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... und glauben, es wäre die Liebe: Roman
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eBook500 Seiten6 Stunden

... und glauben, es wäre die Liebe: Roman

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Über dieses E-Book

Hilde, Viktor, Hans, Ruth, Manfred, Walter, Tanja, Peter – acht junge Leute treffen sich einen Sommer lang, Hans und Peter sind in Hilde verliebt, Viktor und Walter in Tanja, Peter in Ruth und Hilde in Peter … Sie alle schreiben Tagebuch und ihre Beziehungen und Liebschaften sind einem ständigen Wandel unterworfen. Sie versuchen sich den persönlichen und gesellschaftlichen Problemen einer politisch erschütterten Zeit zu stellen – und scheitern gleichermaßen an der Unfähigkeit, über sich hinauszudenken, wie an der unüberwindlichen Eingrenzung, dass keiner jemals wissen kann, was selbst im Allernächsten vorgeht.
Mit seinem zweiten, 1932 erschienenen Roman stand der damals 23-jährige Torberg vor der Aufgabe, an den Sensationserfolg seines Erstlings, des „Schüler Gerber", anzuknüpfen. Sowohl bei den Kritikern als auch dem Publikum ist ihm das gelungen. Torberg zeigt sich erneut als ausgezeichneter Beobachter, mit einer psychologischen Eindringlichkeit von erstaunlichem Tiefgang und dem bohrenden Bemühen um Klarheit, das ihn zum Anwalt seiner Generation machte.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum31. Juli 2017
ISBN9783903184114
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    Buchvorschau

    ... und glauben, es wäre die Liebe - Friedrich Torberg

    NACHWORT

    AM 2. MAI

    HILDE R.

    Bernhard läßt sich also nicht einmal von meinen keuschen Mädchentränen erweichen, er bleibt dabei, seinen Urlaub früher abzubrechen und nicht über die Schweiz, sondern direkt nach Hause zu fahren – ich kann dir nicht helfen, mein Kind, leider richtet sich meine Zeiteinteilung nach den Geschäftsinteressen und nicht nach deinen diversen Flirts. Wenn dir das nicht recht ist, dann mußt du dir einen andern Papa suchen.

    Kommt ein bißchen spät, dieser Ratschlag. Ich hätte ihn sonst glatt befolgt, schon wegen Alice; die kehrt plötzlich die Mustergattin hervor und gibt dem Herrn Gemahl in allem recht.

    Warum gerade jetzt Ehefrieden gespielt werden muß? Auf meine Kosten?

    Meine »diversen Flirts« sind der Märchenprinz. Ich möchte gerne wissen, was der Herr Papa sich darunter eigentlich vorstellt. Wie es in den vier Kalkwänden seines Gehirns zugeht, wenn er von den diversen Flirts seiner Tochter spricht. Übrigens kommt er sich ganz sicher unerhört großzügig vor, weil er mir so viel Freiheit läßt. Der Gute. Er ist so ahnungslos, daß ich manchmal zweifeln muß, ob er nicht in Wirklichkeit ein böser, alter Schuft ist. Aber das traue ich ihm doch nicht zu. Er hat da wahrscheinlich irgend welche Vorstellungen von Tanzstunde, Fächerspiel, nächstem Walzer und Mädchenkichern – es ist auch sehr gut, daß er nicht weiß, bei welchen Anlässen die Mädchen heute kichern. Denn dann würde es ihn erst recht in Verwirrung bringen, wenn ich ihm zum Beispiel erklären wollte, daß mein »Flirten« mit dem Märchenprinzen (obwohl der mich noch nicht einmal angerührt hat) tausendmal verruchter ist als alles, was er so nennen würde, und tausendmal gefährlicher. Weil ich nämlich auf einen bloßen Wink dieses Mannes sofort bereit wäre, zum Beispiel durchzubrennen oder sonst irgend eine dicke Schande über mein Vaterhaus zu bringen, etwa ein uneheliches Kind. Wirklich, ich würde mich da ganz ehrlos und mißraten benehmen. Was ich bisher noch niemals tat. Bisher habe ich mich immer nur ganz im geheimen unter Wahrung aller Vorsichts- und Anstandsregeln verliebt und hingegeben. Man kann mir keinen Vorwurf machen. – Aber das würde Bernhard nicht verstehen. Gott sei Dank. Was wäre das denn für ein Leben, das unsre Eltern verstünden.

    Also darf ich ihm eigentlich nicht böse sein, daß er schon wegfahren will, und muß mich schön langsam wieder auf das Mokkakränzchen umstellen. Ein bißchen neugierig bin ich ja doch. Ruths Berichte waren so dürftig, sie hat auch keinen rechten Einblick. Und Tanja schrieb überhaupt nicht. Das hat freilich wenig zu bedeuten, läßt keine Schlüsse zu, ob sie und Viktor zur Zeit auf einem Wellenberg angelangt sind oder in einem Wellental. Als ich wegfuhr, schienen sie – nach einer Periode arger Quälereien – recht gut miteinander auszukommen. Ob da wieder etwas vorgegangen ist in der Zwischenzeit? Und ob Grohmann sich für Ebinger entschieden hat oder für uns? Und ob Falbins »Neue« (die es doch sicher gibt) mitkommt? Und über welches Thema wird denn jetzt eigentlich gestritten?

