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Ivans Reise: Roman
Ivans Reise: Roman
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eBook413 Seiten6 Stunden

Ivans Reise: Roman

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Über dieses E-Book

Wohl erstmals in der neueren Literatur beschäftigt sich ein deutscher Autor mit den Erlebnissen eines im Zweiten Weltkrieg aus Russland nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiters. Der Autor (Jahrgang 1938) beschreibt eine fast wahre Lebensgeschichte in einem spannenden, nicht loslassenden Roman. Der 16-jährige Ivan erfährt die deutsche Besetzung 1941, kommt durch seine ehemaligen Schulkamera-den schnell mit Partisanengruppen in Berührung und erlebt auf seiner Reise als Zwangsarbeiter durch halb Europa, von Kursk über Mitteldeutschland bis in eine deutsche Großstadt den Krieg auf seine Weise. Seine erste Liebe kommt bei einem Überfall ums Leben, die keimende Zuneigung zu einer Bäuerin, deren Mann in Stalingrad kämpft, wird von der Abberufung zu seinem Arbeitseinsatz in eine Munitionsfabrik erstickt. Nach Ende des Krieges bleibt Ivan in Deutschland, geht eine lustvolle Beziehung ein, scheitert aber damit - der kulturelle Gegensatz und das Heimweh sind zu groß. Seit seiner Zwangsrekrutierung begleitet ihn ein Papier, das ihm die deutscherseits amtlich bestätigte Rückkehr nach Hause, in sein Dorf, verheißt. Wird der Traum der Rückreise wahr? Intensiv, detailgenau und ohne Brutalität schildert der Autor die Lebensgeschichte eines einzelnen Zwangsarbeiters und setzt ihm damit ein literarisches Denkmal - stellvertretend für viele Leidensgenossen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum13. Juni 2018
ISBN9783752801262
Ivans Reise: Roman
Autor

Rolf Alldag

Der Autor Rolf Alldag wurde 1938 in Hannover geboren. Der Vater, von Beruf Metallarbeiter, ist in den letzten Kriegstagen bei Kampfeinsätzen in Schlesien als vermisst gemeldet und die Mutter musste ab 1944 allein für das Wohl der Familie sorgen. Nach der Schulentlassung 1953 beginnt Rolf Alldag eine landwirtschaftliche Lehre in einem kleinen Ort am Deister bei Hannover, danach ist er in einem Kohlenbergwerk im Ruhrgebiet tätig. Von 1958 bis 1966 arbeitet er als Bauarbeiter in der Baubranche. Nach dem Studium der Bautechnik arbeitet er ab 1972 in leitender Position in einem internationalen Baukonzern. 1959 heiratet er und hat zwei Söhne und eine Tochter. Seit 2004 ist er Pensionär und lebt in Niedersachsen. All diese Lebensabschnitte und die Personen, welche eine kleine oder große Rolle in seinem Leben spielten, inspirierten ihn zu seinem Buch "Der Zocker, die Rote Hilde und andere Erzählungen", das Buch "Ein Fall für Drei - Erzählungen" ist nun der Folgeband. Seit 2002 veröffentlichte Rolf Alldag Jagdbeiträge in verschiedenen Zeitschriften. Im Jahr 2009 brachte er sein erstes Buch "Das Hochzeitsfoto von 1906" - Lebenswege einer Familie aus Niedersachsen heraus. Mit seiner Liebe zur Natur beschäftigt sich auch sein 2010 erschienenes Buch "Luise und andere Jagdgeschichten". Danach folgten weitere: 2011 "Arntedanz" - eine Sammlung von Gedichten des Heidedichters Bernhard Alldag, 2013 "Die Strasse" - Eine niedersächsische Geschichte mit teils biografischem Inhalt, 2014 "Ivans Reise" - ein Roman, der in einem kleine Dorf in Russland beginnt und in Nachkriegsdeutschland endet, 2015 "Der Zocker, die Rote Hilde und andere Erzählungen" und 2016 "Ein Fall für Drei - Erzählungen".

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    Buchvorschau

    Ivans Reise - Rolf Alldag

    Kapitel

    1. Kapitel

    An der Grenze Russlands zur Ukraine liegt das kleine, etwa 300 Einwohner zählende, unbedeutende Dorf Schewerniwo, zwanzig Kilometer von der großen Stadt Kursk entfernt. In einem Holzhaus, ganz am Ende des Dorfes, lebt die Familie Skorochodow. Ivan, der jüngste Sohn der Familie, erwacht in seiner Kammer, als das trübe Morgenlicht durch das über seinem Bett liegende Fenster scheint. Im Haus, gleich neben der Kammer, herrscht schon geschäftiges Treiben. Er hört die Geräusche aus dem Nachbarraum und weiß, dass die Mutter dort mit ihren täglichen Arbeiten bereits begonnen hat. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, bleibt er noch verschlafen und sinnend auf dem Bett liegen.

    In der vergangenen Nacht hat es im Dorf zum ersten Mal in diesem beginnenden Winter geschneit. Es war noch kein landesüblicher, starker, dichter Schneefall, doch damit hat sich der kommende erste Kriegswinter 1941 in diesem Teil Russlands angekündigt. Mit dem Winter wird nun eine Zeit kommen, die so schwer auf die noch ahnungslosen Bewohner lasten wird, wie es sich noch niemand in den niedrigen, kleinen Holzhäusern an diesem trüben Tag vorstellen kann. Die wenigen Fahrzeuge, wenn es in diesen Zeiten im Dorf überhaupt noch welche gibt, werden tiefe Furchen in den noch nicht festgefrorenen Boden der unbefestigten Dorfstraße ziehen. Die kurze Übergangszeit, zwischen dem Ende des Herbstes und dem Beginn des Winters, ist die alljährlich wiederkehrende Schlammperiode. Bis auf die befestigte Hauptstraße, die am Rand des Dorfes verläuft, sind die Wege und Nebenstraßen in dieser Zeit für schwere Fahrzeuge unpassierbar. Der Schlamm ist so zäh, dass Räder und Füße nur schwer wieder aus der scheinbar grundlosen Masse zu befreien sind.

