarze Schaf. Und das hab ich jetzt langsam satt."

    „Firma?"

    „Ach, die stellen Möbel her. Aber mich interessieren Holz, Design und BWL halt so gar nicht."

    „Man soll ja schon machen, was einem auch liegt, meinte Isi, „aber wenn du hier bist und deine Schwester hauptberuflich brütest, wer kümmert sich dann eines Tages um die Firma?

    „Jetzt vor allem meine Mutter, aber ich habe auch zwei Brüder und noch eine Schwester. Und die drei sind in der Firma. Das muss reichen, finde ich."

    „Finde ich auch. Brüder? Hübsch? Wie alt?"

    Katja lachte. „Vergiss es. Alex ist ein Workaholic und verheiratet, und Nick ist ein Workaholic und schwul."

    „Schade. Mir hätte Leiching schon gefallen."

    „Nicht in diesem Haus. Ich muss jetzt wirklich nach einer Wohnung suchen, sonst raste ich noch total aus."

    „Was willst du denn so ausgeben?"

    „Keine Ahnung. Mir schweben zwei oder drei Zimmer vor, am liebsten hier in der Nähe oder im Malerviertel. Was kostet so was wohl?"

    Isi überlegte. „Je nach Zustand und Alter… ich denke, so zwischen siebenhundert und zwölfhundert."

    Jetzt war es an Katja, durch die Zähne zu pfeifen. „Ganz schön happig! Zwölfhunderttausend – das ist ja über eine Million! Das hab ich nicht. Nicht annähernd! Ich würde mich bis an mein Lebensende verschulden. Bist du sicher?"

    „Ja. Aber ich habe gemeint, zwischen siebenhundert und zwölfhundert Euro im Monat. Miete, du verstehst?"

    Katja schaute zerknirscht. „Logisch. Ich komme mir jetzt selbst vor wie aus dem Elfenbeinturm… aber ich suche schon eine Eigentumswohnung."

    „Unser Prinzesschen… Eigentum… da würde ich sagen, so um die zweihunderttausend herum. Im besseren Malerviertel vielleicht noch ein bisschen mehr. Hast du das?"

    „Das kriege ich hin", wich Katja aus.

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