Voller Wermut blicke ich auf mein Leben zurück: Geschichten vom Leben, Lieben und Abschiednehmen
Von Stefan Schwarz
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Buchvorschau
Voller Wermut blicke ich auf mein Leben zurück - Stefan Schwarz
Stefan Schwarz
Voller Wermut blicke ich auf mein Leben zurück
Geschichten vom Leben, Lieben und Abschiednehmen
Seitenstraßen Verlag
Impressum
Originalausgabe 2020
© Seitenstraßen Verlag GmbH, Berlin
Titelillustration: Jan Steins
Druck: CPI Moravia Books
ISBN 978-3-937088-30-3
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
Vor sich herschieben ist auch eine Art von Vorantreiben.
Der Begriff „Urinstinkt" enthält noch eine weitere Botschaft.
Ein einziger Buchstabe entscheidet, ob Menschen sich einigen oder einigeln.
Inhalt
Zuerst
Mutter war keine rote Gießkanne
Superkraft Briefkastenöffnen
Auseinandergegessen
Im Villabajo der Sexspielzeuge
Alle, aber nicht die!
Fliegen lernen
Die Radieschen von oben
Auch ein sauberer Schnitt ist noch ein Schnitt
Das wär dein Lid gewesen
Haus ohne Freund
Die Unverletzlichkeit des eigenen Dreckschlüppers
Möbelfilme mit Nackedeis
Die Pulloverdiebin
Ich werde den Biber nicht retten
Brust raus!
Meine Lieblingssteppdecke
Sichtbar paarungsbereit
Sorry, Baby, Ying nicht mehr länger!
Ja heißt Jetzt
Nutzbringende Debatten
Verbietet meine Cousine!
Lob des Prahlens
Sich zusammenraufen
Umwerfende Schönheit
Am Beispiel der Gummihopse
Der kühne Recke
Kurts Hose ist zu kurz
Endlich verstockt!
Nie wieder alter Blödkopp
Vielfalt der Vererbung
Sperma die Tür ab!
Zehn Minuten Kassenhass
Kleine Geschichte von der Sehnsucht nach Größe
Auf Schnupperkurs
Ein unfassbares Privileg
Es ist Ute!
Der Stromspar-Sauger
Der Vater als Berater
Muss weiter
Zuletzt
Glossar
Zuerst
Mein Name ist Stefan Schwarz. Ich bin jetzt fünfundfünfzig Jahre alt, und das sagt viel über unsere Gesellschaft aus. Ich habe Facebook den Zugriff auf meine Kamera, mein Fotoalbum, meine Bleistiftschale und meinen Dia-Projektor erlaubt. Netflix-Filme spule ich nach dem Anschauen immer auf Anfang zurück, damit es keinen Stress in der Videothek gibt.
Wenn meine Frau mit nassen Haaren in der Sauna saß, sieht sie nachher besser aus, als wenn sie für zweihundert Euro beim Friseur war. Neulich hat sie mir eine Szene gemacht, weil sie zehn Kondome in meiner Waschtasche gefunden hat. Ich wollte sie mit dem Hinweis beruhigen, dass ich die für den Urlaub eingepackt hätte, aber sie meinte, wir wären noch nie ein halbes Jahr in den Urlaub gefahren.
Mein Sohn arbeitet in einem Call-Center. Neulich rief eine Frau aus dem Erzgebirge an, und er musste sich ihren Namen buchstabieren lassen. Aber er kannte auch ihre Buchstaben nicht.
Der Freund meiner Tochter darf nicht mehr bei uns Abendbrot essen, weil wir so spät nicht noch mal einkaufen gehen wollen. Meine Blutwerte sind im Keller. (Seit ich den Ordner mit den Laborberichten runtergebracht habe.) Manchmal blicke ich voller Wermut auf mein vergangenes Leben zurück.
Ich habe mich abgefunden, aber die Abfindung war nicht sehr hoch.
Mutter war keine rote Gießkanne
Vater spricht nicht mehr so gern. Essen ist so »mmh«, Wetter ist so »hmm«, die extra frisierten Enkel sind so »hm-mh«. Das ist natürlich zu wenig Wortschatz. Selbst für ein Pflegeheim. Zumal hin und wieder dann doch Gesprächsbedarf besteht. Vater hat einen Pfleger auf den Hinterkopf geklapst, weil der ihn irgendwie falsch aus dem Rollstuhl gehoben hat. (Gewalt in Pflegeheimen ist keine Einbahnstraße!) Gefragt, was das solle, hat er nur geknurrt. Deswegen hat Vater eine Logopädin verordnet bekommen, die ihn verbal aktivieren soll.
»Und was ist das hier?«, fragt die Logopädin gerade, als ich besuchsweise das Zimmer betrete, und zeigt Vater eine Karte, auf der eine rote Gießkanne zu sehen ist.
»Sag ich nicht«, brummt Vater.
»Weil Sie es nicht wissen!«, provoziert die Logopädin.