    Die Dorfbewohner sind an diese Verhältnisse seit undenklichen Zeiten gewöhnt und so bedeutet die Periode für sie kein besonderes Problem. Der wenige Verkehr in dem kleinen Dorf, im Oblast Kursk, unmittelbar bei der großen Stadt, ist nun völlig eingestellt. Schneefall Ende Oktober ist nicht ungewöhnlich, in manchen Jahren fällt er bereits am Monatsanfang, manchmal sogar noch früher.

    Die noch dünne Schneedecke liegt auf der einzigen, nun schlammigen Dorfstraße, den wenigen kahlen Bäumen und Sträuchern und in den Vorgärten der Holzhäuser, die erhöht links und rechts die Straße säumen. Von den Häusern führen in die Erde gegrabene Stufen zur Dorfstraße hinab. Auf den blanken, geneigten Blechdächern der Häuser ist der Schnee teilweise schon wieder getaut, das Wasser tropft herunter und so glänzen die Bleche wie frisch gewaschen. Nur auf einigen anderen, rostigen Blechdächern liegt noch der Schnee und taut langsam. Wo die hölzernen Läden schon geöffnet sind, blinkt das Licht des aufgehenden Tages in die blankgeputzten Glasscheiben der Fenster.

    Alles liegt noch friedlich da, doch das Jahr, wie es gerade abzulaufen beginnt, wird nicht nur den Bewohnern von Schewerniwo viel Grauen und Elend für die Zukunft bringen. An der einen Straßenseite stehen in regelmäßigem Abstand windschiefe Holzmasten in einer langen Reihe. Sie führen zwei tief durchhängende Stromleitungen und ein Telefonkabel, die bis zur entfernten Stadt reichen. Die Leitungen versorgen das Dorf und die zum Dorf gehörende Kolchose mit Elektrizität sowie den nun nicht mehr residierenden Dorfsowjet mit Nachrichten aus der Stadt am Telefon. Krähen haben sich auf die Mastspitzen gesetzt und schicken ihren krächzenden Ruf über das noch ruhende Land. Ab und zu erheben sich einzelne von ihnen und fliegen mit schwerem Flügelschlag über das Dorf. Ihr schwarzes Gefieder glänzt im ersten Tageslicht. Über den Dächern, aus den Schornsteinen der Häuser, stehen kerzengerade weiße Rauchfahnen in der windstillen Luft und kündigen an, dass die Bewohner der Häuser sich auf den neuen Tag vorbereiten.

    Das Haus der Familie Skorochodow – Ivans Familie - liegt ganz am Ende einer Reihe von kleinen, massiven Holzhäuser mit bunt bemalten Fensterläden und reich geschnitzten Giebeln und ist, wie auch die anderen Häuser, mit einem Holzzaun umgeben. Hier am letzten Haus macht die Straße einen scharfen Bogen in westliche Richtung und führt nun dicht am trübe dahin fließenden Seim entlang. Dieser lässt seine schweren, dunklen Wassermassen nach Westen rauschen, vereinigt sich schließlich mit der Desna, um dann mit dem Dnjepr auf verschlungenen Wegen nach vielen tausend Kilometern das Schwarze Meer zu erreichen. Wie die meisten Flüsse in Russland, ist auch ein Ufer der Desna als Steilufer ausgebildet, es ist das dem Dorf gegenüberliegende. Das Ufer am Dorfrand ist flach und mit Buschwerk bewachsen.

    Die tiefe Ufereinbuchtung in der Mitte des Dorfes, sowie ein Streifen heller Sand zwischen Wiesen und dem Wasser sind in den Sommermonaten der Ort für reges Leben. Kinder badeten, besonders gute Schwimmer wagen sich bis in die Flussmitte auf die darin befindlichen Inseln, und die Frauen des Dorfes waschen unter Austausch des Dorfklatsches hier ihre Wäsche. Zum Trocknen liegt das Leinenzeug dann im Sonnenschein ausgebreitet auf den Wiesen. Bedingt durch die jahreszeitliche Witterung und durch die Umweltverschmutzung im Fluss, liegt nun alles leer und verlassen im trüben Licht des neuen Tages.

    Vor den Traktoren, vor der Zeit der Technik in der Landwirtschaft, so können sich die Alten im Dorf noch gut erinnern, wurden hier die Pferde und Rinder der Dorfbewohner zur Tränke geführt. Auch der Fischfang spielte auf der Seim früher im Wirtschaftsleben des Dorfes eine wichtige Rolle. Es gab Fischer, die vom Fang mit ihrer Familie davon leben konnten. In den letzten Jahren, mit dem Aufbau der Industrialisierung im Land, ist dieser Erwerbszweig jedoch völlig zum Erliegen gekommen. Das Wasser ist vom Oberlauf her, durch eine neu erbaute Chemiefabrik, stark verschmutzt, sogar das sommerliche Baden im Fluss birgt nun Gefahren. Der Dorfsowjet wiegelt diese zwar ab, aber rote, stark juckende Flecken auf der Haut der Badenden, beweisen das Vorhandensein giftiger Stoffe im Wasser.