    Mokkakränzchen – ich finde uns damit einfach herrlich definiert. Es liegt so hübsch darin, daß wir alle furchtbar gescheit sind, und frei, und erhaben über alles, wir trinken eben keinen Milchkaffee, sondern Mokka – und plötzlich müssen wir merken, daß es mit unserer ganzen Überlegenheit gar nicht so weit her ist, plötzlich unterscheiden wir uns fast gar nicht von einem Kränzchen, so dumm und kindisch sieht das Ganze aus. Ich bin wirklich stolz darauf, daß ich diesen Namen geprägt habe. Er fand auch beinahe einstimmige Anerkennung. Ganz einstimmig geht es ja bei uns nicht. Mindestens einer muß immer anderer Meinung sein. In diesem Fall war es Walter Grohmann, der sich in längerer Rede dagegen aussprach. Ich hielt das zuerst für eine seiner kleinen Schmockereien, dachte, er sagt das alles nur, weil er zeigen will, daß er »vom Fach« ist. Viel später merkte ich erst, daß er sich wirklich auch über so etwas den Kopf zerbrechen kann. Ganz ernsthaft. Ich verstehe ja nicht, was es da nachzudenken gibt. Aber er findet eben überall einen Anlaß dazu. Das sieht oft nach Effekthascherei aus. Ich sagte es ihm auch bei einer Gelegenheit, da murmelte er etwas von Details, die viel wichtiger sind als das Ganze, oder so ähnlich.

    – Er ist ab und zu ein wenig verrückt, obwohl er das gar nicht notwendig hätte.

    Manchmal gefällt mir Hans Falbin besser als er. Manchmal wieder nicht. Es hängt davon ab, wie ich die beiden gerade ansehe. Als Mann ist mir Falbin lieber. Als Mensch Grohmann. Er kommt auch eher an E. D. heran. – Dem Märchenprinzen können sie natürlich alle drei nicht das Wasser reichen.

    VIKTOR HELLMER

    Es ist offenbar schon zu lange Ruhe gewesen. Und Tanja kann Ruhe nicht ertragen, etwas muß los sein um sie – oder sie selbst wird nach einiger Zeit unruhig, aus irgend einem albernen Verdacht, den ihre ewig lauernde Unsicherheit ihr einbläst, für sie gibt es die Ruhe offenbar nur vor dem Sturm, und wenn dieser Sturm sich dann nicht erheben will, so entfesselt sie ihn eben selbst. Die Mühe, ihn zu besänftigen, bleibt ausschließlich mir überlassen, und leider habe ich mich ihr diesmal nicht vollkommen gewachsen gezeigt. Gerade daß ich noch in der Lage war, Tanja von dem unsinnigen Plan einer Unterredung zwischen mir und Gregor Gál abzubringen, ihr klarzumachen, daß es seit jener ersten und einzigen Zusammenkunft damals, in die sie mich ohne vorherige Information hineingelockt hatte, für mich schlechthin ein Ding der Unmöglichkeit wäre, ihm nochmals persönlich gegenüberzutreten – was außerdem, meiner Überzeugung nach, praktisch vollkommen wertlos wäre. Das sah sie also noch ein. Aber nun – wohl um ihren Rückzug zu decken – versteifte sie sich erst recht darauf, daß ich wenigstens brieflich »die Situation bereinigen« sollte. Und ihrer querköpfigen Backfischkonsequenz (»wenn du mich liebst, dann mußt du es eben tun«) gelang es bald, mich zu zermürben. – Eine alte und allgemeingültige Erfahrung: der Vernunft gegenüber behält man viel leichter die Oberhand. Hundert noch so schlagenden Argumenten vermag ich standzuhalten – aber ein blödsinniges macht mich vollkommen hilflos.

    AM 3. MAI

    HANS FALBIN

    Mit Elli im Kino, Film langweilig, Elli langweilig, alles langweilig. Daß es heutzutage noch Mädchen gibt, die sich bei einem geeigneten Lied an ihre männliche Begleitperson schmiegen, ist zum Weinen. Und daß man sich zurückschmiegen muß, erst recht. Aber da hilft leider nichts. – Nachher gab ich ihr zart zu verstehen, daß ich ihr gerne die neuen Platten im Atelier vorspielen möchte. Da begehrte sie versuchsweise auf und in die Höh’. Warum ich ihr nicht gleich davon gesagt hätte, gar so einfach wäre das nicht, wir hätten vielleicht (vielleicht, sagte sie) statt ins Kino ins Atelier gehen können, aber jetzt, nicht wahr, sie darf nicht so lange ausbleiben, Papa hat es ihr überhaupt verboten, erst neulich war großer Krach. Nun? Nun, heute ist er zwar nicht zu Hause, sie muß aber früher da sein als er, es wäre also sehr riskant – kurz und gut, sie hatte sich vorgestellt, daß ich zu bitten beginnen würde.

    Ich begleitete sie mit leisem Bedauern bis zum Autobus, so, da wären wir, auf Wiedersehen. – Auf Wiedersehen, lieber Hans, und rufen Sie mich doch mal an, wenn Sie Zeit haben. – Leider, ich fürchte, ich werde in der nächsten Zeit keine haben. – Na, dann rufe ich vielleicht gelegentlich an, nicht? – Bitte sehr.

    Laune war vorhanden, aber leider kein hiezu passendes Mädchen. Ruth scheint bei irgendwem zu hängen, sie erklärte sich am Telefon verhindert und war auch abends nicht im Café. Hingegen beehrten uns die Herren Grohmann und Ebinger wieder einmal mit ihrer persönlichen Anwesenheit, die sie anscheinend für sehr kostbar halten. Mir können sie gestohlen bleiben. Leo, der vor jeder Stirn, die höher ist als seine, auf den Hintern fällt, findet, daß Grohmann »irgendwie bedeutend« aussieht. Ich habe ihm vor allem das »irgendwie« streng verboten, obwohl es ja zu Groh-mann und der Atmosphäre, die er um sich verbreitet, ganz gut paßt. – Grohmanns Gesicht ist übrigens wirklich nicht übel. Aber die Figur! Viel zu schmal, dabei schwere Hüften, und demzufolge latschiger Gang. Müßte ein bißchen Ski laufen, der Bursche, oder schwimmen (nicht baden). Aber dagegen sträubt er sich. Er plapperte da einmal etwas von einer »verdummenden Lockung des Rekords« und daß er deshalb gegen den Sport ist. Wie schon häufig gesagt: ein Klugscheißer. (Sein Mitläufer Ebinger – oder ist es umgekehrt – gab ihm natürlich recht. Der soll überhaupt ganz ruhig sein.)

