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Mitte: Es begann so...
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eBook343 Seiten4 Stunden

Mitte: Es begann so...

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Über dieses E-Book

In Berlin Mitte, dem Bezirk der kreativen Träumer, Spinner und Versager versucht der Künstler Albrecht sich durchzuschlagen. Dabei wird er von kleptomanischen Vettern, euphorischen Galeristen, herrschsüchtigen Schwestern und redseligen Mitbewohnern auf Trab gehalten, da Albrecht neben seinem künstlerischen Talent auch die unstrittige Begabung hat, sich in unmöglichste Situationen hineinzumanövrieren. Als eines Tages Albrechts reicher Onkel Georg Kontakt aufnimmt, verändert sich mit einem Schlag alles.
SpracheDeutsch
Herausgeber110th
Erscheinungsdatum19. Juni 2015
ISBN9783958657205
Mitte: Es begann so...

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    Buchvorschau

    Mitte - Albrecht Behmel

    werden.

    Kurzinhalt

    In Berlin Mitte, dem Bezirk der kreativen Träumer, Spinner und Versager versucht der Künstler Albrecht sich durchzuschlagen. Dabei wird er von kleptomanischen Vettern, euphorischen Galeristen, herrschsüchtigen Schwestern und redseligen Mitbewohnern auf Trab gehalten, da Albrecht neben seinem künstlerischen Talent auch die unstrittige Begabung hat, sich in unmöglichste Situationen hineinzumanövrieren. Als eines Tages Albrechts reicher Onkel Georg Kontakt aufnimmt, verändert sich mit einem Schlag alles.

    Über den Autor

    Albrecht Behmel hat in Heidelberg und Berlin studiert. Er war Kurator im Museum Haus Cajeth in Heidelberg und Marionettist in Paris. Sein Hörspiel über den irischen Schriftsteller Flann O’Brien wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste ausgezeichnet. Er hat über 20 Bücher veröffentlicht, ebenso Brett- und Computerspiele. Seit 2012 lebt er mit seiner Familie im Schwarzwald.

    Das Pompeji-Gefühl

    Wenn ich jemals den Trottel treffe, der die E-Mails erfunden hat, dann weiß ich ganz genau, was ich zu ihm sagen werde. Nämlich:

    Mann, ist dir eigentlich klar, was du damit angerichtet hast?

    Weil: Ich hatte eine Mail gekriegt, und die ging so:

    Wo warst Du in Dreiteufelsnamen?

    Bei mir ist es ja so: Spam find ich gut. Zum Beispiel Werbung für absolut überzeugend unechte Rolexuhren oder, wenn die mich zum virtuellen Poker nach Las Vegas einladen, ohne dass ich selber hin muss - das find ich deswegen gut, weil ich Berlin Mitte so ungern verlasse. Aber private E-Mails an mich mit persönlichen Nachrichten drin, bei denen es auch noch um mich geht?

    Schrecklich! Besonders, wenn sie von meiner Schwester Felizitas kommen. Felizitas ist so eine Art Mischung aus Kannibalin und Reporter, und was sie im Prinzip nur macht, ist, Prominenten in Interviews zu nahe zu treten und sie dann im Morgengrauen in radioaktiven Society-Artikeln hinzurichten, ohne Augenbinde oder letzten Wunsch.

    Und das Verrückte an der Sache ist: Ihre Promis sind alle total heiß drauf, stehen Schlange und holen sich einer nach dem anderen ihre Portion Strychnin auf Eis ab. Ich sag es mal so: Wer von Felizitas noch nicht öffentlich erledigt worden ist, der gehört offenbar einfach nicht dazu.

    Manchmal denke ich, wenn sie je aus ihrem Job da entlassen werden sollte, von der Redaktion oder so, weil zu viele Leser den Grauen Star bekommen haben, weil ein Interview wieder zu viel rhetorisches Senfgas enthalten hat, dann könnte sie immer noch in die Automobilindustrie gehen und mit ihrer Stimme Bleche für Kotflügel zuschneiden. Deswegen habe ich erst mal eine halbe Stunde überlegt und folgende geschliffene Antwort an sie zurückgemailt:

    >wie jetzt?

