Geheimbund Omega II
Von Kai Beisswenger und Becca Robertson
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Geheimbund Omega II - Kai Beisswenger
werden.
Kapitel 1
Düsseldorf im Mai 2020
Wieder war ein Jahr vorbei. Ich hatte das Gefühl, dass es von Mal zu Mal schneller ging. Mir kam es so vor, als hätte ich erst vor zwei Monaten meinen Geburtstag gefeiert. Aber der rasche Blick auf den Kalender am Morgen hatte mir verraten, dass der 19. Mai wieder kurz bevorstand. „Annas 34. Geburtstag" war fett eingekreist. Noch ein Mal schlafen und dann würden Verwandte und Freunde mit Geschenken und Kuchen über mich herfallen. Eigentlich feierte ich gern Geburtstag, aber in den letzten zwei oder drei Jahren war es immer eher anstrengend gewesen.
Anstrengend war auch genau mein Stichwort. Mein Job bei „PRO !ntegration Düsseldorf" war in der letzten Zeit zur 14-Stunden-Aufgabe geworden. So weit war es schon gekommen. Eine Gruppe türkischer Jugendlicher hatte randaliert. Wir kümmerten uns um sie, damit sie die Chance auf einen Ausbildungsplatz bekamen. Dabei haben wir uns den Allerwertesten aufgerissen, damit sie es so leicht wie möglich haben und Integration für sie nicht nur ein Wort bleibt. Immer wieder hatten wir Vorstellungsgespräche für sie arrangiert, sie mit ihnen simuliert oder einfach mit ihnen trainiert. Doch dann kam der Punkt, an dem sie sich offensichtlich angegriffen gefühlt hatten. Vielleicht weil sie Angst hatten, ihre Wurzeln verleugnen zu müssen. Ich habe keine Ahnung, wo es so gründlich schiefgelaufen war. Sie hatten uns gar keine Chance gegeben, ihnen zu erklären, dass es auch ein Nebeneinander zweier Kulturen geben kann. Um uns deutlich zu zeigen, was sie von uns und unserem Plan hielten, hatten sie nachts unser HoME zugemüllt, zugesprayt und ein paar Fenster eingeworfen. Es war ein nettes kleines Häuschen mit Glasfronten am Volksgarten hier in Düsseldorf, das überhaupt nicht darauf schließen ließ, dass es zu irgendeinem Amt gehörte. Man konnte sich hier richtig wohl fühlen. Allerdings nicht im Moment. Dauernd hatten wir die Polizei im Haus, aber die konnten natürlich auch nichts machen. Die Polizei, dein Freund und Helfer.
Als ich am Morgen das HoME erreicht hatte, konnte ich das Drama schon von Weitem erkennen. Das gesamte Gebäude war von außen mit Graffiti besprüht worden. Als ich die Tür öffnete, sah ich die Beamten schon im Büro meines Chefs sitzen. Da es auch diesmal leider keine Zeugen gab, konnten sie wieder nichts tun. Am Nachmittag, kurz vor Feierabend, kamen sie noch mal zurück, um uns über die neuesten Erkenntnisse zu informieren. Es gab im Grunde genommen keine. Sie legten uns jedoch nahe, das HoME auch nachts nicht unbewacht zu lassen. Sie hätten keine Handhabe, es rund um die Uhr zu observieren. Es war ja quasi noch nichts passiert. Oh, Mann … Das war ja so klischeehaft. Es musste immer erst etwas passieren, bis die Polizei eingreifen konnte. Ob das wirklich der Sinn der Sache ist? Und was das hieß, war auch allen Mitarbeitern klar. Einer von uns musste nachts im HoME schlafen. Dazu konnte uns zwar niemand zwingen, aber selbstverständlich waren wir daran interessiert, dass unser Arbeitsplatz nicht komplett zerstört wurde. Außerdem hatten wir sicher alle nichts Besseres zu tun, als auch noch unsere Nächte dort zu verbringen. Dass ich am nächsten Tag Geburtstag hatte, interessierte da nur am Rande.