    Der einmal im Monat im Dorf erscheinende Arzt aus der Hauptstadt findet für die Hautrötungen eine plausible Erklärung: „Mit dem Wasser der Seim hat das nichts zu tun und mit der neuen Chemiefabrik erst recht nicht, ihr solltet euch sauberer halten", so wiegelt er ab. Er hält seine Sprechstunde in einem gesonderten Raum der Kolchose und kann sich über mangelnden Besuch nicht beklagen. Schwere Fälle überweist er umgehend in die Stadt, doch sind diese äußerst selten. Es sei denn, ein Unfall ist passiert. Man kuriert sich, wo es geht, selbst.

    Trotz des ersten Schneefalls ist der Seim mit seinen, zum Dorf hin, flachen Uferkanten noch eisfrei. In wenigen Wochen, vielleicht sogar in wenigen Tagen, wird er mit einer erst dünnen, dann immer dickeren Eisschicht bedeckt sein, die der Strom im späten Frühjahr des nächsten Jahres wieder verliert, um sich dann, in der Zeit der Schneeschmelze, in fasst doppelter Breite, bis an die ersten Häuser des Dorfes heranzuwagen. Nach seinem Rückzug in sein gewohntes Bett hinterlässt er eine Schlammschicht, auf der das Gras dann besonders saftig wächst. In der weiten Ebene, die über eine leichte Anhöhe links vom Dorf am Horizont verläuft, biegt die unbefestigte Dorfstraße nach einigen hundert Metern mit einen scharfen Knick in die befestigte Hauptstraße ein. In gerader Linie führt sie dann zwanzig Kilometer weit zur nächstliegenden Stadt. Zwischen der Stadt und dem Dorf liegen keine weitere Ansiedlung, nur Ackerland und ein dunkler Wald, in weiter Ferne.

    Der hohe Holzzaun, mit einer schief hängenden Eingangstür aus verwitterten Brettern, der das Anwesen der Familie Skorochodow zur Straße hin umgibt, bietet so viel Abstand zum Haus, dass im Hof noch einige Holzverschläge und ein kleines, vom Alter schiefes Badehaus seinen Platz finden. Auf dem kümmerlich grasbewachsenen Hof scharren einige Hühner, es sind wohl noch sieben Stück, missmutig in den von Schnee freien Stellen nach Futter: nur so aus Gewohnheit. Zu finden ist da nichts. Die wenigen Eier aus dieser Schar sind aber ein wichtiger Bestandteil im Haushalt der Familie und manchmal auch Tauschobjekt mit den Nachbarn. Ein aufgeplusterter, feuerroter Hahn mit langen Schwanzfedern steht stolz auf einem umgekippten Holzkübel und beäugt aufmerksam die Umgebung sowie seine verbliebene Hühnerschar, die in Kürze bestimmt vollständig im Kochtopf landen wird. Ab und zu lehnt er den Kopf zurück, um dann mit einem lauten Kikeriki den neuen Tag anzukündigen. Aber auch seine Tage sind gezählt.

    Hinter dem Haus, von der Straße nicht einsehbar, liegt ein leicht verwilderter Hausgarten mit angelegten Beeten, für nun schon längst geerntete Kartoffeln, Zwiebeln und Sonnenblumen. Außerdem gibt es einige Obstbäume, die nun ihre dürren, blätterlosen Zweige zum grauen, verhangenen Himmel strecken. Ganz am Rand des Grundstücks stehen, winterfest gemacht, auf vier runden Holzstützen, einem Bretterbelag und durch ein Dach geschützt, fünf Bienenkörbe. Die Bienenhaltung und somit die Honiggewinnung sind eine liebgewordene Beschäftigung des Großvaters der Familie. Erst vor wenigen Tagen hat der Alte aus zusammengesuchten Brettern das Dach über die Stände gebaut. Das, in den Gärten der Hausbewohner geerntete Gemüse und Obst dienen nicht nur zur Eigenversorgung, sie sind auch, wie die Hühnereier ein beliebtes Tauschmittel im Dorf. So gehen Tomaten gegen Kartoffeln und Sonnenblumenkerne gegen Kohlköpfe von einem Haus ins andere. Für einen Verkauf in der Stadt ist die Entfernung zu groß und der Ertrag zu gering. Sicher könnten die im Dorf erzeugten Lebensmittel auf dem Markt einen günstigen Preis erzielen, aber unter den gegebenen Umständen ist die Stadt, trotz der wenigen Kilometer, genauso weit entfernt wie der Mond.

    Aber, die Straße selbst: Mit der Gründung der Kolchose, die vom Dorfsowjet einen klang- und kraftvollen Namen bekam, sollte dies auch mit der einzigen Straße im Ort geschehen. Man überlegte und hatte, ganz der Zeit entsprechend, auch eine politische Figur in Betracht gezogen, aber es blieb beim Überlegen. So heißt die einzige Straße im Dorf eben immer noch: „Die Straße."

    Ohne weitere Abgrenzung beginnt hinter dem Garten der Familie Skorochodow das Ackerland der Kolchose, auf dem noch die Stoppeln der diesjährigen Ernte stehen. Obwohl im Westen schon der Krieg tobte, wurde die Ernte im Sommer noch eingefahren. Zwischen den Stoppeln liegen jetzt Schneereste in den tiefen Mulden. Das Ackerland dehnt sich bis zum Horizont und endet in einem dunklen Streifen, der sich beim Näherkommen, wie eine dunkle Wand, als dichter, jetzt aber kahler Laubwald mit riesigen, alten Bäumen erweist. Seine Umrisse zeichnen sich deutlich und klar vom heller werdenden Horizont ab. Früher, noch zur Zarenzeit, reichte der Wald bis dicht an das Dorf heran. Dann benötigte die neu gegründete Kolchose Ackerland für die vorgegebene Planerfüllung. Riesige Maschinen und viele Arbeitskräfte sorgten dafür, dass der Waldrand nun in weite Ferne entrückt ist.