»Doch, weiß ich«, nuschelt Vater grimmig, »aber Sie nicht!«
Die Logopädin zieht die Schultern hoch und sieht mich mit einem entschuldigenden Blick an. Ältere Menschen, steht da, schämen sich oft für ihre Vergesslichkeit und reagieren mit Trotz. »Das ist eine rote Gießkanne«, mische ich mich jetzt ein, weil ich es nicht ertrage, meinen Vater in so simpler Begriffsnot zu sehen. »Das ist eine rote Gießkanne!«, spricht jetzt die Logopädin sehr langsam, als wolle sie meinem Vater das Wort in Großbuchstaben in die Hirnrinde schnitzen. »Pah, mein Sohn hat es Ihnen verraten«, winkt Vater ab.
Es ist unübersehbar. Vater möchte nicht aktiviert werden. Er hat sein ganzes Leben lang nicht über rote Gießkannen sprechen wollen. Und er sieht auch jetzt offenbar noch nicht die Stunde gekommen, wo es angezeigt wäre, endlich mal offen über rote Gießkannen zu sprechen. »Gut, wenn Sie schon alles wissen, dann können wir ja die Karten weglegen und Begriffe raten«, meint die Logopädin etwas pikiert und holt ein kleines Büchlein mit Fragen hervor.
»Also, Herr Schwarz, raten Sie mal! Was ist das? Es macht Hemden glatt und Tischdecken.« Vater zieht die Augenbrauen zusammen und rollt mühsam mit dem geistigen Rollstuhl durch sein Gehirnstübchen. Dann hat er es raus. »Die Mutter!«
Seit ich denken kann, sagte mein Vater zu seiner Ehefrau »Mutter«, was mir als Sohn dieser Mutter zunächst ganz natürlich vorkam, bis ich herausfand, dass er sie auch »Mutter« rief, wenn sie allein waren. »Mutter« solle mal kommen. »Mutter« solle mal sagen. »Mutter« solle mal holen. »Mutter« war sein Simsalabim, mit dem man Essen auf den Tisch und gebügelte Hemden in den Schrank zaubern konnte.
Die Logopädin, beileibe keine Feministin, hat jetzt dann doch ein bisschen fertig und schließt ihren Aktivierungskoffer. »Wir machen ein andermal weiter. Wahrscheinlich lenkt sie der Besuch ihres Sohnes zu sehr ab.«
Als sie gegangen ist, setze ich mich neben Vater und hole die alten Familienalben raus, weil ich das Gefühl habe, ich müsste die Erinnerung an seine verstorbene Frau ein bisschen aus der Haushaltsecke holen. Wir blättern durch das Jahr 1973. Eine ganze Seite Schwarzweißfotos von einer Tanzveranstaltung. »Guck mal, hier«, sage ich, »deine Frau! Wie schön sie tanzt!« Vater späht durch seine Brille. »Ja! Die Mutter! Tanzt!«, sagt er einsilbig wie eh und je. Ich zeige auf Mutters Tanzpartner und frage, wer das sei.
Vater grübelt nicht eine Sekunde. »Na, der Horst Cibulla, der Stellvertreter des Rates des Kreises und Vorsitzende der Kreisplankommission, der später im Rat des Bezirkes für die innerbezirkliche Koordinierung von Rationalisierungsmitteln verantwortlich war. Wieso fragst du?«
»Ich wollte nur sichergehen«, freue ich mich über die heimlich gelungene Aktivierung, »dass es keine rote Gießkanne ist!«
Superkraft Briefkastenöffnen
Als der Sohn seine erste eigene Wohnung bezog, machte ich ihn beiläufig darauf aufmerksam, dass zu dieser seiner Wohnung auch ein Briefkasten gehört. Der Sohn nahm es schulterzuckend zur Kenntnis. Briefkasten, dachte der Sohn, was für ein altertümlicher, analoger Krempel! Schreib ich etwa Briefe? So mit Tintenfass und Gänsekiel? Sind wir hier bei Goethe und Schiller? So dachte er, aber ich bemerkte es nicht. Ich wähnte mich immer noch in einer allgemeinverbindlichen Kultur von Alltagsbräuchen und registrierte nicht, dass hier ein konkretes, lebenspraktisches Defizit vorlag. (Dass es keine allgemeinverbindlichen Regeln mehr gibt, ahnte ich schon, seit ich mal einem Dreijährigen seine heruntergefallene Mütze zurückgab und ihn dabei freundlich fragte: »Und? Was sagt man da?« Die Mutter rief sofort »Fick dich, du Nazi!«, was meines Erachtens die falsche Antwort war.)
Egal. Ein Jahr später rief mein Sohn aus seiner ersten eigenen Wohnung an, weil vor seiner Tür ein »Vollstrecker« stünde, ein »Vollzieher«, und er hätte voll die Macht oder die »Vollmacht« oder so was. Es klang, als wenn eine der muskelbepackten Figuren aus einem seiner Computerspiele plötzlich real geworden wäre. Wenn, dann offensichtlich aber nur, um alles Computerspielen zu beenden. Denn der Vollstrecker-Vollzieher wollte den Computer und die Konsole mitnehmen. Wir helikopterten sofort zu ihm und konnten den Gerichtsvollzieher gerade noch so davon abhalten, die lebenserhaltenden Geräte