    Der Hintergrund ist: Meine Familie und in vorderster Front meine Schwester, die halten mich alle für einen Blindgänger, spätestens seitdem ich aus der Uni geflogen bin und mich von meiner Freundin getrennt habe. Das heißt, eigentlich hat Kati sich von mir getrennt, aber im Rückblick ist das für mich alles nicht mehr so ganz eindeutig. Irgendwie muss mein Gedächtnis sich bei der Geschichte verknotet haben, und jetzt warte ich darauf, dass es sich wieder glättet. Alle haben sie zu mir damals gesagt: „Albrecht, das ist die Frau für dich, so eine findest du nie mehr, also versau es bitte nicht wieder, okay? Und dann, nach einer Weile haben sie alle zu mir gesagt: „Siehst du, was haben wir gesagt? Schon wieder, Mann!

    Mein Laptop unterbrach mich beim Nachdenken mit einem seiner Signaltöne, die so klingen, wie wenn man eine Flasche mit was Sprudelndem drin aufmacht. Das kann man in den Systemeinstellungen einstellen, wenn man will: Das klingt dann ungefähr wie: „Plopp!"

    Weil: Das ist halt ein Apple, und der hat ein Signal dafür, dass neue E-Mails da sind, und schon ist es wieder Zeit für eine Familienpackung Cialis oder kostenloses Lotto gegen einen supergünstigen Monatsbeitrag. Die lese ich immer, weil ich dann immer das Gefühl habe: Da draußen irgendwo in der Datenwelt, da sind Leute, die es gut mit mir meinen, und die sich um mich kümmern. Es machte: „Plopp!"

    Aber es war von Felizitas - und damit eher zu vergleichen mit einer Einladung zu einer Runde Russisches Roulette aber mit halbautomatischen Waffen. Meine Festplatte fing sofort an zu pfeifen und drei Hilfsprogramme hängten sich freiwillig auf, was ich ganz gut verstehen kann: Felizitas hatte nämlich geantwortet:

    >>wie jetzt?

    >Sag mal, willst Du mich verarschen?

    Die anderen Signaltöne, die auf meinem Mac zur Auswahl stehen, klingen entweder so, wie das Sonar-Bing im U-Boot oder wie eine Ente mit gebrochenem Herzen, die ihren ganzen Schmerz mit einem einzigen „Quak ausdrückt oder, noch eine Option, die mir gefällt: eine Badewanne, die sich selbst austrinkt. Aber ich bleibe erst mal beim „Plopp!, weil: Das passt irgendwie zu mir im Moment.

    Es machte: „Plopp!" Ich holte tief Luft durch die Nase und sagte mir, dass es mir jeden Tag besser und besser geht, und dann hab ich zurückgetippt. Mit einem Finger, weil: mit den anderen Fingern musste ich gerade Kaffee trinken und rauchen gleichzeitig. Ich schrieb:

    >>>wie jetzt?

    >>Sag, mal, willst Du mich verarschen?

    >reden wri besser nicht über mine wunschträume._ was meinstdu, "wo warst du? bist du irgnedwie sauer?

    Eine ganz lächerliche Frage an sich, denn die Felizitas, die ist immer irgendwie sauer auf jemanden, und das war schon früher so, als wir noch klein waren. Sie war so oft und so schlimm sauer, dass meine Eltern bei uns im Haus alle Türen durch Vorhänge ersetzen mussten. Stell dir einfach eine Frau wie ein plötzliches Hochwasser vor, und du hast ein vollkommen klares Bild von meiner Schwester in Farbe.

    >>>>wie jetzt?

    >>>Sag, mal, willst Du mich verarschen?

    >> Reden wir besser nicht über meine Wunschträume. Was meinst du, „wo warst du?!" Bist du irgendwie sauer?

    >JA!!!!!

    Felizitas hat die Angewohnheit, meine E-Mails zu korrigieren und dann an mich zurückzuschicken. Vielleicht eine Berufskrankheit, aber auf jeden Fall finde ich: Das sagt schon eine Menge aus über einen Menschen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Felizitas auch mich selbst am liebsten korrigiert wieder zurückschicken würde. Die Frage ist nur: Wohin? Und wer übernimmt das Porto? Ich mailte mailwendend zurück:

    >>JA!!!!!

    >hä?

