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Der Zocker, die Rote Hilde und andere Erzählungen
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Der Zocker, die Rote Hilde und andere Erzählungen
eBook283 Seiten4 Stunden

Der Zocker, die Rote Hilde und andere Erzählungen

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Über dieses E-Book

Viel mehr als Klatsch und Tratsch über Prominente, viel tiefer berühren uns doch Geschichten und Schicksale von Menschen, die unsere Nachbarn sein könnten, Kollegen oder Zufallsbekanntschaften in der Kneipe. Solchen Menschen widmet sich der Autor in seinem neuen Buch "Der Zocker, die Rote Hilde und andere Erzählungen". Episoden und Ereignisse, die das Leben der Akteure prägen oder verändern, verbindet der Autor in vierzehn Erzählungen mit einer detailverliebten Schilderung von Personen und Handlungsorten, dass sich der Leser mithinein genommen fühlt in die jeweilige Szenerie. An den Arbeitsplatz des Invaliden etwa, der seine Hand auf tragikomische Weise im Krieg verlor oder ins Atelier des Kunstmalers, der einen Faible fürs Darstellen bandagierter Frauenkörper hat. Ein Hauch von Sex and Crime hat der Autor ebenso untergebracht in dieser Geschichtensammlung wie die Reminiszenz an einen guten Lehrer alter Schule, den Ausflug zur Kudu Jagd nach Afrika sowie den Einblick in die Existenzsorgen des kleinen Mannes und dessen Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und manchmal auch der Flucht aus dem Alltäglichen. Ab und zu durchziehen autobiografische Spuren die Zeilen. Geschickt gesetzte Spannungsbögen, die auch in Tragik münden, machen jede Erzählung zu einer Lektüre, die man nicht unterbrechen möchte.
Hagen Jung
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum15. Apr. 2015
ISBN9783738699616
Der Zocker, die Rote Hilde und andere Erzählungen
Autor

Rolf Alldag

Der Autor Rolf Alldag wurde 1938 in Hannover geboren. Der Vater, von Beruf Metallarbeiter, ist in den letzten Kriegstagen bei Kampfeinsätzen in Schlesien als vermisst gemeldet und die Mutter musste ab 1944 allein für das Wohl der Familie sorgen. Nach der Schulentlassung 1953 beginnt Rolf Alldag eine landwirtschaftliche Lehre in einem kleinen Ort am Deister bei Hannover, danach ist er in einem Kohlenbergwerk im Ruhrgebiet tätig. Von 1958 bis 1966 arbeitet er als Bauarbeiter in der Baubranche. Nach dem Studium der Bautechnik arbeitet er ab 1972 in leitender Position in einem internationalen Baukonzern. 1959 heiratet er und hat zwei Söhne und eine Tochter. Seit 2004 ist er Pensionär und lebt in Niedersachsen. All diese Lebensabschnitte und die Personen, welche eine kleine oder große Rolle in seinem Leben spielten, inspirierten ihn zu seinem Buch "Der Zocker, die Rote Hilde und andere Erzählungen", das Buch "Ein Fall für Drei - Erzählungen" ist nun der Folgeband. Seit 2002 veröffentlichte Rolf Alldag Jagdbeiträge in verschiedenen Zeitschriften. Im Jahr 2009 brachte er sein erstes Buch "Das Hochzeitsfoto von 1906" - Lebenswege einer Familie aus Niedersachsen heraus. Mit seiner Liebe zur Natur beschäftigt sich auch sein 2010 erschienenes Buch "Luise und andere Jagdgeschichten". Danach folgten weitere: 2011 "Arntedanz" - eine Sammlung von Gedichten des Heidedichters Bernhard Alldag, 2013 "Die Strasse" - Eine niedersächsische Geschichte mit teils biografischem Inhalt, 2014 "Ivans Reise" - ein Roman, der in einem kleine Dorf in Russland beginnt und in Nachkriegsdeutschland endet, 2015 "Der Zocker, die Rote Hilde und andere Erzählungen" und 2016 "Ein Fall für Drei - Erzählungen".