    RUTH K.

    Peter Busch ist so rührend. So ganz anders als die andern. Komisch, wem ich das schon alles gesagt habe und wer es mir schon geglaubt hat. Nämlich jeder. Vielleicht ist die Welt deshalb so banal, weil sie von lauter Ausnahmen bevölkert wird. Ich erinnere mich an keinen, der sich nicht für eine Ausnahme gehalten hätte. Doch, einer, Ludi K. Der sagte, es wäre ihm sehr peinlich, und er hätte gar keinen Ehrgeiz, anders zu sein. – Seit meiner Beteuerung, daß ich ihm das natürlich angemerkt habe, und daß ja gerade darin seine Andersartigkeit besteht, ist auch Ludi K. unter die Ausnahmen gegangen …

    Bei Peter liegt die Sache aber nicht so einfach. Er ist wirklich anders. Wenigstens kommt es mir so vor, d. h. er ist ganz sicher anders als alle, mit denen ich bis jetzt zu tun hatte. Ich weiß nicht, woran das liegt. Merkwürdig.

    Von Hilde kam gestern Nachricht, sie muß morgen oder übermorgen dasein. Ich bin neugierig, was sie eigentlich mit diesem Märchenprinzen hatte.

    AM 4. MAI

    HILDE R.

    So. Koffer gepackt, Rechnungen gezahlt, Schlafwagenkarten bestellt, Eltern nervös – es ist endgültig aus.

    Aus. Auch mit dem Märchenprinzen. Gestern, viel zu spät, erfuhr ich endlich, wo er wohnt. Natürlich nicht in einer einsamen Waldvilla, sondern brav und gewöhnlich in einem Hotel. Das mit dem »weit nach Hause« war nichts als ein Trick – nennen wir es Trick, sagte ich möglichst süffisant, wir sind wohlerzogene Menschen und gebrauchen ungern schärfere Ausdrücke.

    Er wurde, obwohl sich das doch gehört hätte, nicht im mindesten verlegen – stimmt, Sie haben recht, ich wohne gar nicht da draußen, aber wissen Sie: ich liebe es, nachts noch ein wenig allein spazieren zu gehen, und das möchte ich nicht weiter erklären wollen.

    Mein Lämmchen. Wie treuherzig du dabei dreingeschaut hast. Man konnte dir gar nicht böse sein.

    Vom Portier war auch nichts herauszukriegen – jawohl, der Herr wohnt hier – allerdings – unter einem Decknamen abgestiegen – habe leider keine Erlaubnis – bedaure.

    Decknamen! Gott weiß, was für ein Erhabener es ist, an den ich mich da in meiner ganzen irdischen Nichtigkeit heranwagte. Dichter? Schauspieler? Hochstapler? Eigentlich alles dasselbe.

    Ich bin doch ganz froh, von hier wegzukommen. Die Sache ging mir schließlich nur auf die Nerven.

    MANFRED EBINGER

    Erlebnis und Horizont. – Dazu: es kann eigentlich alles nur als Horizont erlebt werden. – Natürlich bleibt es von einem höheren Blickpunkt flächig und begrenzt. Ihn vermag aber der Betroffene niemals einzunehmen. – Das »Erlebnis aus zweiter Hand«. Die Distanz ist so geringfügig, daß sie außeracht gelassen werden darf. Vom Horizont aus gibt es nur Mittelpunkt.

    Der Horizont ist aber kein Gleichnis: da er doch immer wieder für sich selbst steht. Er ist auch nichts Mittelbares: da er sich ja zunächst in einem völlig eindeutigen Stadium darbietet. Dieses Stadium wahrzunehmen ist die einzige Orientierungsmöglichkeit.

    Freilich: ohne seine Erkenntnis für etwas Endgültiges anzusehen. Es ist ja doch nur ein Provisorium.

    Freilich: ohne seine Hinfälligkeit in den Augenblick einzubeziehen. Es ist ja doch die letzte mögliche Erkenntnis.

    – – –

    »Letzte« Erkenntnisse überhaupt: zu Axiomen erstarrte Ohnmacht, in Formeln geronnene Stauung, als Schlußpunkt hingesetzter Doppelpunkt. (Merkwürdig: die Schrift eines sehr alten und gescheiten Volkes, das Hebräische, verwendet zum Satzabschluß den Doppelpunkt.) Erkenntnisse also nur insofern, als die augenblickliche Unmöglichkeit weiteren Vordringens erkannt wird. –

    Und hiermit muß man sich wohl zufriedengeben und darf es wohl gelten lassen auch für den allergeringsten Anlaß, übertragen auch im allerkleinsten Maßstab. Es liegt durchaus im eigenen Vermögen, bis wohin einer gelangt. Daß er nur mit sich allein ins Reine kommen kann über diesen Punkt, über seinen Schluß- und Doppelpunkt, ist klar. Der hexametrische Ratschlag, man möge, wenn man sich selbst erkennen wolle, sehen, wie die anderen es treiben, dürfte lediglich auf die Ullstein-Schnittmuster bezogen werden.

    Vom Nutzen der Beziehungslosigkeit

    Die Unmöglichkeit tieferen Gefährtentums. (Vielleicht eine Zeiterscheinung. Ich halte sie für organisch.) »Bruderschaft im Geist« als Pfadfinder-Romantik. (Überhaupt Romantik! Wir lieben sie als Sachlichkeit zu drapieren. Etwa: Kameradschaftsehe. Gibt es denn Romantischeres als Kameradschaft?) Das Höchsterreichbare: Monologe zu zweit.