    Inzwischen hatte ich bestimmt schon drei Pfund abgenommen, aber das kann man ja nicht sehen, wenn man seinen Laptop auf dem Schoß hat, weil dir die Hosen nicht rutschen können. Warm wird’s trotzdem, und es machte: „Plopp!"

    Schon wieder!

    >>>JA!!!!!

    >>hä?

    >SPINNST DU? Weil wir alle auf dich gewartet haben, Du Versager! Ich wette, Du warst wieder betrunken und hast „vergessen", dass wir Onkel Georg zu mir eingeladen hatten. Wenn Du Dich doch bloß ein bisschen mehr um die Familie kümmern könntest! Aber was soll's...

    >Und bevor Du fragst: Ja, er hatte wirklich schon wieder Geburtstag (wie je-des Jahr am glei-chen Tag!), und: JA, wir haben fest mit dir gerechnet und ja, keine Sorge, ich hab Deinen Anteil für das Geschenk ausgelegt und allen gesagt, dass du wahrscheinlich wieder nur im Gefängnis sitzt und nichts dafür kannst. Du schuldest mir damit übrigens weitere 37,40 Euro. Du kennst die Gesamtsumme. TU ENDLICH WAS!

    >Ich komme morgen kurz vorbei, wenn es Dir nichts ausmacht.

    >kein lieber Gruss von Felizitas

    Es stimmt: Ich hatte den Geburtstag tatsächlich vergessen, ist einfach irgendwie so passiert, und das tat mir leid, weil der Onkel Georg mein Lieblingsonkel ist, uralt, schwerhörig und so faltig wie eine Dörrpflaume im Ruhestand. Das kommt daher, dass er lange in den Tropen gelebt hat, dort werden die Pflaumen ja bekanntlich viel faltiger als das hier bei uns je möglich wäre.

    Dazu muss ich aber noch sagen: Ich hatte damals einen neuen Mitbewohner, den Chris, weil: Als die Kati ausgezogen war, ist mir die Wohnung auf einmal zu groß vorgekommen, weil die Kati so viel Platz verwendet hat wie eine Herde Bisons in der Regenzeit. Und dann hat sie auch noch alle Möbel und Sachen mitgenommen. Die Wohnung war so leer, dass sogar das Echo sich einsam gefühlt hat.

    Das heißt: Einen Löffel hatte sie schon dagelassen, diesen einen Kitschigen mit Neuschwanstein drauf, weil: Den konnte sie sowieso nie leiden. Ja, und da lag eben der Löffel in der Küche auf dem Boden und hat auf den Rost gewartet.

    Der Punkt ist: Erst mal war das ein ganz schöner Schock, keine Möbel mehr zu haben und kein Geschirr und nix, aber so nach und nach sieht man auch die Vorteile: Ich hatte auf einmal viel mehr Platz in der Wohnung, überall waren neue Flächen dazugekommen, da wo die Dreckränder waren, das konnte man genau ablesen, genau messbarer Zuwachs an Lebensraum.

    Aber so richtig lange ist es nicht leer geblieben da bei mir. Erstens haben nämlich sofort fast alle Leute, die ich kenne, mir irgendwelche Möbel gebracht und aufgestellt. Deswegen gibt es jetzt bei mir zuhause eine sehr kreative Mischung aus Möbeln, weil: Ich kann das Zeug ja nicht wegwerfen, was man mir geschenkt hat, man wirft ja auch den geschenkten Gaul nicht weg…

    Und dann ist es so weitergegangen:

    Da hab ich dann eine Anzeige aufgegeben, und eine andere Bisonherde namens Chris ist eingezogen bei mir in der Wohnung.

    Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber früher, wenn ich den Namen Chris gehört habe, da hab ich immer an einen mittelgroßen blonden Surfer-Typ mit dicken Oberarmen und einem gewinnenden Lächeln gedacht. So einer, der Werbung für Vanille-Eis machen kann, wenn ihr versteht, was ich meine. Aber jetzt, wo ich meinen persönlichen Chris gekriegt habe, denke ich bei dem Namen an eine übergewichtige Mischung aus Wikipedia und einem Buddha mit Bart. Aber auch, wenn er so riesig ist wie ein Viech aus der Urzeit, muss man trotzdem keine Angst vor ihm haben, weil: Er besteht fast nur aus Güte, Liebe und Fett, der Rest sind wahrscheinlich Farb- und Konservierungsstoffe. Und: Er sitzt immer in der Küche.

