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Schuld Ein Geständnis
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eBook358 Seiten4 Stunden

Schuld Ein Geständnis

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Über dieses E-Book

Alfonso Hophan gelingt mit seinen drei Erzählungen ein außergewöhnliches Triptychon von hohem literarischem Wert. "Schuld Ein Geständnis" vereint eine kürzere und zwei lange Erzählungen, die stilistisch sowie inhaltlich zwar verschieden sind, jedoch thematisch in einem zusammengehörenden Ganzen aufgehen. Dem 1992 geborenen Autor gelingt es darin, sich zutiefst moralischen Fragen auf eine ausgesprochen menschliche Art und Weise zu nähern. Ohne zu werten oder zu richten, bewegt Alfonso Hophan sich in seinem zweiten Buch im Graubereich zwischen Kausalität, Verantwortung und empfundener Schuld.

"Weißgott" ist der Monolog eines reuigen alten Mannes im Krankenbett, der einem Pfarrer eine Liebe und eine Schuld beichtet, die ihn seit über fünfzig Jahren verfolgen, und der nun Antworten auf Fragen möchte, welche die Vergangenheit mit ins Grab genommen hat. In der aufwendig komponierten Erzählung "Der rätselhafte Fall des Alexander Frosch" versucht der Protagonist mittels Interviews zu rekonstruieren, was einen ihm kaum bekannten jungen Mann in den Suizid getrieben hat. Je tiefer er dabei recherchiert, desto aussichtsloser werden die Fragen nach individueller und kollektiver Schuld. In "Erbschuld" schlussendlich folgt ein Mann der Einladung seiner Tante in ein kleines Dorf. Doch als diese ihn nicht wie vereinbart am Bahnhof abholt, entwickelt sich die Situation für den Protagonisten zusehends zu einem Albtraum, in welchem die Frage nach seiner Schuld zu einer Frage um Leben und Tod wird.

Das Ergebnis ist ein tiefgreifender und stimmiger Erzählband, der keine Antworten gibt, sondern Fragen aufwirft. Mit "Schuld Ein Geständnis" beweist Alfonso Hophan, dass er zu den interessantesten und vielseitigsten deutschsprachigen Autoren der ganz jungen Generation gehört.
SpracheDeutsch
HerausgeberSalis Verlag
Erscheinungsdatum6. Feb. 2017
ISBN9783906195636
Schuld Ein Geständnis

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    Buchvorschau

    Schuld Ein Geständnis - Alfonso Hophan

    madre.

    WEISSGOTT

    I

    Nabend. Schön, dass Sie gekommen sind. Bitte. Nehmen Sie Platz, hier, so, dass ich Sie sehen kann. Gut. Danke. Sie kommen gerade rechtzeitig. Sehen Sie nur, der Himmel. Und die Stadt. Und der See. Sehen Sie. Aber vor allem der Himmel. Das ist unglaublich. Diese Farben. Es heißt, man solle nicht in die Sonne schauen, aber ich mache es trotzdem. Zu dieser Tageszeit geht das gut. Wenn sie so über dem Horizont steht. Dort, links neben dem Funkturm, dort geht sie unter. Aber kurz bevor sie untergeht, hängt die Scheibe direkt über dem Hügel. Goldig. Wie eine offene Tür in eine andere Welt. Hm. Wahrscheinlich sollte man trotzdem nicht in die Sonne schauen.