An wem die Sache hängengeblieben war, liegt wohl auf der Hand. Freundlicherweise konnte sich Sami, mein Freund und Kollege, dazu durchringen, mir Gesellschaft zu leisten, damit mir die bösen Jungs nichts tun konnten. Wieso Männer nur immer glauben, wir Frauen könnten uns nicht selbst wehren. Zur Not hatte ich schließlich immer mein Pfefferspray in der Tasche. Wobei ich nicht genau sagen kann, ob das überhaupt noch einsatzfähig gewesen wäre. Ich hatte es zu dem Zeitpunkt schon seit über drei Jahren immer in der Handtasche. Damals hatte es mir Paul, mein Ex-Freund, gegen meinen Willen zugesteckt. Er meinte, man wüsste ja nie, was so passieren würde. Damit hatte er auch recht gehabt, nur bezog sich das wohl eher auf unsere Beziehung, denn die war plötzlich beendet. Merkwürdig – oder bezeichnend -, dass ich immer im größten Chaos an ihn denken musste. Dabei waren wir jetzt schon fast zweieinhalb Jahre getrennt und mit Sami hatte ich seit einiger Zeit einen wirklich tollen Mann an meiner Seite, auch wenn es ein bisschen gedauert hatte, bis ich das begriffen hatte und es in den letzten Wochen ein bisschen anstrengend war. Aber jede Beziehung hat schließlich ihre Höhen und Tiefen.
Jedenfalls rannte nicht nur die Zeit, sondern mittlerweile auch ich. Um 19 Uhr durfte ich Feierabend machen, um rasch meine Sachen für die Nacht zu packen. Allerdings musste ich auch noch ganz dringend Lebensmittel für meinen Geburtstag einkaufen. Die Meute wäre nicht begeistert, wenn sie nichts zu essen bekäme. Da aber auch in Düsseldorf die Läden gegen 20 Uhr schlossen, musste ich mich ziemlich beeilen. Deshalb fuhr ich direkt nach Oberbilk zum Supermarkt. Seit der Trennung von Paul hatte ich mich dort nicht mehr aufgehalten. Dabei wohnte Paul gar nicht mehr in Deutschland. Ja, ja, das ist wieder Frauen-Logik. Aber ich hatte keine Zeit für solche Befindlichkeiten und steuerte den erstbesten Parkplatz an. Im Laufschritt besorgte ich mir einen Einkaufswagen und ging dann meine Einkaufsliste durch, imaginär natürlich. Für eine aus Papier oder auf dem i³Phone war keine Zeit gewesen. Zuerst hielt ich auf die Obst- und Gemüse-Abteilung zu. Mit Salaten und Gemüse-Sticks konnte ich die meisten Gäste glücklich machen. Da sich das Wetter halten sollte, hatte ich mich für einen Grillabend entschieden. Die Männer würden ein ordentliches Stück Fleisch bekommen – oder zwei oder drei - und die Frauen waren ohnehin meistens mehr mit den Beilagen beschäftigt.
Ich wollte mir gerade den letzten Salatkopf schnappen, als sich plötzlich eine ältere Dame vordrängelte, um ihn sich vor mir zu krallen. Das hatte mir gerade noch gefehlt.
„Geht’s noch?, pampte ich sie an. Da drehte sie sich um. In diesem Moment war mir klar, dass sich alle Götter dieser Erde gegen mich verschworen haben mussten. Vor mir stand Frau Scholz. Sie war die ehemalige Nachbarin von Paul und vermutlich die einzige Hessin, die nach fünfzig Jahren Rheinland immer noch Dialekt schwätzte. Sie lebte im zweiten Stock und wurde von allen nur „Hausdrache
genannt – was ich ziemlich passend finde. Wie oft war ich ins Haus geschlichen, damit sie mich nicht auf der Treppe abfangen konnte. In den meisten Fällen hatte das aber leider nicht funktioniert und ich saß erst mal fest. Wenn Paul mich hörte, versuchte er mich öfter aus ihren Fängen zu befreien. Ansonsten hatte ich sie häufiger einfach so stehenlassen. Dass ausgerechnet sie mir hier begegnen musste, war ja klar gewesen.
„Tut mer leid, Frollein Sobesch! Ich hab Sie gar ned gesehe. Ich hab nur uff de Salad geguckt. Un, ich hätt Sie gar ned erkannt. Sie sehe aber schlecht aus. Ist Ihne ned gut?"
„Ja, danke, Frau Scholz. Es ist momentan ein bisschen stressig bei der Arbeit, aber mir fehlt nur Schlaf. Ich nehme halt einen anderen Salat! Schönen Abend."
Beim letzten Wort wollte ich mich schon wieder umdrehen, aber da hatte ich die Rechnung ohne Frau Scholz gemacht. Sie hielt mich am Arm fest und redete weiter auf mich ein. Ich erklärte ihr, dass ich nun wirklich keine Zeit hätte und eigentlich schon fast wieder im Auto sitzen müsste. Ein Blick in meinen Wagen verriet ihr jedoch, dass ich den Einkauf gerade erst begonnen hatte. Völlig unvermittelt platzte es aus Frau Scholz heraus:
„Was Sie mit Ihr’m Freund gemacht ham, war aber ned die feine englische Art, gell? Sie sollte sich was schäme. Des hätt’s zu meiner Zeit ned gegebbe!"
