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Eine gute Partie: Kriminalroman
Eine gute Partie: Kriminalroman
Eine gute Partie: Kriminalroman
eBook500 Seiten7 Stunden

Eine gute Partie: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Nathalie träumt davon, endlich mit dem Studium fertig zu werden und ihr Elternhaus verlassen zu können - weder mit Vater und Bruder, notorischen Zockern und Playboys, noch mit ihrer Mutter, die wegen ihrer Herzschwäche von hinten und vorne bedient werden muss, kann sie sonderlich viel anfangen. Da behauptet ihr Vater, er habe in die Firmenkasse gegriffen und nur Nathalie könne ihn vor dem Gefängnis (und die Mutter vor dem Herztod) retten, indem sie einen Unbekannten heiratet. Nach einigem Zögern willigt sie ein, um aus dieser Familie herauszukommen und nicht weiteren Erpressungen ausgesetzt zu sein. Die Ehe mit diesem Unbekannten lässt sich zunächst gar nicht so schlecht an, aber bald häufen sich die Anschläge, mal auf Nathalie, mal auf ihren Mann. Wer steckt dahinter? Nathalies geldgierige Familie? Die Verflossenen ihres Mannes oder seine Verwandtschaft? Missgünstige Mitarbeiter? Kapitalismuskritiker? Wer ist für die Leiche im Garten verantwortlich? Und wer für Nathalies Entführung? Kommissar Spengler ist zunächst ratlos, während die Frischvermählten sich langsam näher kommen; schließlich bringt Nathalie sich selbst in höchste Gefahr und trägt durch diesen Leichtsinn zur Aufklärung des Falles bei.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum12. Sept. 2015
ISBN9783737558013
Eine gute Partie: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Eine gute Partie - Elisa Scheer

    Kapitel 1

    Unlustig schaute ich in meinen Kleiderschrank. Was sollte ich bloß anziehen? Ewige Frage aller Frauen, so sagte man – aber normalerweise hatte ich damit überhaupt keine Probleme, nur heute Abend.

    Dieses dämliche Firmenfest! Wieso musste ich da überhaupt hin? Bloß weil Papa sich bei der Geschäftsleitung einschleimen wollte? Mama sollte sich besser schonen, Tobi würde sich sicher wieder vor den Jungsekretärinnen wichtigmachen und trotzdem zu nichts kommen, und ich vertat meine Zeit und tanzte notgedrungen mit dicklichen alten Kerlen, die mir erzählten, dass ihre Ehen schon lange nur noch auf dem Papier bestanden. Nur damit Papa den glücklichen und soliden Familienvater spielen konnte!

    Papa und solide, da lachten ja die Hühner.

    Wie wollte ich denn überhaupt auftreten? Alle meine Abendklamotten waren Verkleidungen. Ich konnte das brave Töchterchen spielen, die Freude ihrer Eltern, naiv und harmlos: das rosa-weiß geblümte Georgettekleid mit dem aufgebogenen doppelten Saum, das trotz der Spaghettiträger züchtig und mädchenhaft wirkte. Damit sah ich aus wie achtzehn; vielleicht lag es daran, dass das Kleid tatsächlich schon sechs Jahre alt war.

    Hm... nein. Auf mädchenhaft stand ich heute Abend nicht so sehr. Außerdem war es dafür zu kalt. Das Graue? Ärmellos, Stehkragen, schillernde Rohseide, strenger Schnitt, der schmale Rock fast bis zur halben Wade. Dazu vielleicht eine Hornbrille mit Fensterglas? Die zielstrebige Studentin, die leicht unwirsch ihre Zeit auf der Weihnachtsparty von Pfeiffer, Gartengeräte für jeden Zweck, verplemperte, obwohl sie doch viel lieber ernsthafte Studien über die französischen Frühimpressionisten betrieben hätte. Keine schlechte Rolle, dazu gehörten ein leicht überhebliches Gesicht, die Vernissagen-Visage, kritische Kommentare und gezielte Unverschämtheiten, leicht verschleiert.

    Oder die feministische Aktivistin? Die spielte ich selten, weil sie mir nicht so lag, ich hatte den theoretischen Jargon nicht besonders gut drauf. Aber das passende Outfit, handgewebtes violettes Leinen, solide Schuhe und eine Edelstahlbrosche in Form einer Schere! Mit diesem Schwanz-ab-Look käme ich heute leider nicht einmal bis zur Haustür, ohne dass Papa toben würde.

    Nein, wenn ich schon mitging, musste ich dezenter subversiv sein. Anständiges Benehmen kam aber gar nicht in Frage, dann würde ich mich zu Tode langweilen. Ich musste etwas anstellen, aber was? Und in welcher Rolle?

    Durch die weiß vergitterten Fenster meines Zimmers sah ich, dass es längst stockdunkel geworden war, es war sicher schon halb sechs. Und ich stand hier in der Unterwäsche herum! Cremefarben, immerhin passte das unter jedes Outfit. Wie wäre es mit der strengen jungen Adeligen? Dame von Welt, an nichts interessiert? Unangreifbar, körperlos, das lebende Benimmbuch? Und dann irgendeinen Eklat zünden? Für den Eklat hatte ich schon eine Idee, ich hatte eine Flasche extrascharfen russischen Wodka im Schrank. Wenn ich den in den unvermeidlichen Glühwein kippte, würde das Fest sich schnell entwickeln, wohin auch immer...

    Lebendes Benimmbuch... das kleine Schwarze? Das kleine Schwarze war nie schlecht. Schmal geschnitten, fester Stoff, durch den sich nichts abzeichnete, diskreter V-Ausschnitt, mit winzigen grauen Perlen bestickt, Rocklänge bis knapp über dem Knie... Gut, dazu noch Strumpfhosen mit Seidenglanz und Wildlederpumps. Mit den Pumps überragte ich sicher die Mehrheit der eher kugelförmigen leitenden Angestellten, vielleicht würden sie sich dann nicht trauen, mich zum Tanzen aufzufordern.