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    Buchvorschau

    Der Zocker, die Rote Hilde und andere Erzählungen - Rolf Alldag

    Hilde

    Der alte Ahlborn

    Der alte Ahlborn war mir als Hilfe zu meiner Arbeit beigegeben worden. Ich nenne ihn nun, in der nachfolgenden Erzählung, nur noch Ahlborn und ich bin fest davon überzeugt, dass er nichts dagegen gehabt hätte, dass ich das „Herr" vor seinem Namen entfallen lasse, wenn er das folgende lesen würde. Das tue ich aber keineswegs aus Respektlosigkeit, sondern nur der Einfachheit halber und weil ich glaube, dass das auch so verstanden wird.

    Um aber vom alten Ahlborn zu erzählen, muss ich erläutern, dass meine Tätigkeit zum großen Teil im Außenbereich der Firma lag, in anderen Geschäftsbereichen. Eigentlich da, wo unsere Firma das erforderliche Geld für seine Existenz und sein Wohlergehen verdiente. Kam ich aber für eine bestimmte Zeit in den Innenbereich – ins Büro – stand Ahlborn mir bei meinen dort zu erledigenden Arbeiten zur Seite. Das ging so lange, bis alles erledigt war und ich meine Unterlagen einpacken konnte und in den Außenbereich zurückkehrte.

    Wir begrüßten uns bei meiner Ankunft in alter Weise mit einem kräftigen Handschlag, manchmal auch mit einem kleinen, schon freundschaftlichen Klapps auf die Schulter. Genau so, als hätten wir uns nur für einige Tage nicht gesehen und freuten uns gemeinsam auf die kommende, wenn auch beschränkte Zeit.

    Die üblichen Fragen: „Wie geht’s, wie stets", waren schnell erledigt und die die nun gemeinsame Arbeit begann.

    Es lagen oft viele Monate zwischen unserem Wiedertreffen, manchmal sogar mehr als ein Jahr. Die Freude des Wiedersehens war ganz sicher beidseitig verteilt. Es ging oft so weit, dass ich glaubte, er hat direkt auf mich gewartet, in der Zwischenzeit sogar Informationen eingeholt, wann ich denn endlich käme. Was er in der Zwischenzeit tat, welchem Kollegen er zur Hand ging, eine Beihilfe war, habe ich nie erfahren und ich habe auch gar nicht nachgefragt.

    Wenn der alte Ahlborn montags zum morgendlichen Arbeitsbeginn kam und die kurze Begrüßung erledigt war, packte er seine braune Aktentasche aus und nahm mir gegenüber bequem am Schreibtisch Platz. Neben der großen, verbeulten Alubüchse mit den immer dick belegten Broten und der Thermoskanne mit Kaffee, kam jedes Mal, mit pünktlicher Regelmäßigkeit, die mitgebrachte Tageszeitung zum Vorschein. Aber nur an diesem einen Tag in der Woche. Erst habe ich es gar nicht registriert, aber dann stellte ich fest, er teilte es mir auf meine Nachfrage auch mit, es war immer die Ausgabe des vergangenen Wochenendes. Noch später erfuhr ich, dass ein Händler in seiner Stadt ihm dieses Exemplar stets bis Montagmorgen, vor seinen Fahrtantritt ins Büro, bereithielt.

    „Darf ich mal das Telefon haben?"

    Mit einer Handbewegung wanderte das auf einem Schwenkarm stehende Telefon von mir zu ihm herüber und es begann ein Telefonat, das ich stets mit großem Interesse verfolgte. Ich hätte auch gar nichts anderes tun können, als meine eigene Arbeit zu unterbrechen. Die Stimme meiner Beihilfe hatte nun einen ganz anderen Klang. Sie hatte, nachdem er sich laut und stark geräuspert hatte einen Befehlston, den Ahlborn sich irgendwo angewöhnt haben musste.

    „Ja, ich bin es. Ob ich gut angekommen bin? Na, würde ich wohl sonst anrufen. Wir wollen es kurz machen. Also pass auf: Nimm einen Zettel, hast du ihn. Gut, dann schreib auf: Die Margarine holst du bei Alberts, die Kartoffeln bei Schmidt."