    Auf dem freien Feld außerhalb des Dorfes liegen die Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäude der Kolchose „Roter Oktober. Hier ist der Arbeitsplatz für die männlichen und zum Teil auch weiblichen Dorfbewohner von Schewerniwo. Um den Namen der Kolchose wurde im Dorf lange gerungen: „Josef Stalin, „Roter Kampf oder „Wladimir Lenin standen auf der Namenliste. Doch dann blieb es beim „Roter Oktober".

    Dem Dorf wollte man, gleich nach der Revolution, ebenfalls wie vor dem der Straße, einen schwungvolleren Namen geben. Es scheiterte aber ebenfalls am sturen, uneinsichtigen Widerstand der Bewohner.

    Im Gebäude der Kolchosverwaltung, etwas außerhalb des Dorfes, ein stattliches Gebäude, mehr ein kleines Schloss, lebte vor der Revolution im Seitenflügel der großspurige Gutsverwalter. Der adelige Besitzer der Ländereien verbrachte jedoch seine Lebenszeit irgendwo im sonnigen Süden Frankreichs oder in den Spielkasinos Europas. Doch das sind längst vergangene Zeiten.

    Zwei Monaten nach Kriegsbeginn, gleich nach der Ernte, hat die Kolchose ihren Betrieb eingestellt. Die breiten Tore zu den nun leeren Ställen und Maschinenhallen stehen weit offen, die kalte, nasse Luft weht durch die Gebäude und von den Maschinen und Geräten stehen nur noch die im Gelände, an denen Teile fehlen, oder jene, die mutwillig beim Rückzug der russischen Armeeeinheiten zerstört worden waren. Das Vieh wurde fortgetrieben, in östlicher Richtung. Wohin genau, wurde den Dorfbewohnern nicht mitgeteilt. Die Taktik dahinter: Den deutschen Okkupanten darf nichts Brauchbares in die Hände fallen.

    Nun liegt alles verwaist im trüben Licht des neuen Tages. Ein LKW kam aus Kursk, kam an einem frühen Morgen und lud die Büromöbel sowie den persönlichen Hausrat des Leiters der Kolchose auf. Ohne noch einmal auf sein kleines Reich zurückzublicken, verschwand er mit seiner Familie und den durchziehenden Truppen in Richtung Osten.

    Die Arbeiter, soweit im geeigneten Alter und einige sogar darüber hinaus, sind zum Militär eingezogen worden. Andere nicht mobilisierte, jedoch wehrfähige Männer waren plötzlich spurlos verschwunden. Man spricht im Dorf nicht über die Verschwundenen. Aber, sie sollen sich in den nahen Wäldern und Sümpfen westlich von Kursk versteckt halten. Es ist ungewiss, ob sie der Einziehung in die abrückende Rote Armee entgehen wollten, oder dem befürchteten, bevorstehenden Einmarsch der Deutschen in dieses Gebiet. Zusammen mit versprengten Rotarmisten und entlaufenen Kriegsgefangenen bilden sie jetzt die ersten Partisaneneinheiten, sammeln sich zu Kampfgruppen und werden zu einer ernsten Gefahr für die deutschen Nachschubtransporte. Handfeuerwaffen, Munition und Ausrüstungsgegenstände stehen den Partisanen durch den fluchtartigen Rückzug der regulären Armeeeinheiten reichlich zur Verfügung. Jedoch ist noch alles unkoordiniert. Das soll sich jedoch bald ändern.

    Jetzt, zum Beginn der winterlichen Jahreszeit, steht es für die, als Partisanen kämpfenden Männer und wenigen Frauen in den Wäldern und Sümpfen jedoch schlecht. Alles geschah ohne Vorwarnung. So blieb ihnen keine Zeit, um Vorratslager anzulegen und winterfeste Unterkünfte einzurichten. Sie leben in der Wildnis unter erbärmlichen Umständen, hoffen aber auf baldige Unterstützung aus Moskau und auf die Hilfe der Bewohner der umliegenden Dörfer. In der ersten Zeit des Krieges kam Hilfe aus Moskau noch zögerlich, dann aber, als die Okkupanten ihr wahres Gesicht zeigten, lief sie bedeutend schneller und effektiver.

    Gleich neben dem Verwaltungsgebäude der Kolchose steht angelehnt ein niedriger, unverputzter Backsteinbau. Es war der Einkaufsladen für den kleinen Ort und gleichzeitig die Kantine für die Arbeiter auf der Kolchose. Auch der liegt jetzt verlassen da. Mangels Versorgungsgüter ist er geschlossen, so stand es auf einem handgeschriebenen Pappzettel, der an der Tür klebte. Die einstige Verwalterin des Ladens hat sich in ihr Holzhaus im Dorf zurückgezogen. Da sie gut mit Nachrichten über die Lage im Land versorgt war, hat die flinke, kleine Person über Nacht die wenigen noch vorhandenen Lebensmittel in ihr Haus geschleppt. Dort hortet sie nun die restlichen Bestände, soweit sie nicht vergammeln. Eine Obrigkeit, die solches Treiben überwachen und verhindern kann, gibt es zum Bedauern der Dorfbewohner nicht mehr.