    Ich arbeitete mich vorsichtig in die Strumpfhose, zog mir das Kleid über den Kopf, bürstete mein überschulterlanges dunkelblondes Haar und steckte es zu einem strengen Nackenknoten fest. Nicht so lieblich wie Audrey Hepburn in Krieg und Frieden, aber auf jeden Fall etwas zwischen höherer Tochter und Zimtzicke.

    Eine einreihige Perlenkette, bloß Zuchtperlen, etwas altmodisches Parfum. Keine Uhr, die Notwendigkeit, auf fremde, meist feiste und haarige Handgelenke gucken zu müssen, würde wieder einige Minuten totschlagen helfen.

    Das schwarze Täschchen... Puderdose, Taschentuch (nie hatte ich diese albernen Stoffdinger mit Spitzenkante benutzt), Wodkafläschchen, Zigaretten und Zigarettenspitze – oder lieber nicht? Doch, warum nicht. Make-up? Nur dezente Grundierung, Puder, blassrosa Lippenstift, ein Hauch Wimperntusche. Perfekt. Ein irritierendes Detail wäre natürlich noch nett, etwa ein Nasenring oder ein großer Schönheitsfleck, aber das hätte ich mir früher überlegen müssen.

    Weiße Handschuhe à la Grace Kelly? Nein, zu heftig. Und zu einem halblangen Kleid affig. Andererseits würde ich dann keine Fingerabdrücke auf der Wodkaflasche hinterlassen...

    Achselzuckend wandte ich mich vom Spiegel ab und verließ mein Zimmer. Papa und Tobi warteten in der Eingangshalle, wie Papa und Mama unseren Flur mit den teuren, aber hässlichen Bauernschränken zu titulieren pflegten.

    Papa im Smoking, Tobi auch. Tobi wurde fett, stellte ich fest, seine Hose saß verdammt stramm. Und der Kummerbund schillerte, war der etwa aus Pannesamt? Schauerlich! Außerdem hatte er zuviel Pomade verwendet und wieder dieses eklige Rasierwasser benutzt. Ich warf ihm naserümpfend einen Blick zu und hängte mir meinen Mantel um.

    Papa holte Mama aus dem Schlafzimmer, wo sie wahrscheinlich genauso lange überlegt hatte wie ich, aber nicht, um eine möglichst amüsante Rolle zu spielen, sondern um einfach möglichst gut und vor allem jünger und gesund auszusehen. Sie war siebenundfünfzig und hatte ein angegriffenes Herz, aber an solchen Abenden wollte sie es noch einmal wissen.

    Eigentlich traurig, dass Papa ihr dazu nichts Besseres bieten konnte als diese öden Firmenfeste!

    Tobi musterte mich von der Seite, sagte aber nichts, bis ich ihn anfuhr: „Was ist?"

    „Lahmarschig, das ist es!"

    „Kann dir doch egal sein. Glaubst du, ich will so einen dicken, alten, verheirateten Kerl aufreißen?"

    „Vielleicht gibt´s auch dünne, junge, unverheiratete?"

    „Haha. Hab ich da noch nie gesehen. Selbst wenn, ich hab von Gartengeräten so die Schnauze voll, ich will keinen von dort."

    „Die haben einen neuen Chef."

    „Hach, wie aufregend", höhnte ich.

    „Könnte für Papa wichtig sein, dass du dich da kooperativ zeigst."

    „Vergiss es. Ich schleime für Papa bestimmt niemanden an, der soll seine Arbeit gefälligst selbst machen."

    „Das Gehalt reicht nicht."

    „Liegt das an mir? Ich verspiele nichts, im Gegenteil, ich jobbe noch nebenbei. Du bist das teure Kind, leg du dich doch zu dem neuen Chef ins Bett."

    Er packte mich am Arm, bis ich dicht vor ihm stand, und fauchte mich an: „Riskier nicht so eine große Klappe, Herzchen, du wirst schon noch tun, was Papa will!"

    „Du säufst zu viel, zischte ich zurück, „deine Nase ist schon ganz rot. Und für euch zwei tue ich bestimmt gar nichts.

    Sein Griff wurde noch fester, und ich überlegte, ob ich nachher einen schicken blauen Fleck am Arm haben würde. Keine schlechte Ergänzung meines Outfits – gepflegte höhere Tochter als Opfer häuslicher Gewalt? Familienabgründe in den feinen Straßen Leichings? Vielleicht würde ich Getuschel auslösen, das war fast besser als der Wodka im Glühwein.

    Mama und Papa traten auf, und Tobias ließ mich los. Ich warf einen interessierten Blick auf meinen Arm – tatsächlich, eine deutliche Rötung. Ich verbarg sie hastig, indem ich in meinen Mantel schlüpfte, und machte Mama ein höfliches Kompliment zu ihrem weißen, bestickten Cocktailkleid, für das sie eigentlich etwas zu alt war.

    In etwas verkniffenem Schweigen bestiegen wir Papas großen Mercedes, Tobi und ich wie immer auf dem Rücksitz. Ich zog wie immer sofort die Armlehne aus dem Polster, um die Grenze zu markieren.

    Das Fest fand im Russischen Hof statt und war so organisiert wie in allen Jahren, seitdem Papa darauf bestand, mit seiner gesamten Familie teilzunehmen: kleine Tische, in der Mitte eine Tanzfläche, eine Zweimanncombo mit Akkordeon und Schlagzeug, die mehr schlecht als recht allgemein Bekanntes spielten und dazwischen peinliche Witzchen machten und die Gäste zum Mitklatschen und Refrainsingen aufforderten. An der Stirnseite ein Transparent, Pfeiffer Gartengeräte wünscht allen Mitarbeitern ein frohes Fest. Angenehm neutral, das hätte man notfalls auch für Ostern verwenden können. Das Transparent war an den Ecken schon ein bisschen ausgefranst, seit Jahren war es in Gebrauch.

    Davor ein langer Tisch mit den üblichen Verdächtigen, Abgesandte des Vorstands der gesamten XP-Holding, in der neben Pfeiffer noch mindestens zehn weitere Firmen zusammengefasst waren. Der ominöse neue Chef war sicher der kleine Dicke, der sich die schwarzen Haare quer über die Glatze gelegt hatte und sein Smokingjackett nicht mehr zuknöpfen konnte.