    So ging das eine ganze Weile, wobei die Stimme an Strenge und Lautstärke nichts verlor und er die Zeitung immer vor Augen hatte, die Seiten umblätterte und gleichzeitig mit seinen Bleistiften spielte oder sonstige kleine Arbeiten verrichtete. Er kreuzte und markierte an, was er las und durchgab. Nach etwa zwanzig Minuten, manchmal auch kürzer, war die Bestellung ohne weiteren Gruß erledigt, der Schwenkarm mit Telefon wendete sich mir zu und die Zeitung verschwand wieder in der Aktentasche.

    Erstaunt fragte ich ihn beim ersten dieser Telefonate, was das zu bedeuten hatte und warum seine Frau das alles besorgen solle? Er könne doch am Wochenende mit dem Auto alles viel schneller erledigen.

    Stirnrunzelnd und geduldig erklärte er mir: „Die hat doch Zeit genug. Eine ganze Woche lang ist sie jetzt beschäftigt. Sie wissen doch, unsere Stadt ist weit auseinandergezogen und wir wohnen ganz am Rand. Nun ist sie ebenfalls beschäftigt, hockt nicht nur zu Hause herum und kommt nicht auf dumme Gedanken".

    So wie ich es aus seinen wenigen privaten Erzählungen heraushören konnte, lebte er mit seiner etwa gleichaltrigen Frau allein in einer kleinen Etagenwohnung in einer Stadt, die eigentlich nur aus einzelnen, weit auseinandergelegenen Teilen bestand. Die „dummen" Gedanken, von denen er seine Frau abhalten wollte, bestanden sicher nur in seiner Fantasie. Auch von einem längst erwachsenen Sohn war manchmal andeutungsweise die Rede, aber Genaues war ihm nicht zu entlocken. So wie ich es aus den dürftigen Aussagen heraushörte, besaß der Sohn die volle Liebe der Mutter und bekam die etwas blasierte Überlegenheit des Vaters zu spüren. Hier gab es wohl häusliche Streitigkeiten und Entfremdung. Wenn meine Beihilfe auch sonst ein eifriger und guter Erzähler über alle möglichen Dinge war, von sich selbst und seiner Familie kam erstaunlich wenig über den Schreibtisch zu mir herüber. Vielleicht ahnte er aber auch, dass hierfür bei mir kein besonderes Interesse vorhanden war. Ob er jemals Urlaub machte, konnte ich nicht erfahren. Während meiner Anwesenheit war er jedenfalls immer da. Als besonders humorvoll konnte man ihn nicht einstufen. Seinen leichten, ständigen Husten bezeichnete er aber stets im leichten, humoristischen Tonfall mit dem Wort Friedhofsjodler. Ein Wort, das ich so nicht kannte, mir aber gefiel, weil es eben vom alten Ahlborn stammte und sonst nirgends zu hören war.

    Der Tag begann mit dem Einerlei des Bürolebens. Gegen Mittag holte meine Beihilfe seine Brotdose hervor und erneut gab es für mich etwas zu bestaunen. Er verzehrte in aller Ruhe bergeweise, so wie ich es beurteilen und sehen konnte, die gut und dick belegten Butterstullen. Erstaunlich viele für sein Alter und seine hagere Gestalt. An manchen Tagen wehte auch eine kräftige Knoblauchfahne zu mit herüber. Bestimmt nahm er den, zur Stärkung seiner Spannkraft. Seine Frau musste ihre Probleme haben, ihn zu Hause satt zu bekommen. Vielleicht hielt er sich da aber mit dem Essen zurück und holte nun im Büro alles nach. Aber um meine Beihilfe näher zu beschreiben, muss ich doch etwas weiter ausholen.