    Sie fragen sich bestimmt, warum ich Sie habe kommen lassen. Nicht wahr? Den anderen, Ihren Vorgänger, habe ich ja mehrmals abgewiesen. Er war sehr freundlich. Er hieß … Hofstetter. Nein, Hostettler. Oder? Ja, genau, Pfarrer Hostettler. Ich wollte nie mit ihm reden. Sagte ihm, es sei nichts Persönliches, ich hätte einfach schon mein ganzes Leben lang nicht viel auf die Meinung eines Pfarrers gegeben. Oder die von Gott. Ich wolle seinen Segen nicht, sagte ich ihm. Geradeheraus. Dachte, das mache Eindruck, so etwas zu sagen. Mit meiner Diagnose. Er nickte und wünschte mir jedes Mal gute Besserung, bevor er ging. Er war sehr freundlich. Kam noch zweimal. Und dreimal schickte ich ihn weg. Ein viertes Mal kam er nicht. Weiß nicht, ob er die Hoffnung aufgegeben hatte. Vielleicht. Vielleicht kam er aber auch einfach nicht mehr hier vorbei, ich weiß es nicht. Doch je länger er nicht mehr kam und je länger mein Aufenthalt hier wurde … Nun, ich begann nachzudenken. Wie man halt so nachdenkt in diesen Betten. In dieser Abteilung. Ich weiß nicht, es war seltsam. Seltsame Gedanken. Ich fand es nicht recht. Nicht … richtig. Dass er nicht mehr kam. Nicht einmal, um gute Besserung zu wünschen. Das ist natürlich Blödsinn, das mit der guten Besserung. Das sagen sie so, aber eigentlich wissen sie es besser. Hier. Aber immerhin. Ich, nun, ich fühlte mich … alleingelassen irgendwie. Oder nein. Das ist nicht das richtige Wort. Hm. Ich bin nicht so gut mit Worten, müssen Sie wissen. Bin kein Studierter wie Sie. Achtundvierzig Jahre in der Werkstatt. Mutter aus einem Bauernhaus. Vater Metzger. Wie das halt so ist. Trotzdem, verstehen Sie mich? Er …, er hatte doch kein Recht, nicht mehr zu kommen. Als Pfarrer. Da darf man doch nicht die Hoffnung für jemanden aufgeben. Oder? So sehe zumindest ich das. Aber vielleicht wissen Sie es besser. Gibt es irgendwo in Ihrem Buch eine solche Klausel, hm? Nach drei Mal ist’s vorbei? Mit der Geduld Gottes? Für die Seele, die widerspenstige? Einem Menschen kann man so etwas ja nicht übel nehmen. Die letzten fünfundzwanzig Jahre war ich Werkstattleiter. Glauben Sie, ich bin jemals jemandem nachgerannt? Nein. Nicht dreimal und nicht zweimal. Nicht ein einziges Mal. So ist das in der Welt. Das nimmt man keinem übel. Auch nicht Herrn Hofstetter. Hostettler. Aber Gott? Ich weiß nicht. War da nicht Petrus? Ich meine, der hat auch dreimal geleugnet. Verleugnet. Ha! Damit haben Sie nicht gerechnet, was? Keine Angst, Sie haben schon recht. Ich glaube nicht an Gott. Obwohl. Zumindest glaubte ich, dass ich nicht an ihn glaube. Jetzt aber sind Sie da, und ich erzähle Ihnen das. Was auch immer das über mich sagt … Ich weiß nicht, woran ich glaube. Ich will ehrlich sein. Bin seit der Firmung nicht mehr in der Kirche gewesen. Außer zu Hochzeiten, das schon, immer wieder, man kann ja nicht anders. Taufen, die gab’s auch, aber seltener. Und Begräbnisse, die dafür immer häufiger. Selber aber bin ich nie in die Messe. Meiner Mutter brach es das