    Ich ging zu Chris in die Küche und sagte: „Chris, meine Schwester ärgert sich, und zwar über mich und per E-Mail. Es macht ständig Plopp! Wenn du verstehst, was ich meine. Das ist keine Werbung, das ist Politik, was ich da kriege. Die Alte müllt mich voll zu, Mann!"

    Der Chris hat kurz in seinem Buch hin und her geblättert und dann was vorgelesen: „Nichts ist beglückender, als einen Menschen zu finden, den man den Rest seines Lebens ärgern kann, Albrecht."

    Solche Sprüche kriegt man von ihm eigentlich ständig vors Kinn. Und dabei hat er so verträumt in sich reingeschaut, dass es fast geleuchtet hätte vor lauter Weisheit. Ich sagte: „Noch mal, bitte?" Weil: Ich hatte nicht mit so was gerechnet und deswegen nicht so genau zugehört.

    Er sagte: „Nun, ich habe lediglich die Schriftstellerin Agatha Christie zitiert; sie hat ihrer Einsicht Ausdruck verliehen, dass der Ärger, selbst, wenn er auf der einen Seite unangenehme, beunruhigende Gefühle mit sich bringen mag, auf der anderen Seite jedoch zuweilen entgegengesetzte Regungen zum Ursprung hat, nämlich etwa Zuneigung."

    „Was issn das da?"

    „Mein Zitatenschatz."

    Und er zeigte mir das Buch, in dem er die ganze letzte Zeit immer liest. Es heißt: Worte der Weisheit - Band III - und der Einband hat so mental gestörte Wolken drauf. Jedenfalls: Da habt ihr meinen Mitbewohner in Kurzfassung: Redet wie ein Quirl im Kokainrausch und zitiert Dingserida. Ich schaute ihn mir ganz genau an, also den Einband, und sagte: „Hä? Meinst du, das hilft mir jetzt, oder was?"

    Denn es ist ja so: Der Chris ist die fleischgewordene Weisheit, und zwar mit exakt so viel Weisheit wie Fleisch - absolut raue Mengen! Und dass er wahnsinnig fett war, reichte ihm offenbar nicht; er musste sich auch noch so ausdrücken, dass die Kalorien aus jedem Wort einfach nur so herausquollen, wie seine dreifaltigen Hüften aus dem Hosenbund. Der ist ein sehr nahrhafter Mensch, der Chris, wenn ihr versteht, worauf ich hinaus will... In dieser Hinsicht ist er übrigens genau das Gegenstück zu meiner Schwester Felizitas, die ist erstens reitgertenschlank und zweitens sind ihre Wortbeiträge laut Gesundheitsamt nicht zum allgemeinen Verzehr geeignet.

    Ich sagte: „Hast du eigentlich schon immer so geredet, Chris?"

    Das fragte ich ihn, weil ich mich wirklich oft gefragt habe, wie das kommt, dass der so redet; ich meine, das kann doch nicht sein, dass er immer schon so geredet hat. Er hat nichts gesagt und nachgedacht; ich sagte: „Also, was ist: Hast du?"

    Chris hob seinen Bauch mit beiden Händen an und sprach folgende Worte in meine Atemluft hinein: „Die autobiographisch korrekte Antwort müsste natürlich auf ein 'Nein' hinauslaufen, wenn man berücksichtigt, dass der frühkindliche Spracherwerb in einem allenfalls durchschnittlich entwickelten Kind, wie ich ohne Zweifel eines war ..."

    Was ich die ganze Zeit sagen will ist: Er hätte ja auch einfach sagen können:

    „Klar! oder „Quatsch!, aber so ist er eben nicht unterwegs, der Chris.

    Ich sagte: Gut, gut! Schon gut! Vergiss es! Pass auf: Ich hab ein Problem: Ich hab den Geburtstag von meinem Onkel Georg verschlafen, und Felizitas ist sauer, weil ...