    Als ich ihn kennenlernte, kam er mir schon uralt vor. Bestimmt lag es daran, dass ich gerade etwas über dreißig war und Ahlborn auf die Siebzig zuging, oder vielleicht sogar diese schon erreicht und überschritten hatte. Zu seinem Alter hatte ich gar keinen Zugang; ich konnte mir nicht vorstellen, jemals selbst so alt zu werden. Ahlborn war ja bereits Rentner, aber noch einmal wegen Mangels an geeignetem Personal aktiviert worden und wieder ins Arbeitsleben eingestiegen. Vielleicht aber auch, weil die Rente nicht reichte oder er sich im häuslichem Umfeld nicht wohlfühlte. Später, als er mir von seinen Arbeitseinsätzen in den verschiedensten Teilen unseres zuvor noch größeren Landes erzählte, konnte ich mir seine Abwesenheit vom heimischen Herd besser erklären. Ich habe ihn nie nach den genauen Gründen für seinen so späten Arbeitseinsatz gefragt, bestimmt hätte er mir die auch gar nicht mitgeteilt.

    Der von Ahlborn hinterlassene Eindruck auf sein Umfeld war schon beachtlich und ging weit über unser gemeinsames Büro hinaus. An körperlicher Größe hatte er altersbedingt nichts eingebüßt. Sein Auftreten war sogar würdevoll zu nennen. Er ging aufrecht gerade, langsam und bedächtig, wobei ihm seine drahtige, fast schon dürre Gestalt sehr zustatten kam. Nach seinem Appetit hätte er das Doppelte wiegen müssen. Sein Schritt war als dennoch elastisch zu bezeichnen und hatte gar nichts greisenhaftes und so waren auch seine Bewegungen. Das ergraute noch immer volle Haar war glatt zurückgekämmt und er war immer gut und glatt rasiert. Was absolut nicht im Einklang mit diesem Bild stand, waren die buschigen Augenbrauen. Sie hingen über den tiefliegenden Augen, verdeckten ihm, so schien es mir, die Sicht und gaben ihm ein etwas wildes Aussehen. Selbst über seine Brillengläser hingen die drahtigen Borsten. Was optisch ebenfalls störte, waren die aus der Nase und den Ohren herauswachsenden Haare. Ich fragte mich oft, warum seine Frau ihn darauf nicht aufmerksam machte? Im Gesicht befanden sich ganz natürliche Altersspuren, aber sie passten zu ihm, wie seine Kleidung. Die hohe Stirn zeugte von einer gewissen Intelligenz. Der Mund leicht verkniffen, mit zwei tiefen, seitlichen Gramfalten. Das war kein Gesicht, das Humor oder Lebensfreude verbreitete. Ich will es so sagen: er hatte einen tragischen Gesichtsausdruck. Anders kann ich es aus der Erinnerung heraus nicht beschreiben. Ja, er war eine tragische Gestalt. Seine Augen, sein Mund, einfach das Gesicht hatten diesen Ausdruck. Aber, er machte keinen Trend der Zeit mit. Er blieb stets so, wie er sicher immer war. Es gab im Büro noch einige Leute in seinem, oder fasst in seinem Alter, er unterschied sich jedoch von denen allen, nicht nur in der etwas altmodischen Kleidung, bestimmt auch in seiner Weltanschauung. Ich hatte vor ihm bestimmt das, was man schlechthin Hochachtung nennt.

    An besonders beanspruchten Stellen, am Hosenboden und an den Knien, zeigte der ständig getragene, zweireihige braune Anzug leichte Abnutzungserscheinungen; dazu die ständig gleiche, farblose Krawatte, die allerdings mehr einem Strick ähnelte, um den dünnen Hals mit dem vorspringenden, behaarten Adamsapfel, ließ ihn für Außenstehende unbedeutend erscheinen. War die Anzugjacke geöffnet, was selten vorkam, wurde eine Uhrkette sichtbar. Meine Beihilfe trug aus verständlichen Gründen keine Armbanduhr, in der Westentasche steckte eine aufziehbare Taschenuhr an einer dicken, silbrigen Kette. Es war ein etwas altmodischer Anblick, in unseren modernen Zeiten. So unterschied er sich von vielen im Büro, von mir ganz besonders. Ich legte auf das Äußere nicht den großen Wert wie meine Beihilfe Ahlborn.