Herz. Innerschweizerin, was will man machen. Sie hat für mich gebetet, zeitlebens. Sie war so besorgt. Ihr gottloser Sohn. Wahrscheinlich galt ihr letztes Gebet mir. Dass ich endlich heirate. Nun, ich habe nie geheiratet, nie gebetet und ich glaubte nicht an Gott. Und trotzdem störte es mich, zurückgelassen zu werden. Lange dachte ich, es störe mich nicht. Mir doch egal. Lange habe ich so getan. Aber was will man denn hier? Das ist nicht der Ort für falschen Stolz, weißgott nicht. Daher ließ ich den Pfarrer rufen, Hostettler. Aber man sagte mir, er sei nicht da. Ich weiß nicht warum. Stattdessen schickte man Sie. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist gut, es macht keinen Unterschied. Ich glaube, ich spreche sogar freier zu Ihnen. Ich kenne Sie nicht, aber Sie haben ein gutes Gesicht. Sie sind jung. Sie könnten mein Sohn sein. Entschuldigen Sie, das … Es sind nur so Gedanken. Manchmal denkt man halt Sachen … Ich weiß nicht. Früher habe ich wenig davon ausgesprochen. Wie man überhaupt früher weniger sagte. Das Wichtige halt. Und sonst war’s im Zweifel immer gescheiter, aufs Maul zu sitzen. Hm. Jetzt sehe ich das anders. Jetzt will ich etwas sagen. Aussprechen. Vielleicht ist es die Diagnose, dieses Bett. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich sprechen will, bis ich nichts mehr zu sagen habe. Und ich weiß auch, dass ich es nur jemandem wirklich sagen kann, und dieser jemand ist Gott. Der Gott meiner Mutter. Der Gott, der die Beichte anhört und von dem es heißt, dass er verzeiht. Eigentlich glaube ich nicht an ihn, habe nie an ihn geglaubt. Aber als ich den Pfarrer Hostettler zum dritten Mal aus dieser Tür herausgehen sah, da dachte ich: Und wenn er nicht mehr kommt? Was machst du dann? Das dachte ich. Und als er dann wirklich nicht mehr kam, da dachte ich, es sei vorbei. Verstehen Sie? Ich mache mir nichts vor, hier komme ich nicht mehr raus. Ich habe das Fenster hier neben meinem Bett, das ist schön. Die Stadt und der See und am Abend die Sonne. Manchmal kommen die Kinder meiner Schwester mit ihren Kindern. Alle zwei Monate vielleicht. Manchmal nicht. Und ich kann es ihnen nicht einmal übel nehmen. Es ist nicht so, dass ich jemals groß für sie da gewesen wäre als Onkel. Oder Großonkel. Klar, es freut mich, wenn sie kommen. Oder wenn eine der Krankenschwestern hier mit mir scherzt. Das tun sie manchmal. Tun so, als sei ich noch putzmunter. Ob ich Samstagabend mit ihnen in die Disco gehen wolle. Ha! Das ist natürlich alles Chabis, das weiß ich, und trotzdem freut es mich. All diese Dinge. Kleine Dinge. Hm. Aber all das war plötzlich nicht mehr genug, als ich zu denken begann, dass ich mit diesen Sachen auf dem Herzen würde … gehen müssen. Verstehen Sie? Darum dieses …, nennen wir es von mir aus Beichten. Es ist feige, es jetzt erst zu tun, ich weiß. Ich hätte es früher tun können. Sollen. Oder einfach den Pfarrer Hostettler hier Platz nehmen lassen. Da, wo Sie jetzt sitzen. Das hätte schon gereicht. Aber … man macht halt Fehler.