    Ehefrauen im besten Cocktailkleid, wenige lustlose Kinder um die zwanzig, die Damen aus dem Schreibpool in unterschiedlich stark aufgetakeltem Zustand, jüngere Sachbearbeiter mit Jagdfieber im Blick. Vor denen hatte ich wenig Angst, die kannte ich schon von den letzten Jahren, und da war ich bösartig genug gewesen.

    Wozu schleifte Papa mich immer mit? Ich fiel ihm ja doch nur in den Rücken und benahm mich mit Freuden daneben. Vielleicht ging ich nur wegen Mama mit, die man nicht aufregen sollte, damit sie nicht keuchte und bläuliche Lippen bekam. Wegen Tobi tat ich es bestimmt nicht.

    Papa fand den für uns reservierten Tisch, rückte uns Damen mit großer Geste die Stühle zurecht und bestellte eine Flasche Rotwein. Ich bat um Mineralwasser, fest entschlossen, heute die perfekte Zicke zu geben. Garantiert würde das ein furchtbarer Abend! Tobi steckte sich bereits eine Zigarette an, lehnte sich zurück und musterte die herumlaufenden Sekretärinnen und Sachbearbeiterinnen. Die hübschesten starrte er richtig widerlich an, als malte er sich ihre nackten Körper aus.

    „Hast du Viagra eingeworfen?, flüsterte ich ihm angeekelt zu. „Du sabberst ja schon, du Lustmolch.

    „Viagra hab ich nicht nötig. Weiß Gott nicht!"

    „Gott wird das egal sein."

    „Nur kein Neid. Bloß weil du nie einen findest, der´s dir richtig besorgt, muss ich ja wohl nicht auf allen Spaß verzichten", zischte er zurück.

    „Streitet euch nicht, Kinder", mahnte Mama milde und hielt eine Hand auf ihr Herz gepresst.

    „Fühlst du dich nicht gut?", fragte ich sofort alarmiert. Eigentlich waren solche Veranstaltungen nicht gut für sie, aber sie liebte es doch so, zu zeigen, dass sie noch jung und schön war. Schön war sie wirklich, sie hatte so feine Gesichtszüge und ungewöhnlich große, hellblaue Augen. Die Falten drumherum waren mit Ende fünfzig ja wohl keine Schande!

    Leider hatten wir beide ihr Gesicht nicht geerbt, und ihre Augen auch nicht; Tobias und ich hatten beide Papas härtere Züge und seine normalgroßen, eher grünlichen Augen. Immerhin hatte ich nicht so feiste Bäckchen wie Tobi – er aß und trank eindeutig zuviel. Und er rauchte zuviel, das war schon die zweite! Der Qualm war sicher auch nichts für Mamas Kreislauf.

    Mama wehrte matt, aber anmutig ab. „Lass nur, Kind, es geht mir gut. Ich habe mich doch so auf den heutigen Abend gefreut."

    „Warum eigentlich?, fragte ich etwas bockig zurück, „Das ist doch immer das Gleiche, schlechter Wein, schlechte Musik, schräges Publikum.

    „Schräg? Papa setzte sich steif auf. „Was soll das heißen, Nathalie? Das sind meine geschätzten Kollegen und die Herren vom Aufsichtsrat der Holding, und irgendwo muss auch dieser neue Mann sein, der jetzt die Aktienmehrheit – der dahinten wahrscheinlich, der schwarzhaarige Kleine. Den kenne ich noch nicht. Das sind alles sehr korrekte Herren, also pass gefälligst auf, was du sagst! Du lebst nicht schlecht von der Firma Pfeiffer!

    Gar nicht wahr, dachte ich rebellisch, ich wohnte doch bloß noch zu Hause, aber ich verdiente mein Geld selbst und kümmerte mich obendrein um den Haushalt. Wenn ich auszöge, würde Papa gar nichts sparen.

    Ich zog es aber vor, nicht zu antworten, weil sich sonst wieder ein endloser Streit entspinnen würde. Klar war der Abend langweilig, aber durch Papas Gezanke würde er auch nicht viel spannender. Eine der Mumien aus dem Aufsichtsrat erklärte das Fest für eröffnet, nachdem er eine mäßig komische, aber dankenswerterweise kurze Rede gehalten hatte.

    Sobald sich die Massen am Buffet zu drängen begannen, stand ich auf und schlenderte durch die Räume, um sowohl dem plastikartigen Essen, das Papa wieder anschleppen würde, als auch den bald zu erwartenden dickbäuchigen und kahlköpfigen Tänzern zu entgehen. Fast eine Stunde lang saß ich in einem Vorraum auf einem kalten Marmorfensterbrett, halb von einem riesigen Ficus verdeckt, und hoffte, dass mich niemand nerven würde.

    Schließlich rutschte ich doch, gründlich durchgekühlt, wieder vom Fensterbrett und kehrte in den Saal zurück. Ein, zwei Runden, dann konnte ich mich für längere Zeit aufs Klo zurückziehen... Die Menge tanzte. Den Schnee-Schneewalzer, -walzer tanzen wir... Ausgerechnet! Ich nahm mir ein Glas Wasser, sah mich verächtlich um und verzog mich in eine Nische, wo ich sehen, aber kaum gesehen werden konnte. Dort präparierte ich meine Zigarettenspitze, zündete die Zigarette an, verkniff mir den Husten und hielt die Spitze dann dekorativ in der Hand.

    Grässliches Volk, wie immer. Papa redete eifrig auf Mama ein. Tobi tanzte mit einer Rothaarigen in einem silbernen Kleid. Ob sie wusste, wie dünn und entlarvend der Stoff war? Ich jedenfalls sah von hinten, dass sie darunter nur einen String trug, und dass das Gummi dieses Strings genau über ihrem Hintern mit einem Zierblümchen besetzt war, das sich sehr aufdringlich durch den Stretchstoff drückte. Wenig elegant, es sah fast etwas nuttig aus. Dann hätte sie ja zu Tobi gepasst, aber mir tat sie doch Leid, sicher hatte sie sich einfach nicht von hinten betrachtet. Tobi fummelte, und sie ließ es sich gefallen, wirkte aber nicht unbedingt glücklich.