    Was ihn aber von allen anderen Mitarbeitern in der Firma grundsätzlich unterschied, war seine linke Hand. Die fehlte, sie war ihm in den Wirren des Krieges abhandengekommen. Aber wie das genau geschah, dass erzählte er mir, auf meine Anfrage, erst viel später. Groß gefehlt hat sie ihm bei seiner nun ausgeübten Tätigkeit nicht. Er trug eine starre Kunsthand, an der jeder leicht gebogene Finger kunstvoll und anatomisch richtig ausgebildet war. Diese Hand war mit einem braunen, an einigen Stellen schon abgenutzten Lederhandschuh überzogen, aus denen das Holz der Kunsthand hervor sah. Es gab auf diese Hand sogar einen, wie er oft meinte, viel zu kleinen Rentenzuschlag.

    Ahlborns Aufgabe lag im Kopieren und Nachrechnen umfangreicher, zentimeterdicker Leistungsverzeichnisse. War er am Rechnen, rasselte die halbmechanische Rechenmaschine und spuckte meterlange Papierstreifen aus, die dann den Papierkorb füllten. Ganz natürlich schlichen sich auch schon einmal Rechenfehler ein und die Prozedur begann am gleichen Stapel noch einmal von vorn. Auf die von ihm errechneten Resultate konnte ich mich aber immer voll verlassen und tat es auch. Selbst kleine oder größere Fehler, von den Einreichern der Unterlagen mit Bedacht eingebaut, um das Angebot im ersten Durchgang niedrig erscheinen zu lassen, und später Nachforderungen geltend zu machen, wurden von meiner Beihilfe erkannt und mitleidslos ausgemerzt. Sein kurzes, grimmiges Auflachen beim Nachrechnen zeigte mir über den Schreibtisch an, dass wieder ein Fehler erkannt wurde.

    Das Kopieren der Leistungsverzeichnisse wurde aber außerhalb unseres gemeinsamen Büros erledigt. Das Riesengerät stand einige Stockwerke entfernt an einem zentralen Platz und war der Anlaufpunkt für das gesamte Personal im Büro. Hier etwas zu kopieren, bedeutete Zeit und viel Glück. Stets war das Gerät belagert und besonders spannend wurde es, wenn meine Beihilfe mit seinen zentimeterdicken Verzeichnissen, noch verpackt im Pappkarton, am Kopierer auftauchte. Für den Rest des jeweiligen Tages kam nun keiner mehr an das Gerät, Ahlborn hatte es wie seinen persönlichen Besitz besetzt und ließ keinen heran. Selbst die flehend vorgebrachten Bitten: nur mal eine Seite, stießen bei meiner Beihilfe auf absolute Ablehnung. Es war aber auch eine strapaziöse Prozedur. Für jede Seite musste der Deckel angehoben, das Blatt sorgfältig eingelegt und zurechtgerückt werden. Anschließend den Deckel wieder schließen, auf den Knopf drücken und so weiter. Der Tag war dann ausgebucht.

    So verbrachten wir, meine Beihilfe und ich, die Zeit meiner Anwesenheit im Büro.

    Zu persönlichen Gesprächen zwischen uns während der Arbeitszeit kam es selten. Aber bei einem dieser Gespräche erfuhr ich, dass Ahlborn vor dem Krieg bereits in dieser Firma, nur in einer anderen Niederlassung in Ostpreußen – ganz genau in Königsberg – als Bauingenieur gearbeitet hatte und nun auch aus alter Anhänglichkeit gerade diese wieder als seinen vielleicht letzten Arbeitsplatz erwählt hatte.

    So ruhig und gleichmäßig hätte es für die Zeit meiner Anwesenheit im Büro auch weitergehen können, aber es kam anders. Unser fast schon väterlich wirkender Direktor ging in den wohlverdienten Ruhestand und nahm seine persönliche, nur für ihn arbeitende, mütterlich wirkende, Sekretärin mit. Ein neuer Direktor betrat die Bühne und mit ihm eine neue Vorzimmerdame. Auch im Vorzimmer des Neuen herrschte nun ein anderer Wind. Schon rein optisch saß da nun eine Person, die als kleines Kunstwerk betrachtet werden konnte.