    Der kleine Laden mit seinen wenigen Beständen und die daran anschließende Kantine waren das Kommunikationszentrum des Dorfes. Man traf sich dort und Neuigkeiten wurden ausgetauscht, sofern es welche gab. Manchmal lag dort sogar eine Zeitung aus der Stadt, meist schon viele Tage alt, aber dem dörflichen Leser immer noch aktuell genug. Dieser Mittelpunkt fehlt nun.

    Der gerade 16-jährige Ivan hat sich aus seinem Bett erhoben und kommt aus dem kleinen Verschlag, der ihm zum Schlafen dient. Das kleine Fenster erhellt nun den Raum völlig, indem neben Ivans Bett sich noch die Schlafstelle seines Bruders befindet. Daneben ein grober Tisch und zwei Stühle. Auf dem Tisch liegen einige zerlesene Hefte und ein Buch aus der Kolchosbücherei, dass nicht mehr zurückgegeben werden braucht, die Bücherei existiert nicht mehr, die Bücher werden als Feuermaterial Verwendung finden. Das Bett neben ihm ist leer und unbenutzt. Es ist das Lager seines zwei Jahre älteren Bruders Stefan, der mit dem Vater nicht mehr im Hause weilt.

    Eine Zeitlang hatte Ivan noch mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Lager gelegen und den Geräuschen der Mutter in dem Nebenraum und dem Plätschern des vom Dach herabfallenden Tauwassers gelauscht. Dabei hat er zur niedrigen Holzdecke geschaut, die er stehend ohne weiteres mit der Hand erreichen kann und überlegt, was er an diesem Tag zu erledigen hat. Er fühlt, dass eine Spannung in der Luft liegt, kann sie sich aber nicht erklären. Es ist wie eine Beklemmung, die einfach vorhanden ist, für die es aber zu dieser frühen Stunde noch keine Erklärung gibt. Etwas Besonderes kommt bei seinen Überlegungen nicht heraus. So erhebt er sich und schlurft in seinen ausgetretenen Latschen aus seinem Verschlag zum Waschtrog in den Küchenbereich, an dem die Mutter schon einige Zeit mit dem Geschirr hantiert.

    Mit warmer Freude sieht Irina, seine Mutter, ihrem jüngsten Sohn entgegen, der in seiner beginnenden Männlichkeit, unverkennbar ihre Gesichtszüge trägt. Es sind keine weiblichen Züge welche die Ähnlichkeit mit der Mutter hervorheben. Es ist eine Ähnlichkeit, die man nicht beschreiben kann, aber augenfällig vorhanden ist. Ivan ist nicht der einzige Sohn, aber der absolute Liebling der Mutter. Seine Mutter ist ausgestattet mit den Charakterzügen und den Stärken aller russischen Mütter und Frauen in schweren Zeiten, die es gewohnt sind Arbeiten, Lasten, Leiden und Verantwortung auf sich zu nehmen. Frauen, die dabei nicht zerbrechen, sondern mit ihren Aufgaben immer stärker werden.

    Der unselige Krieg ist für die Bewohner des Landes völlig überraschend in der Mitte des Jahres ausgebrochen. Erst als er schon einige Zeit im fernen Westen tobte, hat man hier im Dorf davon erfahren. Das Unheil hat den Verlust der Hälfte der Familie gebracht. Die Energie und Lebenskraft von Ivans Mutter und auch der anderen Mütter im Dorf jedoch nicht geschwächt, sondern hat sie gestärkt.

    Die Statur der Mutter ist kräftig und von Arbeit geprägt, wenn sie nun auch schon in die sogenannten „Jahre" gekommen ist. Ihr hellblondes Haar ist glatt, streng hinten zu einem Knoten zusammengebunden und nur im Ansatz zu sehen. Ein weißes Kopftuch bedeckt die Haare. Im Gesicht, um die grauen, klarblickenden Augen, zeichnet ein Kranz kleiner Falten ihr Gesicht und gibt ihm ein herbes, aber anziehendes Aussehen. Die dichten, im Gegensatz zu den blonden Haaren, dunklen Augenbrauen und der herbe Mund mit den prachtvollen, weißen Zähnen vervollständigen das Bild. Die sengende Sonne des russischen Sommers und die eisige Kälte des Winters haben Spuren hinterlassen, die jedoch ihrem Alter nicht entsprechen. Es ist zu erkennen, dass dieses Gesicht den wechselnden Jahreszeiten ausgesetzt ist.

    Ivans Vater Alex und der ältere Bruder Stefan sind in den Krieg gegen die Deutschen gezogen. Das war vor etwa vier Wochen. Eine Nachricht rief sie nach Kursk. Dort absolvierten sie eine viel zu kurze Ausbildung. Eine längere Ausbildung wäre für einen Kampfeinsatz gegen die kriegserfahrenen Deutschen sicher von Nutzen gewesen, doch die Zeit reichte dafür nicht aus. Es gibt von den beiden bisher kein Lebenszeichen. Beunruhigend ist dies in dieser nachrichtenlosen Zeit jedoch nicht. Alle wehrdienstfähigen Männer sind im Krieg, oder bei den Partisanen in den Wäldern und Sümpfen.

    Die Mutter hat nun das Geschirr weggeräumt und zur Seite schauend, sagt sie im gutmütigen Ton: „Na, du Faulpelz, hast du es geschafft, aus den Federn zu kommen?"

    Ein leichtes Lächeln verschönt dabei ihr sonst so ernstes Gesicht.