    Und ich hab ihm kurz den Nachrichtenüberblick gegeben. Der Chris nickte und zog die Augenbrauen zusammen und versank in einem seiner meditativen Zustände, bei dem er alles um sich herum vergisst und in den weiten Prärien seines Geistes in den Sonnenuntergang reitet. Und das kann richtig lange dauern, weil die echt riesig sind, diese Prärien vom Chris. Und der Punkt ist doch: Man will ja nicht ungemütlich sein oder jemanden stören, der sich gerade anschickt, in den Sonnenuntergang zu reiten, ohne die Küche zu verlassen, aber als ich eine Weile zugesehen hatte, wie sich seine Mimik entspannte wie ein Marshmallow in der Mikrowelle, da hat es mir wieder für eine Weile gereicht.

    Ich sagte: Ich brauch jetzt erst mal ein Kaffee. Willst auch ein?

    Ich kann mich der Angelegenheit annehmen.

    Ich wette: Der Chris wäre ein toller Ministerpräsident von irgendwas geworden, aber irgendwie schien ihm nichts auf der Welt so wichtig zu sein, wie sein innerer Frieden...

    Dann hab ich mich umgeschaut. Meine Wohnung war echt leerer als der Weltraum, wenn man sich die Planeten wegdenkt, weil: Die Kati hatte sogar die Spinnweben hinter der Waschmaschine mitgenommen. Deswegen improvisieren wir eben ab und zu ein bisschen, der Chris und ich, wenn wir was kochen wollen.

    Ich setzte mich kurz an den Rechner, um ein bisschen zu trainieren, weil: Ich übe zurzeit dieses Superspiel; es heißt Crazy Turtle Race, und du bist eine Schildkröte auf einer Rakete, die durch eine Marslandschaft fliegt und andere Schildkröten aus dem Rennen schlagen muss. Die Geschichte ist nämlich, dass du aus dem Gefängnis für Schildkröten geflohen bist und jetzt suchen sie dich überall im Weltraum.

    Macht einen Heidenspaß!

    Man kann zum Beispiel Schildkröteneier abfeuern, und das bringt die anderen dann zum Schleudern, und sie knallen gegen riesige Säulen, wenn man Glück hat; aber in den High Score hat es mir noch nicht gereicht.

    Es fehlen noch zwanzigtausend Punkte. Nur, damit man sich das vorstellen kann: Ein Volltreffer bringt grade mal fünf Punkte. Jedenfalls, ich war gerade in Runde Drei, da machte der Computer wieder eine Flasche auf: Plopp!

    Und eine leere Wohnung hat ein ziemlich deutliches Echo. Da stand:

    >Kannst Du Dich nicht wenigstens mal entschuldigen? Vom Bedanken will ich ja gar nicht reden.

    >Felizitas

    In der Küche brodelte das Wasser schon, weil: Chris machte uns einen Mokka. Bislang wusste ich gar nicht so genau, was ein Mokka eigentlich ist, aber seit wir gelesen haben, dass das die einfachste Art ist, einen Kaffee zu machen, machen wir das auch so. Geht wirklich ganz einfach: Du brühst das Pulver direkt in der Tasse auf und fertig, genauso wie Nescafé, nur dass man eben richtigen, gemahlenen Kaffee nimmt. Und dann wartet man bisschen ab, es sei denn, man möchte unbedingt Kaffeepulver zwischen den Zähnen haben: In diesem Fall trinkt man etwas früher, so wie der Chris.

    Ich sagte: He, Chris: Wir haben keine Zigaretten mehr, wie soll man denn da mit dem Rauchen aufhören? Das ist nämlich einer meiner Lieblingswitze zurzeit. Aber der Chris hat mich nicht gehört, weil er wieder seine Atemübungen gemacht hat, außerdem kann er seine Ohren abschalten, jedenfalls glaub ich das. Weil: Es sieht einfach so aus. Ich ging wieder rüber zu meiner Korrespondenz aus dem Reich der Finsternis und schrieb zurück:

    Liebe Felizi... Aber das hab ich noch mal gelöscht, war einfach zu verlogen, wenn ihr versteht, was ich meine.

    Hi, Feli! ... hm, nee, das war mir zu Dingenskirchen, und ich hab mir gedacht, das erste Wort in der E-Mail, das muss immer das Beste sein.