    Die erste Tätigkeit des neuen voller Dynamik auftretenden, zwergenhaften Direktors begann mit dem Ausdünnen des Personals, in allen Etagen als Sanierungsmaßnahme und Kosteneinsparung. Saßen drei Leute in einem Raum, was wegen Platzmangel oft der Fall war, konnte einer davon mit Sicherheit seine Tasche packen und nach Hause gehen, ob er gebraucht wurde oder nicht. Der Nebenmann hatte die Aufgabe des Entlassenen zu übernehmen, basta.

    Die Betriebsrätin bekam nun viel Arbeit. „Rote Grete" wurde sie genannt, aber nur wenn sie nicht in der Nähe war und ihr dieser Name nicht zu Ohren kam. Sie war eine einsame, energische Kämpferin und unternahm mehr, als von einer Betriebsrätin erwartet wurde. Sie tat viele Dinge, die dem neuen Direktor nicht lieb und recht waren. Ihr Einsatz für die Kollegen grenzte an einen Heldenkampf, der aber von vielen Mitarbeitern leider nicht immer anerkannt wurde. Die Anpassung vieler Mitarbeiter – in Sorge um den eigenen Arbeitsplatz – an die Methoden des Neuen, nahm unangenehme Formen an.

    Dass gerade unser „Laden", als eine Niederlassung von vielen in den Hauptstädten der Bundesländer, finanziell gut im Rennen lag, war als eine Tatsache nicht nur den Kalkulatoren bekannt. Der Neue versuchte sich in den ganz oberen Etagen der Hauptniederlassung mit seinen Maßnahmen einen Namen zu machen, was ihm, wie es die späteren Jahre zeigten, auch gelang. Aber, das ist eine ganz andere Geschichte. Was wir beide – meine Beihilfe und ich – und bestimmt auch der neue Scharfmacher zu dieser Zeit noch nicht ahnten, war, dass er, der durch die Büroräume fegte und sanierte, später am Untergang der Firma ganz aktiv beteiligt sein sollte, vielleicht sogar der Hauptschuldige war. Zum Glück hatten wir zu der Zeit keine Ahnung wie alles kommen sollte.

    Eine klitzekleine Schadensfreude konnte ich mir aber nicht versagen, als der sich für so wichtig haltende kleine, dicke und obendrein arrogante Einkäufer aus der Chefetage seinen Platz räumen musste. An dessen Schreibtischkante lehnte zu bestimmten Zeiten eine Schrotflinte, die er sich oft gegen Mittag über die Schulter warf, zum geländegängigen Auto auf dem firmeneigenen Parkplatz ging und mit der Zurücklassung einer blauen Abgaswolke für den Tag verschwunden blieb. Die nach seinem Rauswurf folgende Zeit konnte er nun geruhsam den ganzen Tag auf dem Hochsitz im Wald verbringen. Aber vielleicht wollte er das gar nicht. Dann kam, nach leichtem Abflauen der Entlassungswelle, das Streichen von jahrelangen Privilegien und Sondervergütungen, und nun traf es auch unsere kleine Gemeinschaft.

    An einem Tag kam Ahlborn aufgeregt von einem Ausflug in andere Etagen und aus der Registratur mit einem Brief in der Hand zurück. Seine behaarten Nasenflügel bebten und so wie ich es auf dem ersten Blick sah, war sogar die Brille leicht beschlagen.

    „Stell‘n sie sich mal vor, was der Neue sich einfallen lassen hat. Sie kommen nicht drauf."

    Er sah mich fragend an. Ich kam wirklich nicht drauf, ich konnte mir auch gar nicht denken, was meine Beihilfe so auf die sogenannte Palme gebracht hatte. Aber, ich sollte nicht länger in Unkenntnis darüber bleiben.

    „Hier, ich habe es schriftlich. Er, der Neue, hat mir das Fahrgeld gestrichen. Sagen sie mal, kann der so Dinge, die der alte Direktor vereinbart hat, einfach so streichen."