    Überwältigung durch die Zusammenhänge. Man kann praktisch nicht aufeinander beschränkt bleiben. – Die Vielfalt menschlicher Beziehungen. Sie ist so enorm, so über alle Vorstellung hinaus verästelt, daß man sich früher oder später nicht mehr zurechtfindet. Obendrein muß man sehr auf der Hut sein, selbst dreimal Gesehenes und fünfmal Gehörtes deshalb auch schon für wahr zu nehmen. – Selbstkontrolle durch Konfrontation mit anderen. Muß unzuverlässig bleiben. Je inniger eine Beziehung, desto weniger kann man sich am Partner erweisen. Gipfel der Zwecklosigkeit: die Frage, was man an jemandes Stelle wohl getan hätte. (Außerdem: welch ein Übermut! Ich wenigstens bin sehr damit beschäftigt, was ich an meiner Stelle zu tun habe.)

    Auch die Sonderstellung, die W. G. da einnimmt, ist keine vollkommene. Zwar halte ich ihn kraft seines (oft allzu bereitwilligen) Vermögens, aus sich herauszugehen, für befähigt zu jenem »tieferen Gefährtentum«. Aber ich lasse es an eben meinem Zutrauen genug sein. Mehr, als dieses Zutrauen fassen zu können und solche Genüge daran zu finden, daß es keiner Bestätigung bedarf, mehr soll man von einem Menschen nicht verlangen. (Aus der Umkehrung dieses Vorganges entstehen die sogenannten Enttäuschungen.) Es ist dumm und schäbig, einen Zauberkünstler dabei zu ertappen, wie er das Kaninchen in den Zylinder praktiziert. Natürlich kann er nicht »zaubern«. Aber er vermag es vorzutäuschen. – Und natürlich ist W. G. kein »Gefährte«. Aber er tut nichts dagegen, es mich glauben zu lassen. Also ist er es wenigstens für mich.

    Und also ist auch meine Freundschaft mit ihm zutiefst einseitig (wobei ich allerdings überzeugt bin, daß ihre Einseitigkeit doppelte Geltung hat, nämlich ebensogut von ihm aus), also ist auch diese Beziehung, die doch dem Ideal restloser Gegenseitigkeit zum Verwechseln ähnelt, im letzten Sinn egoistisch, ausnützerisch und brutal. Daran vermag, wenigstens was mich betrifft, die aufrichtigste Zuneigung zu seiner Person, die intensivste Anteilnahme an seiner Entwicklung und das schlackenloseste Interesse an seinen Ergebnissen nichts zu ändern. Und deshalb bin ich auch jederzeit darauf gefaßt, daß W., sowie er einen Menschen findet, der ihm besser zusagt als ich, unbedenklich von mir lassen wird. Zwar haben wir die Jahre der größten Wandelbarkeit gemeinsam überstanden, aber das ist nur ein Beweis für die Richtigkeit unserer Freundschaft, keine Garantie für ihre Dauer. – Daß sie an einer Frau in die Brüche ginge, besorge ich vorläufig nicht. W. ist noch zu jung, zu ungegoren, seiner selbst zu voll, als daß ihm eine Frau kongruent werden könnte. Und das empfindet er zur Zeit noch als seinen Mangel und nicht als den der Frau, noch als seinen Mangel und nicht als seinen Vorzug. Solange er das tut, ist mir um unsere Freundschaft nicht bange. Er muß sich desto heftiger auf sie besinnen, je mehr er sich von einer Frau verspricht und je größer daher die Diskrepanz zwischen Wunsch und Erfüllung sein wird.

    Ich erwarte also von dieser Liebe, die ihn da neuerdings sehr stark zu beschäftigen scheint, eher eine Festigung unserer Freundschaft als eine Erschütterung. Es ist auch in der letzten Zeit zu oft geschehen, daß W. sich wie ein Besessener in eine Sache hineinstürzt, dann aber in plötzlicher Überschätzung ihrer Wichtigkeit und Folgenlast denkbar schwerfällig und ungeschickt vorgeht, und mit einemmal erkennen muß, daß er den enormen Apparat seiner Sehnsucht ganz zwecklos in Bewegung gesetzt hat, daß seine Vitalität wieder einmal verpufft ist zu keinem andern Ende als dem der Enttäuschung, die freilich bei ihm niemals zur Erfahrung wird, sondern immer zum Keim einer neuen Hoffnung.

    Daß diese seine Hoffnung der Resignation viel näher ist als Erfahrung es wäre, halte ich für einen seiner zutiefst femininen Wesenszüge, die mich vermuten lassen, daß es einmal doch eine Frau sein könnte, an der W. G. sich vollbringen wird. Das dürfte ja, von seinem Künstlerischen aus, gutgeheißen werden, wenn nicht zu befürchten stünde, daß er sich über die Grenze nicht im Klaren ist und jenes papierene Postulat der »Einheit von Mensch und Künstler« zu erfüllen strebt, dessen Urheber wahrscheinlich weder das eine noch das andere gewesen ist.

    – – –

    Dazu: Über die Männlichkeit. – Die Zweiheit von Mensch und Künstler.

    AM 5. MAI

    WALTER GROHMANN

    Nun sitze ich schon eine halbe Stunde hier.

    Und wenn ich das aufschreibe, so geschieht es nur, weil ich diese leere erste Heftseite nicht länger ansehen kann, dieses kalte, weiße Glotzen.

    Ich bin außerstande, einen Gedanken zu fassen und ihn zu führen wohin er gehört: zu Ende. Er geht mir ganz einfach auf und davon, unbotmäßig, rebellisch, Rädelsführer der anderen, die er mitreißt auf die falsche Fährte.