    Daneben der neue Obermotz mit den schwarzen quer gelegten Strähnen. Seine Tänzerin war einen guten Kopf größer als er und zog ein Gesicht, als könne sie nur beten, dass sie hier niemand von ihren Bekannten erwischte. Konnte ich gut verstehen... Und Papa würde sicher finden, die Höflichkeit gebiete es, mit diesem verschwitzten Zwerg zu tanzen! Höflichkeit! Um Papas Job zu retten? So toll war er als Geschäftsführer von Pfeiffer wohl auch nicht, wenn er das nötig hatte! Er war ohnehin bald reif für die Rente, wenn er sich auch absolut nicht so benahm.

    Gelangweilt ließ ich meinen Blick weiter über die herumschiebende Menge schweifen. Alle uninteressant. Und die Zigarette schmeckte scheußlich. Immerhin war der Glühweintopf im Moment verlassen, also stellte ich mich so davor, dass ich ihn gegen die Leute abschirmte, praktizierte das Fläschchen aus der Tasche und leerte es hinein. Sollte hier wirklich jemand keinen Alkohol trinken dürfen, musste er von diesem Zeug ohnehin die Finger lassen, und die anderen würden sich umso schneller als die Idioten outen, die sie auch waren. Als die Flasche wieder sicher in meiner Tasche steckte, musterte ich noch einen Moment lang das Buffet, entschied mich schließlich für ein Scheibchen Baguette und knabberte, nun wieder mit dem Gesicht zum Publikum, daran herum.

    Mein Blick fiel auf einen Mann, der mich beobachtete. Ich starrte zurück. Unhöflich, ja, aber ich hatte noch nie solche Augen gesehen. Auf die Distanz wirkten sie, als hätte er keine Iris, so hell waren sie. Vielleicht ein Blinder? Nein, er sah mich, das war klar. Nicht hässlich, vor allem im Vergleich zum sonstigen Angebot, groß, schlank, gut gekleidet. Das war an einem solchen Abend zwar nichts Weltbewegendes, aber sein Smoking saß wenigstens. Dunkelblonde Haare, wie meine, gut geschnitten. Kein Bart; warum manche Kerle es für nötig hielten, eine Bürste im Gesicht spazieren zu tragen, hatte ich noch nie verstanden. Um zu zeigen, dass sie es konnten? Dass sie über Testosteron verfügten? Das merkte man auch schon am schlechten Benehmen.

    Ein kräftiges Kinn und eine vorspringende, schmale und lange Nase. Gut, in einer Schar Models wäre er untergegangen, aber für Pfeiffersche Verhältnisse war er ein Halbgott. Ich riss meinen Blick los, als ich merkte, wie unhöflich ich glotzte – aber er glotzte auch. Himmel, und jetzt setzte er sich auch noch in Bewegung! O nein, auch wenn er das relativ kleinste Übel im Saale war – den brauchte ich jetzt wirklich nicht!

    Wohin? Ganz klar, vollkommen sicher war ich auf der Damentoilette. Ich sperrte mich in einer der Kabinen ein und sank auf den Deckel. Warum hatte ich ihn so angestarrt? Und warum er mich? Hätte ich den irgendwoher kennen müssen? Mir fiel nichts ein, aber dann kam mir eine eher unangenehme Erklärung: Er hatte gesehen, wie ich den Wodka in den Glühwein gekippt hatte, und wollte mich fragen, was der Blödsinn sollte.

    Mist! Den ganzen Abend wollte ich hier auch nicht verbringen; das Klo war zwar gepflegt, aber es roch doch ein bisschen nach Urin und verdammt stark nach Haarspray – nach dem extrafeinen Nebel mit dem extra starken Halt, der vorzugsweise für graublau getönte Dauerwellen verwendet wurde. Und irgendjemand hatte sich gründlich mit einem stark vanillehaltigen Parfum eingesprüht – ein Duft wie in einer Puddingschüssel.

    Nein, lange konnte ich hier nicht bleiben; ich wartete, bis eine der älteren Damen mit blau gesprayter Frisur aus einer Kabine kam, mir einen irritierten Blick zuwarf, sich die Hände wusch und die Toiletten verließ; durch die aufschwingende Tür sah ich den seltsamen Menschen mit den hellen, kalten Augen nicht mehr, also riskierte ich es und schlich in den Saal zurück. Hinter einigen strategisch platzierten Palmen gesellte ich mich zu drei jungen Frauen in paillettenbesetzten Cocktailkleidern, die sich über einen eher zudringlichen Tänzer ausließen. Ich hörte zu und freute mich, als ich merkte, dass es um Tobi ging, war aber zu faul, sie noch weiter anzufeuern. Schließlich schlenderte ich weiter und sah in einem wandgroßen Spiegel, wie prachtvoll der Bluterguss an meinem Arm aufgeblüht war. Tobi, das Schwein! Bei Gelegenheit würde ich ihm etwas antun, aber etwas Besseres, als bloß die Mädchen hier vor ihm zu warnen, schließlich outete er sich selbst schnell genug als Drecksack.

    Ich zog mich wieder auf ein Fensterbrett zurück, nachdem ich mir noch ein Glas Wasser geholt hatte. Papa tanzte mit seiner Sekretärin, die mäßig begeistert dreinsah, Mama unterhielt sich mit einer Frau am Nachbartisch, Tobi versuchte vergeblich bei einer Blonden in extrem kurzem blauen Kleid zu landen und fasste ihr doch tatsächlich unter den Rock! Prompt trug ihm das eine Ohrfeige ein, die mich grinsen ließ.

    „Warum sind Sie vorhin weggelaufen?"

    Ich erschrak so, dass ich mir das Wasser über das Kleid kippte.

    „Oh, das tut mir aber Leid – hoffentlich gibt das keine Flecken?"

    „Nein, das war bloß Wasser, keine Sorge."

    Sollte ich mich jetzt vorstellen? Der war vielleicht etwas Höheres und Wichtiges, und ich bloß eine unfreiwillig anwesende Tochter. Oder der Herr zuerst? Und wenn ich jetzt was sagte, hörte sich das dann an, als sei ich irgendwie interessiert? Scheiß-Image, hier kannte mich doch eh keiner.