    Ivan streckt sich, brummelt etwas leise einen Morgengruß vor sich hin und zieht weitere Kleidungsstücke an, die er aus seinem Verschlag, über den Arm tragend, mitgebracht hat. Sein dunkelblondes Haar hängt ihm über die Stirn, der Hinterkopf ist kahlgeschoren und er hat die untersetzte, kräftige Gestalt, die allen Skorochodows zu Eigen ist.

    Ivan drängt sich an der Mutter vorbei in den Vorraum.

    „Was ist, soll ich Wasser holen oder ist noch genügend vorhanden?" Ohne eine Antwort der Mutter abzuwarten, schlüpft er aus den Latschen in seine an der Tür zum Trocknen abgestellten Filzstiefel, nimmt den Wassereimer und macht sich auf den Weg zum Brunnen, den sich seine Familie mit dem nächsten Nachbarn teilt. Seine Stiefel hinterlassen tiefe Abdrücke im Schnee und aufgeweichten Boden des Hofes. Der Hahn flattert vor Schreck, über den plötzlichen Hofbesucher, von seinem erhöhten Standort auf. Am Brunnen angekommen, an der Grenze zum Nachbargrundstück, bleibt Ivan einen Moment lang lauschend stehen.

    Schon seit einigen Tagen ist aus der Ferne dumpfes Grollen von Geschützen zu hören. Mit jedem Tag und jeder Nacht kommt es etwas näher. Die Luft vibriert, wie von einem fernen Gewitter. Flugzeuge, vordem nie in dieser Gegend am Himmel gesehen, überfliegen in unregelmäßigen Zeiträumen von West nach Ost das Dorf. Es ist wegen der Flughöhe aber nicht zu erkennen, welcher Nation sie angehören.

    Ivan lässt den Eimer über ein am Seil über ein knarrendes Holzrad herunter, zieht ihn voll mit glasklaren, eiskalten Wasser wieder nach oben und geht vorsichtig, ohne etwas zu verschütten, ins Haus zurück.

    Hinter dem großen, gemauerten Ofen, der die gesamte Mitte des größten Raumes im Haus einnimmt, hört man es husten und räuspern. Eine grobe Decke wird auf dem Ofen zur Seite geworfen und der Großvater der Familie, Mitka, der Vater von Ivans Vater, steht in Unterhose, verblichenem Hemd und dicken Socken an den Füßen, im Raum. Ein beeindruckendes Bild. Seine kräftige, immer noch imposante Gestalt dehnt sich und er macht einige Bewegungen, um die vom Schlaf und Liegen steif gewordenen Arme und Beine wieder gelenkig zu bekommen.

    Sein zotteliger, am frühen Morgen noch etwas ungepflegter Bart, der die untere Gesichtshälfte bedeckt, ist bereits mit ergrauten Streifen durchzogen. Das Haar hat das rötliche Blond noch weitgehend behalten, wallt lose auf seinen markanten Kopf und fällt ihm von der Stirn bis in die Augen. Trotz seiner schon über 70 Jahre kann seine Statur noch als ziemlich stattlich betrachtet werden. Die Jahre des Alterns haben an seiner Größe nicht viel verändert. Geht er durch eine der wenigen Türen im Haus, muss er immer noch den Kopf einziehen, die Hauserbauer dieser Familie müssen wohl vor vielen Generationen bedeutend kleiner gewesen sein. Das Haus ist aber solide und fest, für viele Generationen gebaut. Die Außenwände sind aus uralten Holzbalken gefügt. Innen stehen feste Mauern und auch einige aus Lehm- und Weidengeflecht, in deren Mitte die Mäuse ungestört auf und ab laufen.

    Bis zur Schließung der Kolchose vor einigen Monaten hatten dort sein Sohn sowie seine Enkel Stefan und Ivan ihre Arbeitsplätze. Eigentlich lebte das ganze Dorf von der Arbeit auf der Kolchose. Eine andere Verdienst- und Arbeitsmöglichkeit gab es im weiten Umkreis, bis zur großen Stadt hin, nicht. Auch als der Großvater schon Rentner war, wollte und vor allem konnte der Kolchose Leiter nicht auf dessen Wissen über Traktormotore und landwirtschaftliche Geräte verzichten und so arbeitete der Großvater auch im Alter noch nach Lust und Laune weiter. Seine geringe Rente und der zusätzliche Verdienst flossen in den Haushalt der Familie.

    Aber nicht nur die Zahlungen von staatlicher Seite sind nun eingestellt, auch sämtliche Arbeiten auf der Kolchose. Alle im Dorf, und so wird es im gesamten westlichen Teil Russlands sein, leben von dem, was im Haus vorhanden ist. Eine Entschädigung oder einen Ausgleich hat keiner der Dorfbewohner bei der Schließung und auch danach erhalten; war die Kolchose doch ihr, von allen Dorfbewohnern zusammengelegtes, Eigentum. Der Krieg hat die Normalität verdrängt.

    Ivan wendet sich seinem Großvater zu: „Du, Großvater, das Donnern ist näher gekommen. Auf der Hauptstraße ist seit gestern wieder ein nicht abreißender Verkehr. Da fahren Panzer, Lastwagen und dazwischen auch Pferdewagen."

    „Das ist Stalins Heldenarmee. Die sehen jetzt zu, wie sie ihr Fell in Sicherheit bringen können, die reißen aus statt zu kämpfen. Uns lassen sie zurück, übergeben uns den Deutschen. Diese Feiglinge!"