    Auf seine aufgeregten Fragen wusste ich in dem Moment keine geeignete Antwort und ich glaube, er hatte auch gar keine erwartet. Also blieb ich erst einmal stumm.

    Hier muss ich aber einflechten, dass meine Beihilfe ja jeden Tag mit seinem alten Käfer etwa sechzig Kilometer für eine Strecke Fahrt machen musste, um an den Arbeitsplatz zu kommen. Eine gehörige Entfernung für die beiden Veteranen und das auch im Winter bei Schnee und Glatteis. Bei einer passenden Gelegenheit, im eisigen Winter mit jede Menge Schnee auf den Straßen, teilte er mir mit, dass der Kauf von Winterreifen für ihn gar nicht in Frage kommt. Er hatte mit dieser Unterlassung, so lange ich ihn kannte, auch immer Glück. Ich hatte es wohl geahnt, aber nicht genau gewusst, dass er überhaupt für seine Fahrten Fahrgeld bekam. Nun sah ich mir sein gerade erhaltenes Schreiben genauer an und konnte feststellen, dass nur ein kleiner Teil davon gestrichen war. Der größere Teil war ihm verblieben.

    Aber für Ahlborn war dieser Tag erst einmal gelaufen, er war nicht mehr ansprechbar und hatte eine Laune, die jede weitere Unterhaltung ausschloss. So ging dieser Tag, es war der dritte oder vierte Tag nach dem Machtantritt des neuen Direktors, zu Ende. Der Gedanke an das Geschick meiner Beihilfe verließ mich auch am folgenden Abend nicht und so hatte ich am nächsten Tag, nach intensiver Überlegung am Vorabend, eine Idee und konnte kaum abwarten, sie ihm mitzuteilen.

    Ahlborn betrat das Büro, setzte sich nach einer kurzen Begrüßung auf seinen Platz und griff zur Rechenmaschine. Sein Gesicht war ernst und verschlossen, den vorgefallenen Dingen des gestrigen Tages angepasst.

    „Guten Morgen Herr Ahlborn, ich hab da eine Idee."

    Nur widerwillig wendet er sich mir zu. Eigentlich ein klares Zeichen, dass er von mir nichts Besonderes erwartete.

    „Der Verlust, den der Neue ihnen zugefügt hat, den gleiche ich wieder aus. Sie schreiben auf ihren Stundenzettel jetzt jeden Tag eine Stunde mehr als sie hier sind und alles ist wieder so wie vorher. Ich unterschreibe."

    „Wollen sie das wirklich tun. Bekommen Sie auch keinen Ärger? Ahlborn war nun interessiert und wandte sich mir mit etwas freundlicherem Gesicht zu. „Nein, Ärger krieg ich nicht und wenn, dann werde ich damit schon fertig.

    Immer zum Wochenende unterschrieb ich seinen Wochenzettel mit den geleisteten Stunden, nach denen er dann auch bezahlt wurde. Meine Beihilfe machte ein zufriedenes Gesicht und es sah so aus, als wäre der Frieden wieder hergestellt.

    Es waren vielleicht drei Wochen vergangen, Ahlborn saß mir gegenüber und ich merkte ihm an, dass irgendetwas nicht seinen Vorstellungen entsprach.

    Ich sprach ihn an: „Ist irgendetwas los, gibt es zu Hause Ärger?"

    „Nein, da nicht. Aber ich will ihnen mal etwas sagen: Der Neue ist doch ein Lump. Streicht der mir doch das Fahrgeld. Ob der vielleicht nicht weiß, wie viele Kilometer ich jeden Tag zu fahren habe? Und meine Karre fährt ja nicht nur mit Benzin. Da sind auch noch andere Kosten. Eine Schweinerei ist das. Und dafür macht man sich krumm."