    Und ganz bildhaft habe ich die Vorstellung, daß all diese scheugewordenen, entfesselten Gedanken sich nach mir umwenden, immer wieder, und ein wieherndes Hohngelächter hervorprusten. Schöne, kühne Hengste, meine Gedanken – aber ich kann ihrer nicht Herr werden. Da lachen sie mich aus. Ganz allein bin ich mit mir und mit ihnen, und kann ihrer nicht Herr werden.

    Weil ich jeden einzelnen für so wichtig und repräsentativ und auserkoren halte, daß er ganz mit Recht größenwahnsinnig wird und mir entläuft.

    Was soll sich denn begeben? Was ist es denn Großartiges, das ich vorhabe und dafür mir noch keine Einleitung gut genug erschien?

    Nichts, gar nichts Großartiges. Ein Tagebuch will ich führen. Ich, Walter Grohmann, laut Reisepaß Student und dreiundzwanzig Jahre, will ein Tagebuch führen. Also etwas sehr Banales. Und zwar das Tagebuch einer Liebe. Also überhaupt das Banalste. Dieses niederzuschreiben habe ich mich solange gekrümmt und gewunden. (Wenngleich doch blitzblank und sprungfertig der Nachsatz bereit steht, daß es nicht gar so banal ist.)

    Das Tagebuch einer Liebe. Vorläufig wünsche ich ja erst, es möge eine Liebe werden. Eine große, wunderbare Liebe. Deren Entwicklung ich eben hier aufzuzeichnen versuchen will. Den »Gefühlsgang«, wenn dieses Pendant zu »Gedankengang« gebraucht werden darf.

    Wohin ich auf diesem Gefühlsgang gelangen soll, weiß ich nicht: ob ins Glück oder ins Unglück oder sonstwohin oder ob er abbricht oder ob ich plötzlich nicht weiterkann. Aber ich möchte, wenn ich einmal am Ende stehe, an welchem immer, doch wissen, wie ich hingekommen bin. Und möchte es wissen mit jener unmittelbaren Sicherheit, die nur ich selbst mir zu geben vermag, und nur dann, wenn ich mit vollkommener Ehrlichkeit vorgehe, mit der schrankenlosen Ehrlichkeit des Selbstgesprächs. Ohne auf eine Wirkung nach außen zu spekulieren, ohne mit einer praktischen Verwendung dieser Blätter zu liebäugeln. Ich muß mich auf das, was ich hieherschreibe, verlassen können, unbedingt und ohne jemals die geringsten Bedenken zu haben, daß etwas nicht ganz so wäre, wie es hier steht.

    Das ist in jedem Fall ein Training der Selbstdisziplin. Aber hier wird es noch besonders veranlaßt durch die Wichtigkeit, die ich dieser Liebe beimesse. Warum ich so tue, gehört nicht hieher. Hier habe ich nur festzustellen, daß ich sehr Bedeutendes und Entscheidendes von ihr erwarte.

    Noch eine Einschaltung ist notwendig – wie ich mir vornehme die letzte, bevor ich zur Sache komme. Ich sagte, daß ich Student bin. Und zwar studiere ich Jus, auf Wunsch meines Vaters, der mich zu diesem Zweck aus dem Industrieort, wo unsere Familie seit Generationen ansässig ist, hieher in die Hauptstadt geschickt hat. Meine Mutter starb, als ich acht Jahre alt war, und ich habe als einziges Kind alle Ursache, meinem Vater den Gefallen zu tun und zu studieren. Zwar werde ich (was ich allerdings noch bei mir behalte) die Advokatur niemals ausüben, auch auf den sehr häufigen und größtenteils israelitischen Rufnamen »Doktor« lege ich kein Gewicht – aber ich studiere trotzdem, weil es mir weiter keine Mühe macht und meinem Vater Freude. Sicher wäre diese Freude reiner, wenn mein Studium schleuniger vor sich ginge. Nun sind mir aber auch noch die Prüfungen äußerst zuwider, wie alles, was im entferntesten nach Obrigkeit und offizieller Befugnis schmeckt; es bereitet mir beinahe körperliches Mißbehagen, vor einen fremden Menschen hintreten zu müssen und mich ausfragen zu lassen über meine ureigenen, privaten Kenntnisse, die ich obendrein (was er freilich nicht wissen kann) niemals öffentlich auszuwerten beabsichtige; zum natürlichen Widerwillen tritt also noch die Empfindung, daß hier etwas völlig Absurdes vorgeht – und auf diese Art stehe ich heute, nach vierjährigem Studium, erst im fünften Semester. Das ist meinem Vater verständlicherweise nicht recht. Und das hat eigentlich den Anstoß gegeben, daß ich vor einiger Zeit meine schriftstellerischen Arbeiten zu veröffentlichen begann, entscheidend ermutigt durch die Zusprache meines Freundes Manfred Ebinger, dem ich seit der frühesten Schulzeit eng verbunden bin und der auch gemeinsam mit mir zum Universitätsstudium hiehergekommen ist (er studiert Philosophie). Jetzt habe ich erstens eine gute Ausrede vor meinem Vater, zweitens macht es ihn doch ein wenig stolz und er sieht mir manches nach, drittens ist es eine höchst brauchbare Einnahmsquelle, und viertens – ja, das ist nun gar nicht so einfach. Oder doch. (Wir wollen ja ehrlich sein.)