    „Ich heiße Roth", sagte ich also höflich. Er nickte, stellte sich selbst aber nicht vor.

    „Wie gefällt es Ihnen?"

    „Das dürfen Sie mich nicht fragen, brummte ich, „ich bin absolut nicht aus freien Stücken hier.

    „Wie kann man jemanden dazu nötigen?"

    „Mit der Drohung, dass es ansonsten zu Hause wochenlang Stunk gibt, ist das ganz einfach, antwortete ich achselzuckend. „Aber immerhin ist es schon halb elf, und damit ist ein Ende absehbar.

    „Was finden Sie denn so furchtbar?"

    Kurz schoss mir der alte Witz durch den Kopf, wo jemand den Gastgeber fragt, ob er die Party auch so langweilig findet. Das wäre natürlich das Gröbste, aber so etwas passierte wirklich nur in Die tausend ältesten Partywitze, einschlägig illustriert. Tobi hatte so etwas, und dem Gesicht seiner Partnerin zufolge quälte er sie gerade mit Kostproben. Witze erzählen konnte er auch nicht.

    „Alles, gestand ich, „die Musik, die Vorstellung, mit einem dieser Scheintoten Walzer neben dem Takt zu tanzen, ich mag keinen Glühwein, habe keinen Hunger und müsste dringend eine Arbeit über die frühen Werke Monets schreiben, anstatt hier herumzusitzen.

    „Glühwein mag ich auch nicht, aber er scheint großen Zuspruch zu finden. Übrigens kann ich Walzer im Takt tanzen. Wollen Sie´s riskieren?"

    Ich seufzte und rutschte vom Fensterbrett. „Na gut. Dann muss ich nachher wenigstens nicht lügen, wenn Papa mich ins Kreuzverhör nimmt."

    Ergeben folgte ich ihm auf die Tanzfläche. Immerhin war das jetzt ein Straußwalzer – und er konnte es wirklich. „Sie studieren also Kunstgeschichte?"

    „Ja."

    „Und was wollen Sie später damit machen? Ich meine, sind die Aussichten gut?"

    „Miserabel, bekannte ich, „aber irgendetwas werde ich schon finden, Auktionshaus, Galerie, Museum, Volkshochschule, Hauptsache, ich kann davon leben.

    Das Paar neben uns rempelte uns an; der Mann entschuldigte sich nuschelnd. „Oh- t-tut mir L-leid, m-muss der Glühwein s-sch-sein. S-supersüffig!"

    Ich grinste in mich hinein, wenn ich auch nicht verstand, warum sich der Suffkopp eine so wortreiche Entschuldigung abgequält hatte, wo ihm das Sprechen doch schon so schwer fiel.

    „Wo wären Sie jetzt lieber?, fing mein Tanzpartner wieder an. Ich zuckte die Achseln. „Im Moment ist es auszuhalten. Prinzipiell? Zu Hause am Schreibtisch, oder auf einem schönen langen Nachtspaziergang...

    „Bei der Kälte?"

    „Ich studiere zwar brotlose Künste, aber für einen Wintermantel hat es schon noch gereicht."

    „Wenn Sie noch studieren, werden ja wohl Ihre Eltern für den warmen Mantel gesorgt haben, oder?"

    „Natürlich nicht. Ich wohne zwar notgedrungen noch bei meinen Eltern, aber ich jobbe natürlich nebenbei, um unabhängig zu sein. Sehe ich so verzogen aus?"

    „Keineswegs. Er zog mich in eine schwungvolle Drehung, ich kam aus dem Takt und trat ihm auf den Fuß. „Macht doch nichts, wehrte er ab, als ich mich entschuldigen wollte. „Wissen Sie was? Ich fand das Fest auch blöde, bis ich Sie gesehen habe. Man sollte es vielleicht anders gestalten."

    „Was würde Ihnen vorschweben? Den Gefallen, auf seinen ersten Satz einzugehen, würde ich ihm nicht tun! „Etwas Programm vielleicht, ein Motto... vielleicht Kostüme. Keinesfalls Glühwein, den scheinen noch mehr Leute nicht zu vertragen. Er wies mit dem Kinn auf einen der Tische, auf dem ein Paar gerade eine Art Ententanz zum Besten zu geben versuchte, nach den ersten Schritten aber herunterfiel und das Tischtuch samt allem, was darauf gestanden hatte, mit zu Boden riss. Das Geschepper unterbrach alle Gespräche und die Musik, da auch die unsägliche Zweimanncombo glotzte. Ich nutzte die Gelegenheit. „Ich glaube, ich muss mich ohnehin mal wieder bei meinen Eltern sehen lassen. Vielen Dank für den Tanz!"

    Damit drängte ich mich durch die Menge, ohne mich noch einmal umzusehen. Mama saß alleine am Tisch und wirkte müde.

    „Möchtest du nicht langsam nach Hause?"

    Sie nickte. „Es tut mir Leid, wenn ich dich um dein Vergnügen bringe, aber fühle mich wirklich nicht besonders. Der Rauch... und der Lärm... Suchst du bitte Papa und entschuldigst uns?"

    Also drängte ich mich weiter durch die Mengen, fand Papa, der viel zu eng mit einem recht minderjährig wirkenden Girlie tanzte, klopfte ihm auf die Schulter und schrie ihm ins Ohr: „Ich bringe Mama heim, wir nehmen uns ein Taxi, okay?"

    „Muss das sein? Was das wieder kostet!"

    „Das zahl doch sowieso ich, also jammere nicht rum. Ist das da nicht Unzucht mit Abhängigen?"

    „Werd bloß nicht frech!"

    Ich prustete durch die Nase und ging wieder. Bis ich Mamas und meinen Mantel ergattert, Mama in ihren Pelz geholfen, meinen Mantel umgehängt, unsere Taschen genommen, Mama nach draußen geleitet, ein Taxi herangewunken und Mama auf dem Rücksitz verstaut hatte, war es fast zwölf. Erleichtert sagte ich zum Fahrer: „Leiching, Zollhausweg", und lehnte mich zurück. Wieder für ein Jahr geschafft! Und nächstes Jahr würde ich auf jeden Fall eine Ausrede haben... Notfalls eine Exkursion!