    Die Mutter, noch am Sims beschäftigt, machte eine ängstliche und besorgte Geste zur Tür. „Wenn dich jemand hört. Sei mit deinen lauten Äußerungen etwas vorsichtiger. Du weißt doch, wie groß die Ohren der Nachbarn sind. Groß wie Teller, sie hören immer genau das, was sie nicht hören sollen. Du weißt ja nicht, wie alles noch kommen wird. Vielleicht sind unsere schneller wieder hier als die Deutschen. Außerdem: Ich war gestern mit den Frauen an der Straße. Wir haben Wasser an die Soldaten verteilt. Sie haben aus den Eimern wie die Tiere getrunken. Es geht ihnen sehr schlecht. Etwas anderes als Wasser haben wir ja auch nicht mehr. Unsere Leute hätten ja auch dabei sein können. Du hättest sehen sollen, wie sie sich gefreut haben. Zu Essen hatten sie auch nichts."

    „Ach, sollen sie doch. Es kommen bestimmt andere Zeiten, schlechter als es jetzt ist, kann es doch gar nicht mehr werden. Außerdem, was laufen sie, sollen sie doch kämpfen. Dazu sind sie doch da". Die Mutter sieht den Großvater zweifelnd von der Seite an und ist sich nicht sicher, ob das seine wirkliche Meinung ist.

    „Halt dich mit deinen Äußerungen doch etwas zurück. Ich, und nicht nur ich, weiß, dass du mit den Kommunisten nichts im Sinn hast, noch nie hattest. Bestimmt ist in diesem Regime nicht alles richtig. Ich denke da an die Hungerkatastrophe vor einigen Jahren, aber wie war es denn früher? Und denk doch an deinen Sohn, meinen Mann, und an Stefan, meinen Sohn. Beide stehen im Kampf gegen einen Feind, der unser Land angegriffen hat. Sicher, du hast andere Zeiten mitgemacht, aber waren die wirklich besser? Mit der Zeit verklärt sich alles, aber von meiner Familie weiß ich es, sie haben unter dem Zaren wie die Tiere gelebt. Erst mit dem Kommunismus ist etwas mehr Sicherheit eingekehrt. Gerade jetzt, wo die Zeit der Hungersnöte vorbei ist, bricht der Krieg aus. Denk auch daran, dass du erst lesen und schreiben unter den Kommunisten lernen konntest. Und, was wollen die Deutschen in unserem Land? Du hast doch selbst gesagt, dass Deutschland ein schönes Land ist, in dem alles vorhanden ist was die Menschen brauchen, hast es selber gesehen. Was wollen sie uns nehmen? Wir haben doch nur das für den täglichen Bedarf und nichts darüber hinaus."

    Für den Alten, der seiner Schwiegertochter unwillig zugehört hat, steht die Meinung felsenfest und die gilt auch für den geflohenen Dorfsowjet. Der Kommunismus ist für ihn vom Teufel persönlich erfunden und der Teufel selbst, der sitzt in Moskau, im Kreml. Mit diesem System kann und will er sich nicht anfreunden. Warum er den Kommunismus anlehnt, hängt sicher mit den Erinnerungen an der Hungerkatastrophe vor wenigen Jahren zusammen. Er brummelt etwas vor sich hin und muss aber im Inneren seiner Schwiegertochter Recht geben, wenn auch nicht in Worten.

    Seit Tagen hatte sich das Donnern und Grollen in der beginnenden Winterluft noch weiter verstärkt. Nachts zucken Blitze am Himmel, steigen in weiter Ferne Leuchtraketen auf und in unregelmäßigen Abständen überfliegen in der letzten Zeit große Flugzeugverbände das Dorf in östliche Richtung, um nach einer Zeit auf der gleichen Route zurückzukommen. Dass es sich um deutsche Flugzeuge handelte, ist jetzt selbst ohne Fernglas an den Hoheitszeichen, nur mit den Augen, gut zu erkennen.

    Auf der sonst so ruhigen, seitlich am Dorf vorbeiführenden Landstraße, rollen weiter in unablässiger Folge russische Panzer und Lastkraftwagen mit hinter gehängten Geschützen. Dazwischen auch Infanteriekolonnen und Pferdegespanne, die noch vor einiger Zeit in westliche, nun aber in schneller Fahrt in östliche Landesteile flüchten; dicht gefolgt von deutschen Einheiten, von denen aber im Dorf noch nichts zu sehen ist.

    In den Wäldern, kurz vor der Stadt Kursk, sind die Deutschen auf heftigen Widerstand gestoßen. Dort haben sie vor dem Wintereinbruch noch einmal eine große Anzahl an Gefangenen gemacht, jedoch auch bereits die ersten Ausfälle durch den einsetzenden Frost. Von Kampfhandlungen ist die kleine Ortschaft Schewerniwo bisher verschont geblieben. Einen Bericht über den Stand der Kämpfe haben die Dorfbewohner bisher nicht erhalten. Das einzige Radio im Dorf hatte der Dorfsowjet in seinem Haus stehen und der ist längst verschwunden.

    Auch im Haus der Skorochodows beginnt der Tag weiter mit seinen alltäglichen Verrichtungen. Die Mutter hat das Spülen der wenigen Teller und Tassen beendet und deckt den in der hinteren Ecke des niedrigen Raumes stehenden Tisch, mit dem Wenigen, was die schwere Zeit noch zu bieten hat. Da stehen neben dem Brot ein Schmalztopf, etwas Salz und ein Glas Honig aus dem eigenen Bienenstock als Zuckerersatz, auch noch ein Krug mit der nun mühsam zu beschaffenen Milch. Eine Flasche glasklarer Wodka aus vergangener Zeit steht für besondere Anlässe, gut versteckt von der Mutter, im hinteren Teil des Küchenschrankes.