    Viertens glaube ich an mich. Nicht etwa, weil die kleinen Novellen und Gedichte (die ich unter einem Pseudonym veröffentliche) so rasch gedruckt wurden und wohl auch Anklang fanden, das alles, was ich da schreibe, ist Dreck, und ich hoffe, mich bald dafür schämen zu können. Nicht auch, weil Manfred Ebinger und noch ein paar andre etwas von mir zu halten scheinen. Sondern ich glaube an mich mit einer Gewißheit, die tiefer ist als ich es erklären kann, ich weiß nur, daß kein Mensch (außer mir) mich an ihr irrezumachen vermöchte, ich weiß, ohne Pläne zu schmieden und Phantastereien zu hegen weiß ich: daß ich Wesentliches hervorbringen werde. So groß ist meine Gewißheit, so heiß bin ich von ihr bis in die fernsten Phasen meines Tuns durchdrungen, daß ich gar nicht anders kann als dieses Tagebuch in einem gewissen Sinn auch als Angelegenheit meiner Kunst betrachten. Auch sie wird sich an ihm in irgend einer Weise zu üben haben: indem ich diesmal nichts erfinden darf einer besonderen Wirkung wegen, nichts verschweigen darf um einen Spannungseffekt zu erzielen, nichts fälschen darf an dem was mir zu Gebot steht, am Tatsächlichen und an seiner Entwicklung, die zu erleben ich im Begriff bin.

    Es ist ungefähr ein halbes Jahr, daß ich Tanja N. kennenlernte. Ich verfüge über ein sehr gutes Gedächtnis – aber ich kann heute nicht mehr sagen, welches mein erster Eindruck von ihr war. Nur an den äußeren Vorgang erinnere ich mich: ich war mit Manfred Ebinger irgendwo eingeladen, wir hatten zuerst absagen wollen, gingen dann aber doch hin, langweilten uns anfangs sehr und waren deshalb froh, ein paar Bekannte zu finden, mit denen wir im übrigen nicht viel zu tun hatten: Hans Falbin, Leo Weil, Viktor Hellmer – wenn ich nicht irre, ist er es auch gewesen, der uns dann mit Tanja N. bekannt machte –, wir blieben den Rest des Abends zusammen, beschlossen ihn gemeinsam in einem kleinen Nachtcafe, es war im ganzen sehr nett, und so kamen wir überein, uns in Hinkunft öfter zu treffen, in jenem Kaffeehaus, wo Hellmer und die anderen ständig verkehrten. Gewöhnlich spielte sich das so ab, daß ich gemeinsam mit Manfred hinkam und, da er in meiner Nähe wohnt, auch mit ihm wieder fortging.

    Nach einiger Zeit merkte ich bei Manfred immer deutlicher eine Abneigung gegen diese Kaffeehausbesuche aufkommen. Als ich schließlich einmal mit ihm darauf zu sprechen kam, bestätigte er mir diese Wahrnehmung ohneweiters und erklärte, fortan auf diese Art Geselligkeit überhaupt verzichten zu wollen. Er machte dann ein paar sehr abschätzige Bemerkungen über die Leute jenes Kreises, nannte sie flach und trivial, münzte meinen Einwand, daß sich doch im Gegenteil sehr oft wirklich anregende Gespräche ergäben, in ein Argument für seine Behauptung um: nun wäre also auch ich glücklich schon so weit, dieses alberne Geplapper für eine geistige Anregung zu nehmen, und schob endlich alle Schuld auf das, was er immer schon als »Kaffeehäuslerei« mißbilligt hätte. Damit war ich nun ganz und gar nicht einverstanden. Grundsätzlich nicht. Ich gab ihm zu bedenken, daß man eben hierzulande und übrigens auch sehr viel andernorts im Kaffeehaus die einzige Gelegenheit fände, mit Leuten beisammenzusitzen und zu sprechen, und daß es ebenso bequem wie unzulässig sei, aus einem so durchaus äußerlichen Umstand auf Art und Wert dieses Beisammensitzens und Sprechens zu folgern. Wenn einer von uns in der Lage wäre, beispielsweise eine Villa oder auch nur eine geeignete Privatwohnung zur Verfügung zu stellen, so würden wir eben dort zusammenkommen – und schon wäre es keine »Kaffeehäuslerei« mehr. Das Kaffeehaus ist durch die anekdotische Überschätzung einiger harmloser Literaten in einen Verruf gekommen, der ähnlich ungerechtfertigt ist wie etwa jener, in den (von eben diesen Literaten) Worte wie »Einstellung«, »Beziehung«, »irgendwie« gebracht wurden – richtige gute Worte, ohne die man bei vielen Gelegenheiten einfach nicht auskommen kann und die heute doch in so üblem Geruch stehen, daß sie ein Gespräch sätzeweit verpesten. Warum? Nur weil ein paar Hohlköpfe diese Worte gedankenlos oft und unangebracht im Mund führen, worüber sich ein paar andere Hohlköpfe in der billigsten Weise lustig machen. Ich für meine Person werde »Beziehung« sagen so oft ich es für notwendig halte, und werde mit Leuten, die mir auch außerhalb des Kaffeehauses als Gesellschaft erwünscht wären, unter dem Druck der Verhältnisse eben weiter im Kaffeehaus zusammenkommen.

    Dann müsse er mir also, sagte Manfred, ganz eindeutig mitteilen, daß er mit diesen Leuten außerhalb des Kaffeehauses nicht zusammenzukommen wünsche und daher erst recht nicht im Kaffeehaus, das ihm an sich schon widerwärtig sei. Dieses Recht würde ich ihm doch zugestehen? Das mußte ich allerdings, und es tat mir sehr leid, aus vielen Gründen. (Nicht zuletzt deshalb, weil ich mich mit Manfred über derlei sonst immer sehr bald einige.) Heute will es mir allerdings scheinen, als ob er damals nur einen Vorwand gebraucht oder zumindest seine Eindeutigkeit nicht gar so schroff gemeint hätte – ich traue ihm gerne zu, daß er schon um jene Zeit gemerkt oder geahnt hat, was mir jetzt erst langsam klar wird. Und da unsere Freundschaft, wie intim und aufrichtig in allen Dingen sie auch ist, doch etwas sehr seltsam Schamhaftes an sich hat und desto schamhafter wird, je näher diese Dinge an »Frau« oder »Liebe« herankommen, so ist es durchaus denkbar, daß Manfred sich damals einfach zurückziehen wollte, weil er mich vielleicht zu stören oder zu beeinflussen fürchtete.