    Ich half Mama noch beim Zubettgehen, küsste sie auf die Stirn und verzog mich in mein Zimmer. Was lag morgen an? Zwei Vorlesungen, ein Seminar, nachmittags eine Führung und am frühen Abend zwei Stunden Forschungsgruppe. Vor neun käme ich nicht nach Hause, ausgezeichnet!

    Ich zog mich aus, hängte das Kleid sorgfältig auf, warf alles andere in die Schmutzwäsche, schlüpfte in meinen Pyjama und ging mich waschen und abschminken. Dass ich mit Tobi ein Bad teilen musste, war absolut furchtbar, man konnte wirklich nichts im Bad stehen lassen, ohne dass er es verbrauchte, ausgoss oder von der Konsole fegte, um Platz für seine Schönheitsmittelchen zu haben. Als ob die bei ihm noch was geholfen hätten!

    Also hatte ich schon vor Längerem zum altbewährten Kulturbeutel gegriffen; sogar meine Handtücher hängte ich hinterher in meinem Zimmer auf, das ich stets sorgfältig abschloss. Und mein Rechner war mit einem nicht knackbaren Code gesichert, seitdem Tobi mal auf meine Kosten zu diversen Pornoseiten gesurft war und vergessen hatte, sie in der Favoritenliste wieder zu löschen. Zu allem zu blöde! Studierter Betriebswirt, schicke Praktika in schicken Firmen, aber nicht genug Raffinesse, dabei Beziehungen aufzubauen und so eine Stellung zu ergattern.

    Also lag er unseren Eltern auf der Tasche. Mama pflegte nur zu seufzen, Papa fand, dass Tobi sich nicht wegwerfen sollte und deshalb ruhig auf das wirklich tolle Angebot warten könnte. Mein Vorschlag, er könnte doch wenigstens jobben, war verächtlich abgetan worden. Tobi bekam von Papa fünfzehnhundert Mark im Monat, als Taschengeld, außerdem Kost und Logis nebst Wäscheservice frei - und er finanzierte ihm sein Cabrio.

    Ich fuhr mit dem Bus – außer, wenn ich den Wocheneinkauf machte, dann durfte ich Mamas Golf nehmen, bekam überhaupt kein Taschengeld und aß auf eigene Rechnung in der Nähe der Uni. Zum Dank wurde ich als frech und undankbar beschimpft und Tobi wurde mir als Vorbild hingestellt. Papa war wirklich unmöglich! Aber nächstes Jahr, wenn ich fertig war, dann war Schluss mit den Blödeljobs, dann wurde richtig gearbeitet, egal, was. Hauptsache, von acht bis fünf und so viel Geld, dass es für ein kleines Appartement reichte. Ich sparte schon wie verrückt, aber weder das Museum noch die Forschungsgruppe zahlten besonders gut. Und der eine Nachmittag an der Supermarktkasse – naja, ein Nachmittag brachte einfach nicht genug.

    Der Typ heute war seltsam gewesen. Fragte mich da einfach aus, ohne sich vorzustellen. Gut, er konnte Walzer tanzen, aber das half einem im täglichen Leben auch nicht weiter. Sicher irgendein Sachbearbeiter, der im Smokingverleih Glück gehabt hatte! Immerhin hatte er einen Rest von Stil bewiesen und mich nicht angeödet, dass er mich wiedersehen oder anrufen wollte. Das hätte mir gerade noch gefehlt! Allerdings – diese komischen Augen hätte ich mir noch mal aus der Nähe ansehen wollen. Naja, zu spät, auch egal.

    Außerdem hatte ich morgen ordentlich zu tun und sollte jetzt lieber schlafen.

    Papa und Tobi kamen gegen halb vier Uhr morgens nach Hause und machten reichlich Krach dabei. Sicher hatten sie dem Glühwein nicht widerstehen können – und hoffentlich hatten sie morgen einen Granatenschädel! Mit diesem erhebenden Gedanken drehte ich mich noch einmal im Bett um.

    Um sechs stand ich auf, sicher, dass ich das Bad für mich hatte, duschte genüsslich, zog mich so an, dass es den ganzen Tag passte – dunkelblaue Jeans, blassrosa Rollkragenpullover, blaues Tweedsakko, packte meinen Unikram ein, kontrollierte, ob mein Zimmer aufgeräumt und Tobi-sicher verschlossen war, und verließ das Haus gegen sieben Uhr. Zu früh für alles, aber ich sah nicht ein, dass ich auch noch das Frühstück vorbereiten sollte. Mama blieb morgens ohnehin im Bett, und die beiden Suffköppe sollten eben ein Weißbier trinken. Als ich an der Uni aus der U-Bahn stieg, kaufte ich mir am Backshop-Stand zwei Brezen. Das musste reichen! Wasser gab es in allen Unitoiletten, und einen Becher hatte ich dabei.

    Um acht saß ich satt und zufrieden im Hörsaal und schrieb fleißig mit – Bauhausarchitektur, Dekoration und Malerei der Neuen Sachlichkeit, sehr interessant, und es wurden auch ziemlich anständige Kopien ausgeteilt. Nach zwei Stunden tat mir die Hand weh; ich packte ein und eilte ins kunstgeschichtliche Seminar, eine alte Villa am Anfang der Graf-Tassilo-Straße. Wieder zwei Stunden, Theoretische Grundlagen des Kubismus. Mein Referat hatte ich schon gehalten, unser Gruppenprojekt war auch schon erledigt, also genügte es, ein bisschen mitzudiskutieren, um in den Augen des Professors als „viel versprechend" zu gelten, schließlich wollte ich bei ihm meinen Magister machen.

    Zwischendurch schrieb ich mir mit Irina und Bea, meinen Gruppengefährtinnen, Zettelchen. Sie wollten hinterher Pizza essen gehen, aber ich hatte noch eine Vorlesung – Pieter Paul Rubens und seine Zeit. Und zu geizig für eine Pizza war ich auch!