    Felizitas!, schrieb ich, aber das hat mir auch nicht gefallen, zu nett. Dann hab ich erst mal vier verschiedene Versionen gemacht und alles tausendmal überarbeitet. Was am Ende übrig geblieben ist, das war eine perfekt formulierte Kurzmeldung:

    >Sorry!

    Mir war natürlich klar, dass jetzt irgendwo in Charlottenburg bei Felizitas in ihrem Führerbunker oder wo sie war, die automatischen Feuersprenkler anfingen, alles unter Wasser zu setzen, weil, wenn es eine Sache gibt, die Felizitas auf den Ficus bringt, dann sind es einsilbige Entschuldigungen.

    Sie stellt sich vielmehr eher etwas vom Umfang der Brüder Karamasow vor - das ist ein Buch, das ich mal gelesen habe, aber ich hab es meistens dazu verwendet, die Tür zur Abstellkammer geschlossen zu halten, weil die Kati das Schloss mitgenommen hat. Ein richtiger Wälzer, diese Brüder Karamasow: Es geht da so um eine Familie, und da sind jede Menge Brüder, die alle Karamasow heißen. Das ist der Kern sozusagen. Meine Lieblingsstelle ist die, wo der eine von denen nicht einschlafen kann. Sehr lange Geschichte alles in allem, und dann gibt es dazu noch einen Vater, der die Sache erst noch so richtig kompliziert macht. Heißt auch Karamasow. Das ist aber unrealistisch, weil: Hast du schon mal von einem Vater gehört, der irgendwas kompliziert macht? Ich bin der Ansicht, wenn es irgendwo kompliziert wird, steckt im Endeffekt immer eine Schwester dahinter. Aber Schwestern kommen, glaube ich, nicht drin vor; das Buch kann ich nur empfehlen. Die Tür ging auf.

    Ah, Chris, was gibt's?

    Chris kommt immer rein, ohne anzuklopfen.

    Könnte nicht der Schlüssel zur Lösung des Konfliktes zwischen dir und deiner Schwester Felizitas darin liegen, ihren beruflichen Hintergrund für deine Zwecke einzusetzen?

    Wie jetzt?

    Mir kam lediglich der Gedanke, dass deine Schwester in ihrer Eigenschaft als Journalistin wahrscheinlich beständig auf der Suche nach dem ist, was man landläufig eine 'Story' nennt.

    Ja, und sie sucht auch ständig nach neuen Todesarten.

    Aber den Chris kann man nicht aus dem Konzept bringen.

    Er sagte: Wäre, so habe ich mich gefragt, der Hintergrund deiner gegenwärtigen Lebenslage nicht eine ebensolche 'Story', die man unter Umständen sogar für ein geringes oder auch mittleres Honorar deiner Schwester Felizitas zur Verfügung stellen könnte?

    Ich wartete ab, bis seine Wörter aufgehört hatten, in mein Gehirn zu regnen, dann sagte ich: Chris?

    Ja?

    Ich soll meine Story verkaufen? An Felizitas? Welche Story?

    Nun...

    Schwachsinn, Chris!

    Weil: Dann würde ich ja mit ihr reden müssen und das war genau das, was ich auf keinen Fall wollte. Und dann auch noch die Wahrheit sagen? Das ging zu weit.

    Der Chris sagte: Jedenfalls wären...

    Sie würde mich für den Rest meines Lebens erpressen.

    Der Chris schaute mich mit seinen blauen Augen an, richtete seinen massigen Körper auf und sprach die folgenden Worte: Ein Umstand, den es abzuwenden gilt.

    "Oder für den Rest ihres Lebens!"

    Ein Umstand, den es ebenso abzuwenden gilt.

    Du sagst es, Chris, ganz genau! Ein Umstand, den es verdammt nochmal abzuwenden gilt, und zwar: koste es was es wolle, sag ich dir! Nee nee, vergiss es, das läuft nicht!

    Wie der redet! Ein Umstand, den es auf jeden Fall abzuwenden gilt - Ich hab mir vorgenommen, mir diesen Satz unbedingt zu merken: Ein Umstand, den ...

    Sehr gut!

    Dann sagte er, also der Chris: Ich werde aller Voraussicht nach heute über Nacht nicht zuhause sein können, da ich...