    Er brach denn auch seine Kaffeehausbesuche unvermittelt ab, ich fühlte mich in der ersten Zeit gar nicht wohl ohne ihn, unsere Zusammenkünfte zu zweit wurden in der Folge immer häufiger und so ergab es sich dann, daß Manfred wieder ab und zu ins Kaffeehaus kam. Vor ungefähr einer Woche nun wollten wir nachher noch irgend ein Nachtlokal aufsuchen, ich bat Manfred, mitzukommen, er lehnte das ziemlich schroff ab, und nach einigem Hin und Her entschloß ich mich, mit den anderen zu gehen.

    An diesem Abend geschah es zum erstenmal, daß ich mit Tanja persönlicher zu tun hatte als es bisher der Fall gewesen war. Nach ein paar Schritten blieb sie plötzlich stehen, sah mich kurz an und sagte: »Sie – Ihr Freund stinkt aber sehr langweilig.«

    Tanjas russischer Akzent ist das einzige, woran man noch merkt, daß Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Wenn sie sich trotzdem manchmal ein wenig plumper ausdrückt als es sein müßte, so hört man aber auch jetzt noch darüber hinweg – wohl ein Herkommen aus jener Zeit, da sie wirklich nicht anders konnte –, und Tanja macht von dieser Benevolenz ihrer Umgebung oft und gern Gebrauch.

    Da hatte sie nun also meinen Freund Manfred in einer Art kritisiert, gegen die ich ihn überall anders recht energisch in Schutz genommen haben würde. Bei Tanja mußte ich mich auf einen Einlenkungsversuch beschränken: »Na, er hat eben seine Schrullen.«

    »Schruhln? Was ist das, Schruhln? – Bitte, ich weiß es wirklich nicht«, fügte sie hinzu, als niemand Antwort gab.

    »Seine Eigentümlichkeiten«, belehrte sie einer, ich glaube, es war Hans Falbin.

    »So, Eigentümlichkeiten. Warum sagt Grohmann Schruhln?« Und, wieder zu mir: »Hat er noch viele solche Schruhln, Ihr Freund?«

    »Ich weiß nicht, was Sie alles damit bezeichnen würden.«

    »Und ich weiß nicht, warum dich das so interessiert.« Das war jetzt Viktor Hellmer. »Jeder Mensch hat doch schließlich seine Eigentümlichkeiten.«

    Ich glaubte dieses Intermezzo damit beendet – aber nach einer kurzen Weile wandte sich Tanja wieder an mich:

    »Da haben Sie wahrscheinlich auch viele Schruhln?«

    »Schrul–len«, verbesserte ich, und sie sagte es übertrieben korrekt nach: »Schrulllen. Wie?«

    »Je nachdem. Mein Freund Ebinger sieht es zum Beispiel als Schrulle an, daß ich hin und wieder ganz gern in eine Bar gehe. Und Sie finden das Gegenteil schrullenhaft von ihm.«

    »So. Dann sind mir Ihre Schrullen also lieber. Viel lieber. Und – ja.«

    Zwischen den beiden Worten lag eine kleine Pause, in der Tanja eine für sie sehr typische Bewegung machte: sie hob ihren Unterarm und klappte die Hand ein paarmal auf und zu. (Das tut sie immer, wenn ihr irgend etwas nicht recht ist, wenn sie nach einem bestimmten Wort sucht oder zögert, ob sie überhaupt weitersprechen soll – jedenfalls immer aus Nervosität.) Sonderbar schien mir, daß ihr Gesicht dabei vollkommen ausdruckslos blieb. Sonderbar vor allem deshalb, weil gerade die Lebhaftigkeit seines Ausdrucks dieses Gesicht so reizvoll macht. Denn es ist nicht eigentlich schön, wie es sich da blaß zwischen die leichten schwarzen Wellen des in der Mitte gescheitelten Haars bettet. Es ist nicht schön, dieses Gesicht. Dazu müßte es wohl voller sein und besser proportioniert, dann würde man vielleicht nicht merken, daß die Backenknochen ein wenig hervortreten und daß die braunen Augenmandeln ein wenig schief liegen. Das sind zweifellos »Fehler« – die man freilich, wenn man will, auch Vorzüge nennen kann. Aber über allen persönlichen Geschmack hinaus besteht die wunderbare Beweglichkeit dieses Gesichts. Es ist ganz einfach faszinierend, wie sein Ausdruck sich oft in einer Sekunde aus monotoner Melancholie in blitzenden Übermut verwandelt. Wie die Augen, die einer eben noch ganz trüb und klein geglaubt haben mochte hinter dem tief niedergelassenen Vorhang aus Lid und Wimpern – wie ihn diese Augen im nächsten Moment funkelnd anspringen! Wie die Lippen, deren Winkel eben noch müde und traurig herabgezogen waren, sich jetzt schon spöttisch kräuseln und gleich darauf wild umzuckt sind von einem plötzlichen Aufruhr der Heiterkeit! Das ist es, was an Tanjas Gesicht immer aufs neue bezaubert, was erwartungsvoll macht und fesselt: daß man von einer Sekunde zur andern nicht wissen kann, woran man ist.

    Eben jetzt war es noch starr und leer gewesen, obgleich ihm doch in dieser Situation nichts besser entsprochen hätte als eine nervöse Grimasse. Und im nächsten Augenblick hing es in kindischer Verzückung an einer Lichtreklame, und im übernächsten wurde es ganz bös und verkniffen, weil Viktor Hellmer sich mit einem harmlosen Scherz erkundigte, ob das Gespräch über die menschlichen Schrullen schon beendet wäre.