    Mit diesen Worten verließ er seinen Platz an der Rechenmaschine und war aus unserem Raum verschwunden. Die Tür schlug mit Schwung hinter ihm zu und ich war allein. Etwas ungläubig, ja erstaunt und verwundert, sah ich ihm hinterher. Mir fiel mein gemachter Vorschlag wieder ein und damit auch die Tatsache, dass er ja bereits schon einige Mal den versprochenen Stundenzuschlag bekommen hatte. Was sollte das also eben. Das konnte dieser sonst mit einem phänomenalen Gedächtnis ausgestatte Mann doch nicht vergessen haben. Außerdem mischte sich bei mir leichter Ärger ein. Der sollte was von mir zu hören bekommen, dachte ich mir. Nach einer geraumen Zeit war meine Beihilfe wieder an seinen Platz.

    „Sagen Sie mal, sprudelte es aus mir, im gar nicht mehr kameradschaftlichen Ton heraus, „mein lieber Herr Ahlborn, hatte ich ihnen nicht die Stunde extra für den Abzug zugesagt und sie haben sie auch bekommen. Ich verstehe Ihre Aufregung nicht.

    „Naja, habe ich ja auch. Aber es ist doch trotzdem eine Sauerei von dem Kerl. Und das will nun der neue Chef sein. Der bringt es noch soweit und gibt der Firma einen anderen Namen." Damit war unser Gespräch über dieses Thema erledigt. So glaubte ich.

    Es waren gerade vielleicht zwei Wochen vergangen, als meine Beihilfe dieses Thema erneut über den Schreibtisch zu mir herüberschickte. Es war so, als wenn er gar keinen anderen Gedanken fassen konnte. Ob es an meiner Laune lag, oder weil dieses Thema mir sowieso auf die Nerven ging, weiß ich nicht zu sagen, denn die Entlassungswelle rollte noch immer, wenn auch etwas langsamer, und keiner saß so fest im Firmensattel, dass er von den Aktivitäten des neuen Direktors unberührt bleiben konnte. Einige scharfe Worte, kamen als Retoure zu ihm zurück und es begann eine lange, schweigende Ruhepause über den gemeinsamen Schreibtisch hinweg.

    Meine Zeit der Bürotätigkeit näherte sich seinem Ende. Alle Arbeiten waren getan, die zu erteilenden Aufträge vergeben und meine Anwesenheit wurde nun an anderer Stelle erforderlich. Meine Beihilfe sah sich im Büro schon nach dem Ersatz für mich um, den er unbedingt finden musste, um auch mit meinem Nachfolger die Extrastundenbezahlung auszuhandeln. Aber noch war ich da und gerade die letzten Tage sollten, so war es von mir geplant, als angenehme Zeit in der Erinnerung bleiben. Ich konnte mir gut vorstellen, dass ich bei meinem neuen Einzug ins Büro, vielleicht in einem Jahr, Ahlborn nicht mehr vorfinden würde.

    Wir saßen uns gegenüber, ich sah auf seine Lederhand, die vor mir auf dem Schreibtisch lag, und mir fiel ein, dass ich ihn noch nie nach der direkten Ursache des Verlustes seiner linken Hand gefragt hatte. Dass der Krieg daran schuldig war, stand ja außer Zweifel, er deutete es vor langer Zeit schon an, aber etwas Genaueres wollte ich schon wissen. Meine vielleicht etwas übersteigerte Fantasie ging zu Nahkämpfen im Schützengraben oder ganz besonderen Einsätzen, wo er dann mit einer Hand, die abgeschlagene in der Tasche, weitergekämpft hatte. So selbstsicher und energisch wie meine Beihilfe sich gab, hätte man das auch von ihm verlangen können. Ich befragte ihn.

    „Ja, ich will ihnen das erzählen."

    Er stand auf und schloss die Bürotür, die immer einen Spalt zur Beobachtung der Vorgänge auf dem Flur offenstand, setzte sich wieder und nachdem er sich einen Becher Kaffee aus seiner Thermoskanne eingeschenkt, sich im Bürostuhl zurückgelehnt hatte und erinnerungsschwer zur Zimmerdecke blickte, begann er mit seiner Erzählung.

    „In dieser Firma, in der ich jetzt als Rentner als Hilfskraft tätig bin, war ich ja auch schon vor und während des Krieges eingestellt. Aber in ganz anderer Funktion. Ich bin Bauingenieur, genau wie sie. Wir bauten Bunker

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