    Warum gar so eifrig?, stand auf dem nächsten Zettelchen. Ich will ja mal fertig werden, schrieb ich zurück, sobald der Professor wieder mit dem Kursschleimer in einer verbissenen Diskussion feststeckte. Nächste Woche Ratlos?

    Gut, du Streberin, schrieb Irina zurück. Ich wollte den beiden nicht erzählen, wie es bei uns zu Hause aussah und warum ich dringend ausziehen wollte, sobald das Geld ausreichte. Immerhin schienen sie jetzt zufrieden zu sein.

    Überhaupt erzählte ich nicht gerne von mir, wenn ich ehrlich war. Die einzige, die wusste, wie es bei uns manchmal zuging, war Esther, meine Freundin seit Schultagen – aber sie studierte, begabt wie sie war, in Cambridge. Musste sie nicht langsam fertig sein und zurückkommen? Ich sollte ihre Eltern vielleicht mal anrufen... Sobald ich die entsprechende Notiz an den Rand meiner Seminarnotizen gekritzelt hatte, passte ich wieder etwas auf und erweckte den gebotenen viel versprechenden Eindruck. Der Professor reagierte offensichtlich angetan, und ich beschloss, ihn gleich heute auf ein Magisterthema festzunageln – im achten Semester wurde es langsam auch Zeit, fand ich.

    Während Irina und Bea bei einer Zigarette mit den wenigen vorzeigbaren männlichen Kunstgeschichtlern auf dem Gang standen und die üblichen Balzrituale vollführten, trug ich dem Professor mein Anliegen vor. Er nickte ernst und bat mich für nächsten Donnerstag in seine Sprechstunde, bis dahin sei ihm sicher etwas eingefallen. Jahrhundertwende sei doch mein Interessenschwerpunkt, nun, da gebe es ja Hunderte von Malern und Graphikern, deren Werk einmal grundlegend gesichtet und nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten bewertet und eingeordnet werden müsste, wahre Desiderate gebe es da, nur auf Anhieb falle ihm leider keins ein, aber unmittelbar vor den Weihnachtstagen sei das wohl auch nicht so dringend, nicht wahr, aber selbstverständlich werde er sich intensiv Gedanken machen und mir in der Sprechstunde sicher attraktive Angebote machen können.

    Etwas atemlos hielt er inne, und ich betrachtete ihn milde erstaunt. Wieso so aufgeregt? Wäre ich dann seine erste Magisterkandidatin? So jung war er doch gar nicht mehr? Sonst redete er doch auch nicht so viel und so planlos? Ich notierte mir brav den Termin, wünschte ein frohes Fest (nichts war mir gleichgültiger als dieses bescheuerte Weihnachten) und gesellte mich, innerlich den Kopf schüttelnd, zu Irina und Bea.

    „Was wollte er denn?, fragte Bea. „Er nichts – oder wenn, dann hab ich´s nicht verstanden. Ich wollte ein Magisterthema.

    „Jetzt schon? Himmel, im achten Semester! Wann hast du eigentlich Spaß?"

    „Spaß gönne ich mir, wenn ich hier fertig bin und auf eigenen Füßen stehe. Geht ihr jetzt Pizza essen? Viel Vergnügen und guten Appetit!" Ich winkte ihnen freundlich und den ziegenbärtigen Clowns bei ihnen flüchtig zu und machte mich wieder auf den Weg ins Hautgebäude, Rubens rief.

    Es war gar nicht so einfach, wach zu bleiben, wenn man zu wenig geschlafen hatte und ausgerechnet von zwölf bis zwei in einem verdunkelten Hörsaal unscharf eingestellte Dias betrachten sollte. Mühsam schrieb ich mit, ohne etwas zu sehen, und hoffte das Beste; dazwischen zwickte ich mich und lutschte ein uraltes Pfefferminz, das ich in meiner Blazertasche gefunden hatte, von Flusen umgeben. Um Viertel nach vier musste ich im Museum sein, um bis fünf eine Gruppe französischer Touristen zu führen; und von sechs bis acht hatte ich alles abzutippen und zu sortieren, was die Forschungsgruppe „Kunsterziehung in der frühen Kindheit" in der letzten Woche wieder verbrochen hatte.

    Lästig, aber das gab immerhin auch wieder Geld. Sobald es im Hörsaal wieder hell geworden war und sich die Leute um mich herum verstohlen die Augen rieben, packte ich zusammen. Erst einmal einen Depotauszug! Vielleicht hatte sich ja etwas positiv entwickelt... Und ich konnte mir wieder einen Pfandbrief leisten, zweihundert Mark hatte ich locker in der Tasche. Bargeld brauchte ich sowieso nicht mehr so viel, an Neujahr kam ja der Euro, und bevor man mühsam umtauschen musste…

    Hinterher vielleicht eine Tüte Mandarinen... Und das Buch, das ich noch in der Unibibliothek abholen wollte. Oder ich konnte meine Vorlesungsnotizen durchgehen, solange ich mich noch erinnern konnte, was auf den Dias zu sehen gewesen war.

    Ich kam gerade wieder aus der Bank, halb zufrieden, wegen des neuen Pfandbriefs, halb unzufrieden, weil mein Depot exakt da stand, wo es letzten Freitag auch gewesen war, als ich die Stimme hörte.

    „So trifft man sich wieder!"

    Überrascht blinzelte ich gegen die schwächliche Dezembersonne, die schon sehr tief stand. „Ach, Sie?"

    „Ja, ich. Haben Sie Lust, mit mir Essen zu gehen?"

    Ja, sonst noch was! „Nein, tut mir Leid, aber ich habe noch ziemlich viel zu tun und um vier wieder einen Termin."

    „Friseur? Kosmetikerin?"

    „Blödsinn!, fauchte ich, „einen Job. Im Kunstbau, eine Führung. Kosmetikerin! Sehe ich etwa aus, als würde ich für so etwas Zeit und Geld verplempern?

    Er musterte mich unverschämt genau. „Ehrlich gesagt, schon. Sehr gepflegt, Kompliment!"