    Ich hatte Tanjas Gesicht schon oft vorher auf diese Eigenart hin beobachtet und sie reizvoll gefunden. An jenem Abend empfand ich sie zum erstenmal als gefährlich, eine dunkle, verschwommene Lockung ließ mich von ihrem Anblick nicht loskommen und hielt mich dann doch wieder ab, ich hatte das Gefühl eines Tauchers, der doch lieber schon an die Oberfläche geht, obgleich er es vielleicht noch einige Zeit unter Wasser aushielte, es war wirblig und beunruhigend, aber den Gedanken daran, daß ich Manfred vielleicht brüskiert haben könnte, vermochte es doch nicht zu verdrängen. Ich begann, als wir schon in der Bar saßen, über eine Möglichkeit nachzudenken, wie ich das wieder gutmachen könnte. Tanja störte mich auf:

    »Was sitzen Sie denn so da?«

    »Ich hänge meinen Schrullen nach.«

    »Kommen Sie lieber tanzen«, sagte Tanja. Und das war dann so ziemlich alles, was ich mit ihr noch zu tun hatte über den Rest des Abends.

    Am nächsten Tag konnte ich Manfred nicht erreichen – er hatte übrigens, wie sich bald darauf herausstellte, der ganzen Sache weiter keine Bedeutung beigemessen –, ich kam jedenfalls am Abend ohne ihn ins Cafe, und es war ganz natürlich, daß nach seinem Verbleib gefragt wurde. Weniger natürlich schien mir, daß Tanja eine Bemerkung machte, die auf den Zwischenfall vom Vortag anspielte – und man muß mir wohl etwas von meinem Befremden angesehen haben. Denn Tanja sagte begütigend: »Nein – Grohmann – ich will Sie nicht ärgern – wirklich nicht.« Und dabei legte sie ihre Hand auf meinen Arm.

    Solche Berührungen verursachen mir ein eigenartiges Mißbehagen, das nicht so leicht zu erklären ist. Haben sie nämlich nichts zu bedeuten, dann verzichte ich lieber auf sie (ich meinesteils würde keine Frau, an der mir etwas liegt, leer berühren). Wenn sie aber bedeuten wollen, so muß man vorsichtig sein mit ihnen. Vielleicht ist das nun wirklich eine »Schrulle« von mir – aber unsinnigerweise bilde ich mir ein, daß man sie respektieren müsse, bilde mir ein, daß diese kleinen Berührungen eine sehr große Wichtigkeit haben können, daß man sie nicht so leichthin zu verschwenden hätte – und wenn das doch geschieht, verärgert es mich eben.

    Als nun Tanja ihre Hand auf meinen Arm legte, begab sich etwas für mich sehr Merkwürdiges: ihre Berührung – hinter der wohl nichts weiter zu vermuten stand – war mir angenehm. Nicht daß sie mich erregte. Es tat mir nur in einer sehr klaren Art wohl, Tanjas Hand auf meinem Arm zu haben. Und es geschah ganz unwillkürlich, daß ich, als ihr Griff mir einen Sekundenbruchteil fester spürbar schien, die Muskeln spannte.

    Tanja ließ ihre Hand sofort sinken und sah anderswohin, ich begann in einer illustrierten Zeitschrift zu blättern. Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, als wäre Tanjas Blick auf mich gerichtet. Ich wollte unmerklich aufschauen, da glitt er von mir ab.

    Nun war ich vollends verwirrt; so sehr, daß ich mich bald darauf verabschiedete. Vielleicht nur deshalb, um Tanjas Händedruck zu erfahren. Er war kühl, keineswegs betont kühl, sondern gleichgültig, nichtssagend, gewöhnlich.

    Ich hatte noch keine Lust nach Hause zu gehen und schlenderte ohne Richtung durch die Gassen. Mein Kopf war eigenartig leicht und frei, alle Gedanken, die mir im Lauf der Zeit aufgetaucht waren bei den verschiedensten Anlässen, untereinander zusammenhanglos, ganz flüchtig nur und im Vorübersinnen, kamen mir jetzt wieder in die Erinnerung und ordneten sich. Ich überlegte, warum mir denn diese Kleinigkeiten so wichtig wären. Wie es denn geschehen könne, daß mir ein Streicheln durchs Haar oder über die Hand mehr zu denken und zu fühlen gibt, als ein Kuß etwa, oder auch eine gemeinsame Nacht. Nur »Schrulle«? Oder Dekadenz? Oder vielleicht anormal?

    Möglich. Möglich auch, daß die Begründung, die sich mir zurechtgelegt hat, gewaltsam ist und überspitzt. Ich bin nämlich der Meinung, daß die Nacht eben viel leichter zu haben ist als das Streicheln. Und daß sie deshalb nicht so hoch eingeschätzt werden darf. Die kleine Zärtlichkeit in der Abendsonne ist kostbarer als die Nacht im Bett. Mit einer Frau zu schlafen ist einfacher als mit einer Frau zu wachen. Ich weiß: der Casanova in der Westentasche wird aus diesem Satz eine andere, aggressivere Bedeutung herausfälschen. Die hat wahrscheinlich auch ihre Richtigkeit, für ihn. Denn er ist ja vollkommen zufrieden, wenn eine Frau sich ihm hingibt. Indessen gibt sie sich oft nur her. Oder nimmt ihn hin. Es hat nicht viel zu bedeuten, es kann’s bald einer haben. In der Nacht sind nicht nur alle Kühe schwarz, sondern auch alle Stiere. Was ist, zeigt sich erst, wenn’s hell wird: und meistens nichts. Was könnte sich denn auch groß

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