    Dieser größte Raum im Haus glänzt vor Sauberkeit. Hier spazieren keine Hühner durch die Stube, ganz im Gegensatz zu den anderen Häusern im Dorf. Neben dem mit weißer Farbe gestrichenen, fast raumhohen Ofen in der Mitte des Raumes, steht seitlich angesetzt noch ein kleinerer Küchenofen. Auf seiner Abdeckplatte brodelt ständig ein Kessel mit heißem Wasser. Das Feuerholz für die Öfen, die nun bis zum kommenden Frühjahr nicht mehr kalt werden, liegt als riesiger Stapel hinter dem Haus und ist über den Winter, bis zum Frühjahr, genauso geschmolzen wie der Schnee. Bis zur halben Türhöhe ist der Raum mit einer glänzenden, grünen Ölfarbe gestrichen, der Rest der Wand – bis zur Holzdecke – ist mit schon etwas verblichener, geblümter Tapete tapeziert.

    Zwischen der Tür und dem Fenster hängt an der Wand ein Prunkstück, das im ganzen Dorf bekannt ist: Ein Pfau als Mosaik, aus mehreren Fliesen zusammengesetzt. Lebend gesehen wurde solch ein Exot von den Bewohnern des Dorfes noch nie.

    Wer dieses Meisterstück jemals dort angebracht hat, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Es hat dort schon immer seinen Platz. Auffällig an diesem Prunkstück ist das Vorhandensein von Fliesen an den Wänden. In keinem Haus im Dorf findet man Fliesen, denn an den Holzwänden der Häuser hätten sie gar keinen Halt gefunden. Auf einem Sims entlang der Wand stehen Töpfe und Teller in geordneten Reihen. Der Samowar zischt und brodelt leise auf einem kleinen Nebentisch.

    Aus einem für die Bewohner des Dorfes unbekanntem Grund, ist vor einigen Tagen, wohl kriegsbedingt, die Stromzufuhr im Dorf ausgefallen und so erhellt nur das Licht des neuen Tages den Raum durch zwei kleine Fenster.

    Der Großvater setzt sich, nachdem er sich mit kurzer Handbewegung vor der Ikone bekreuzigt hat, auf die Holzbank. Die über ihm, etwas schräg hängende, alte, vom Kerzenrauch geschwärzte, Ikone mit dem brennenden Licht der kleinen Lampada, ist von der Mutter zuvor angezündet wurden und erhellt nun mit flackernden Licht die Raumecke. Dass dieses Sinnbild christlich orthodoxen Glaubens hier immer noch seinen Platz hat, verdankt es allein dem energischen Einsatz der Mutter. Schon als die längst verstorbene Großmutter noch lebte, und auch davor, hing die Ikone an diesem Platz. Wohl eigentlich schon immer. Dass der Großvater sich bekreuzigt, geschieht aus reiner Gewohnheit. So haben es die Alten immer gemacht und so wird es auch bleiben. Der Kommunismus, hier vertreten durch den Dorfsowjet konnte daran nichts ändern.

    Trotz manch kleiner Einschüchterungen von Seiten des Dorfältesten, und davor schon viel stärker vom Dorfsowjet, setzt die Mutter, seit einigen Wochen, zusammen manchmal mit dem Großvater und vielen anderen alten und jungen Frauen, an den Sonntagen den Besuch in der kleinen, aus Steinen gemauerten, alten Dorfkirche am Ende der Straße, auf einer kleinen Anhöhe gelegen, beharrlich fort. Nach einem Heiligen, oder einer Heiligen ist die Kirche nicht benannt. Sie heißt nur einfach: Die Kirche. Die ganz Alten im Dorf wollen aber wissen, dass die Heilige Barbara oft mit ihrer Kirche genannt wurde. Der von den Roten verjagte Gutsbesitzer oder dessen Vorfahren haben das Gebäude aufrichten lassen, zur besseren Unterweisung ihrer Leibeigenen. Fünfundzwanzig, manchmal sogar dreißig Frauen aus dem Dorf versammeln sich nun wieder zur Andacht, die jungen Männer fehlen vollständig unter den Gläubigen.

    Der von Deutschland begonnene, dann von Stalin propagierte, nun schon mehrere Monate dauernde „Vaterländische Krieg" hat die doppelflügelige Tür zu dem Gotteshaus wieder geöffnet, nachdem es lange Zeit als Abstellhalle für die nahe gelegene Kolchose genutzt wurde.

    Das bis dahin dort gelagerte Stroh und die leeren Treibstofffässer für die Traktoren und Maschinen sind ausgeräumt und das undichte Dach repariert, wenn auch nur notdürftig; das erforderliche Material dafür ist knapp, eigentlich gar nicht vorhanden, oder nur über Tauschgeschäfte zu bekommen. Die durch die eindringende Feuchtigkeit beschädigten alten, bestimmt wertvollen, Wandmalereien sind jedoch unrettbar verloren und nur noch schemenhaft unter Nässe und Schimmel zu erkennen. Der Kirchenraum ist dunkel und wird nur durch die geöffnete Tür erhellt. Glasfenster waren früher vorhanden, wurden aber ausgebaut und anderweitig verwendet. Die glaslosen Öffnungen sind mit Bretter und Holzplatten verschlossen.

    Einige Dorfbewohner haben ihre eigenen Ikonen und einige Kerzen gespendet. Diese geben der Kirche nun etwas Glanz und die erforderliche Festlichkeit. Der immer noch vorhandene Geruch von Dieselöl und stickigem Stroh

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