    Nein, du hast falsch verstanden; die Felizitas kommt erst morgen.

    Ich muss den Chris künftig mehr ausreden lassen und ihm nicht dauernd ins Wort fallen. Das mach ich nämlich ständig, und das ärgert mich dann selbst hinterher immer.

    Er sagte: Das wäre ebenfalls zu bedenken. Aber gerade heute...

    Moment Chris, Stopp! Du kannst machen, was du willst, du bist ein freier Mann, ein freier Chris und musst dich vor niemandem rechtfertigen. Geh, wohin immer dich der Weg der Weisheit führt, wie?

    Auch kein schlechter Satz, oder? Der Chris wogte seinen Bauch in meine Nähe.

    Doch da wir freilich derzeit leider nur über einen einzigen Hausschlüssel verfügen...

    Weil du deinen verschlampert hast. Chris schaute betrübt zu Boden. Mist! Schon wieder unterbrochen! Es schmerzt mich immer, wenn ich ihn so sehe, also hab ich ganz schnell weitergeredet. Das mach ich immer so, wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll.

    Ist schon recht, wann kommst du denn eigentlich wieder? Ich bin auf jeden Fall da und lass dich rein, okay?

    Das wäre morgen gegen neun Uhr in der Frühe, jedoch kann ich auch einen späteren Zug nehmen oder, sollte es unzeitig früh sein, noch eine Weile hier und dort spazieren gehen bis...

    Kommt überhaupt nicht in Frage, Chris, mach einfach so, wie es für dich gut ist. Wenn du kommst, bist du da..., sagte ich und fühlte mich richtig großzügig dabei. Dann ging ich raus. Weil: Spaziergang! Der Chris hatte absolut recht. Ich finde: Man muss immer ganz langsam laufen und sollte niemanden überholen, das gibt dann den besten Spaziereffekt, vor allem in Berlin, wo die Leute Probleme damit haben, geradeaus zu gehen.

    Berlin ist ja irgendwie anders, passt nicht in die Reihe von den anderen Städten, weil: Das ist hier nie fertig und immer ein bisschen ungepflegt. Im Grunde ganz genau wie ich, und deswegen liebe ich das wahrscheinlich so, jeden Tag eine Stunde spazieren zu gehen, um zu schauen, ob sich wieder was verändert hat in der Stadt, also ich meine: in Mitte, wo ich wohne, weil: Der Rest von Berlin ist eh egal.

    Ich bin die Friedrichstraße lang: vom Oranienburger Tor, über die Weidendammer Brücke bis zum Lafayette und dann unterirdisch durch die Passage weiter zum Gendarmenmarkt, wo eine meiner Lieblingsbars ist: Das Newton. Da ist es an sich ziemlich hässlich, weil überall an den Wänden riesige Frauen ohne Kleider zu sehen sind, die einen anschauen, als wollten sie sagen: Los, schwirr ab!

    Und die Leute, die da hingehen, sind meistens auch nicht so ganz seriös. Schauspieler, Künstler, Leute mit Perücken und Goldketten, Gesindel in teuren Kleidern. Der unseriöseste und schmierigste von allen heißt Mikki, und er pumpt mich immer an. Und dass die sich da alle ohne Verabredung treffen, einfach so, weil es sie hinzieht, das gefällt mir an der Bar, und ich gehe auch fast jeden Tag hin.

    Ich stellte mich an den Tresen mit dem Rücken zur Öffentlichkeit und der Nase direkt über dem Spülbecken von der Bar. Viele sagen mir, wenn ich so dastehe, dann sehe ich fast so aus wie John Wayne in seiner Stammkneipe im Wilden Westen, kurz bevor die Prügelei anfängt. Hinter der Theke, unten, da konnte man den Hinterkopf und den blonden Pferdeschwanz von Susi sehen, die irgendwas aus einem Fach herauszerrte, wahrscheinlich Drogen oder frische Servietten.

    Ich sagte: Hi, Susi, na?

    Sie erschrak und schaute nach oben. Ich hab ihr zugelächelt und genickt. Das mache ich immer, wenn ich mit blonden Pferdeschwänzen konfrontiert werde und das Leben gibt mir Recht: So muss man es machen: nicken und lächeln, bis es einer von beiden bereut.

    Susi richtete sich

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