    „Ach, verstehen Sie etwas davon? Sind Sie – wie nennt man das gleich? Ach – Visagist? Oder Friseur? Unwillkürlich wedelte ich tuntig mit der Hand. Er lachte kurz auf. „Nein, wirklich nicht. Gut, ich nehme alles zurück. Was wollten Sie in Ihrer Mittagspause tun, anstatt sie mit mir zu vertrödeln?

    „Etwas essen, ein Buch abholen und meine Notizen durchsehen."

    „Und ich darf Ihnen dabei nicht Gesellschaft leisten?"

    Jetzt staunte ich aber wirklich! Essen gehen, gut, das hätte ich noch verstanden – ich aß und er erzählte, was für ein toller Hecht er war. Das mochten solche Kerle, bestimmt! Aber zugucken, wie ich ein Buch durchsah und ab und zu abwesend brummte, ohne wirklich zuzuhören? Da stünde er ja gar nicht im Mittelpunkt! Ich sah ihn überlegend an – wirklich komische Augen! – und hörte mich zu meinem Erstaunen sagen: „Na gut. Aber spannend ist das nicht, ich warne Sie."

    „Macht nichts. Wohin zuerst?"

    „Unibibliothek, beschied ich ihn knapp und drehte mich auf dem Absatz um. Er folgte mir artig und holte schnell auf. „Was wollen Sie abholen?

    „Eine Untersuchung über Degas. Interessieren Sie sich für Malerei?"

    „Ja, durchaus, allerdings verstehe ich nichts davon."

    „Was machen Sie denn beruflich?" So war das ja nun nicht, dass er mich ausfragte und ich weiterhin nicht zurückfragte – Fakten auf den Tisch!

    „Mehr Wirtschaft."

    Hätte ich mir denken können – Sachbearbeiter bei Pfeiffer, wetten? Für etwas Besseres war er noch nicht alt genug – höchstens vierzig, schätzte ich. Aber ich konnte ältere Leute nie gut schätzen – und ein Vierzigjähriger hatte schon den Führerschein gehabt, als ich noch zu klein für den Kindergarten gewesen war. Eine völlig andere Generation! Dabei fiel mir aber etwas ein: „Und heute machen Sie blau?"

    „Wie kommen Sie denn darauf?"

    „Na, Sie laufen hier am helllichten Tag an einem ganz normalen Freitag herum – auf dem Weg zum Arzt sind Sie offensichtlich nicht, oder?"

    „Ich könnte Urlaub genommen haben, schlug er vor. Ich betrachtete ihn sinnend. „Und dann laufen Sie immer so korrekt herum?

    Er trug einen exzellent geschnittenen dunkelgrauen Anzug, ein Hemd aus feinster Baumwolle, eine geschmackvolle Krawatte und auf Hochglanz polierte Schuhe, außerdem einen Trenchcoat, dessen Futter mir genug verriet – das Etikett musste ich gar nicht erst sehen. Entweder verdiente er mehr, als ich angenommen hatte, oder er steckte sein ganzes Gehalt in diese Chefetagen-Verkleidung. Sein Problem!

    Er lachte wieder kurz und nicht wirklich erheitert. „Ich laufe wirklich gerne so herum. Aber ich hatte einen Termin hier in der Nähe. Nein, gucken Sie nicht so, nicht bei der Kosmetikerin! Okay, das habe ich verdient, ich gebe es zu."

    Er hob abwehrend die Hände und wäre beinahe über die ausgetretene Stufe vor der Unibibliothek gestolpert. Ich streckte reflexartig die Hand aus. „Vorsicht!"

    „Geht schon, danke." War er wirklich zurückgezuckt? Das machte ihn mir ja direkt sympathisch – ich konnte die dauernde Anfasserei auch nicht leiden.

    Ich holte mein Buch ab, wobei er neben mir stand und unauffällig auf meine Bibliothekskarte linste. Nur stand auf der Chipkarte nichts als N. Roth und eine zwölfstellige Nummer, die allerdings für Eingeweihte mein Geburtsdatum verriet; wenn man vorne und hinten drei Ziffern weg strich, blieb die Zahlenfolge 300977 übrig. Aber nur, wenn er hier studiert hatte, konnte er damit etwas anfangen. Sollte er doch Detektiv spielen, wenn er wollte!

    Ich schob das Buch und meinen Ausweis in die Tasche.

    „So, jetzt gibt es Mittagessen!"

    Er trottete brav neben mir her. Nein, falsch, er trottete nicht. Er hatte einen energischen Gang, der gar nicht zu dieser unterwürfigen Rolle passte, die er heute übernommen hatte. Ob er auch so gerne spielte wie ich? Jeden Tag jemand anderes sein? Möglichst verdrängen, wie uninteressant man in Wirklichkeit war? Aber was war überhaupt noch die Wirklichkeit? Ich war heute jedenfalls als angehende Karrierefrau (vulgo: Streberin) unterwegs; auf die Arroganz der höheren Tochter hatte ich mangels geeignetem Opfer keine Lust. Bei dem zog das auch nicht, glaubte ich.

    Bei dem! Hatte der eigentlich keinen Namen? „Wie heißen Sie eigentlich?"

    „Freddy. Und Sie? Wofür steht das N?"

    Großer Gott – Freddy? Ich überlegte, ob ich Junge, komm bald wieder summen sollte – aber den Witz kannte er sicher schon, wie Chrismas Jones im letzten James Bond.

    „Nathalie."

    „Wird das irgendwie abgekürzt?"

    „Wehe! Ich hasse Abkürzungen, und Natti ganz besonders. Einmal so einen Spruch, und Sie kriegen nichts von meinem Mittagessen ab."

    Ich kaufte am Obststand vier Mandarinen und daneben zwei Ganzkornsemmeln und lotste meinen Trabanten in die Unihalle zurück. Dort setzte ich mich feixend auf die Freitreppe zum ersten Stock und packte die Brotzeit aus. Er sah sich zweifelnd um, dann faltete er seinen Trenchcoat zusammen und setzte sich darauf. „Sehr frugal."

    „Vitamin C, Ballaststoffe und guter Geschmack. Was hätten Sie denn essen wollen?" Er zuckte die Achseln und schälte sich

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