Ich? Was hatte ich denn gemacht? Ich wollte ihr gerade erklären, dass es Paul war, der mich aus Australien angerufen hatte, um mir zu sagen, dass er sich für ein Joint-Venture entschieden hatte und in Melbourne an einem Institut für Experimentalphysik arbeiten wollte. Dass er es war, der mich mal eben so entsorgt hatte und mir auch direkt eine neue Frau an seiner Seite aufgetischt hatte. Jessica. Mehr wollte und musste ich gar nicht wissen. In der Zeit nach der Trennung war es mir so schlecht gegangen und genau das hätte ich Frau Scholz jetzt gern an den Kopf geworfen, aber dabei hatte ich beinahe das Wesentliche nicht mitbekommen.
Frau Scholz musste Paul vor Kurzem gesehen haben. Aber wie denn, wenn der Herr Ingenieur sich in Australien rumtrieb. Sie hatte wohl kaum Surf-Urlaub gemacht. Schade eigentlich. Sollten vor der australischen Küste nicht auch Haie rumschwimmen? Ich wollte gerade fragen, wann sie ihn denn gesehen hatte, aber das war gar nicht nötig. Frau Scholz musste man nun wirklich keine Informationen aus der Nase ziehen. Zum ersten Mal war das eine wirklich nützliche Eigenschaft.
„Seit er wieder eingezoge is, hatt er Ihne nachgetrauert, der arme Herr Löbisch …, dabei funkelte sie mich an, „… aber Ihne is des natürlisch egal. Hauptsach, Ihne geht’s gut, gell?
„Das ist nun wirklich nicht meine Sch…", schrie ich ihr fast entgegen, doch sie ließ mich nicht mal ausreden.
„Ned Ihr Schuld? Von wesche! Wem sei Schuld sonst? Sie müsste ihn mal sehe, wenn er abends von der Arbeidd heimkehrt. Wie traurisch der aus de Wäsch guckt!"
Es hatte gar keinen Sinn, sich weiter mit ihr zu unterhalten. Daher beschloss ich, mich umzudrehen und endlich weiterzugehen. Ich hoffte nur, dass sie mir nicht folgen würde. Das tat sie zum Glück auch nicht, aber ihre Schimpftiraden konnte ich noch zwei Gänge weiter hören.
Wenn ich Frau Scholz richtig verstanden hatte, dann war Paul seit ein paar Wochen zurück und arbeitete vielleicht sogar wieder im Institut für Experimentalphysik der Uni. Und hatte er von mir geredet? Wenn ja, warum? Das hatte mir vorhin einen merkwürdigen Stich versetzt. ER hatte Schluss gemacht. ER hatte eine neue Freundin gehabt, während ich jeden Abend mit den Tränen zu kämpfen hatte. ER war einfach nach Australien abgehauen. Nicht ICH. Ich hatte gar keine Wahl gehabt. Er hatte mich nicht mal gefragt, ob ich mit nach Australien wollte. Gut, in der damaligen Situation hätte ich wahrscheinlich nein gesagt, aber er hätte zumindest fragen können. Wir hatten eine schwierige Phase gehabt, aber war das ein Grund dafür, ans andere Ende der Welt abzuhauen? Offensichtlich schon. Aber warum redete er mit Frau Scholz über mich? Das Surfer-Girl schien er dann wohl nicht mitgebracht zu haben. Vielleicht hatte sie außer ihrem Brett auch nicht viel im Kopf gehabt. Warum machte ich mir darüber überhaupt Gedanken? Das war wirklich zu blöd. Ich war seit einem Jahr eigentlich sehr glücklich mit Sami zusammen.
Wir hatten uns damals im HoME kennengelernt. Es war bei mir nicht gerade Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber je mehr Zeit ich mit ihm verbracht hatte und je mehr er sich um mich gekümmert hatte, desto leichter war mir die Entscheidung für eine Beziehung mit ihm gefallen. Ich konnte Paul schließlich nicht ewig nachtrauern. Jedenfalls hatte Sami Goldberg dafür gesorgt, dass ich wieder anfing zu leben. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, da er kaum Familie hatte und noch nicht so lange in Düsseldorf lebte. Wir unternahmen viel zusammen, nur manchmal brauchte er ein bisschen Zeit für sich allein. Dann ging er einfach stundenlang spazieren oder ins Fitnessstudio, bevor wir uns abends zusammen auf die Couch kuschelten. Es war anders als mit Paul. Ganz anders sogar. Aber es war gut, wie es war.
Ich huschte noch schnell durch ein paar andere Gänge und sprintete anschließend zur Kasse. Natürlich