    Sehen Sie, die Sonne? Beim Funkturm. Jetzt dann gleich ist es, wie ich es beschrieben habe. Jeden Tag etwas früher. Die Tage werden kürzer. Lustig: Früher hat mich das nie gekümmert. Die Sonne, wann sie auf- oder untergeht. Aber jetzt wache ich oft in der Nacht auf und ich freue mich, ihr zuschauen zu können, wie sie aufgeht. Das habe ich seit dem Militärdienst nicht mehr gesehen. Damals war es mir egal – jetzt erfüllt es mich mit Staunen.

    Ja, so ist das. Ich rede viel, ich hoffe, es ist in Ordnung. Ich habe lange nicht mehr so viel an einem Stück gesprochen. Das macht richtig durstig. Möchten Sie auch etwas trinken? Ich habe Ihnen gar nichts angeboten. Schlechter Gastgeber, tut mir leid. Sie geben einem hier Tee, der ist lauwarm, aber man gewöhnt sich dran. Heute Hagebutten, glaube ich. Wenn die Schwester kommt, bestelle ich uns einen Krug. Also nur, wenn Sie möchten. Ah! Da, die Sonne. Jetzt geht sie unter. Da. Jetzt. Jetzt ist sie weg.

    Nun, ich bin wie gesagt kein Mann der Worte. Schwer, die richtigen zu finden. Und zu beginnen. Das ist das Schwerste. Ich habe mir lange überlegt, wo ich beginnen soll. Als man mir sagte, dass Sie kommen, fing ich an, mir das zu überlegen. Wie man die ganze Geschichte in Worte fasst. Wie man das erzählt, so etwas. So, dass man es versteht. Obwohl man es ja eigentlich selbst nicht versteht. Ich verstehe es nicht. Aber vielleicht verstehen Sie es. Vielleicht können Sie es mir dann erklären, ich weiß es nicht. Aber dafür muss ich die richtigen Worte finden. Obwohl …, Gott wird es verstehen. Oder? Er muss es doch verstehen, ich meine, egal, wie gut oder schlecht man Dinge sagt. Sonst wäre es doch nicht fair … Oder? Nun. Ich versuche es einfach mal, und Sie sagen mir, wenn ich mich zu sehr verliere. Das liegt alles fast fünfzig Jahre zurück. Da ist Raum genug, sich zu verlieren. Weißgott.

    II

    Diese Dinge, ich habe sie noch niemandem erzählt. Niemandem. Weil solche Dinge erzählt man nicht, dachte ich. Aber ich muss sie jetzt erzählen, sonst macht es keinen Sinn. Die ganze Geschichte, das Beichten. Sonst ist es nicht ehrlich. Und es nützt nichts, lange drumherum zu reden, darum will ich jetzt einfach anfangen: Es geht um eine Frau, Herr Pfarrer. Sie haben es wohl schon geahnt. Was denn auch sonst? Ach, das ist so dumm alles. Sie … Ihren Namen sage ich nicht. Ist das nötig? Es ändert ja nichts. Für Sie nicht und nicht für mich. Die Geschichte bleibt dieselbe. Namen machen keinen Unterschied. Wie auch die Beschreibung eigentlich. Sie war …, sie war wunderschön. Heh. Ich weiß, damit ist alles gesagt und nichts. Aber mehr zu sagen, ist schwer … Wissen Sie, manchmal liege ich im Bett und alles ist dunkel. Meine Augen sind geschlossen. Und ich bin noch nicht eingeschlafen, das weiß ich, denn ich höre das Ticken des Weckers auf dem Nachttisch und ich fühle meinen Kopf schwer auf dem Kissen. Dann aber kommen Gedanken und Bilder, wild durcheinander. Ich liege noch da, unbeweglich, aber mein Geist strömt aus. Träumt bereits. Es ist irgendetwas zwischen Wachsein und Traum. Da sehe ich sie plötzlich vor mir, und es ist, als sei sie wirklich da. Hier. Wie vor fast fünfzig Jahren. Und dann weiß ich wieder, wie sie duftete und wie sie die Haare trug. Ich höre ihre Stimme. Und wie sie lachte. Ich habe diese Dinge eigentlich vergessen. Aber wenn ich dann aufwache, ist es mit diesem Gefühl, als sei sie soeben noch da gewesen. Als sei noch etwas von ihr in diesem Zimmer zurückgeblieben. Oder in mir. Ich weiß nicht. Hat man Erinnerungen vergessen, wenn man sie noch irgendwo in sich hat? Irgendwo tief drinnen, wo nur Träume rankommen? Wer weiß das schon. Ich weiß nur, dass ich sie Ihnen nicht beschreiben kann. Nicht wirklich. Ich meine, ich kann zwar sagen, dass sie groß und schlank war und blond. Weil sie war blond. Und dass ihre Augen blau waren. Sehr blau. Aber das sind Informationen, die ich irgendwie zurückbehalten habe. Wie zum Beispiel, dass … Holland flach ist. Ich habe kein Bild davon, ich sehe es nicht vor mir, aber ich weiß es halt irgendwie. Und von ihr, nun, es bleibt mir kein Bild. Aber ich weiß, dass sie wunderschön war. Ich weiß das, weil ich noch weiß, wie ich sie damals ansah und mir immer wieder sagte: Mein Gott, sie ist so wunderschön. Einmal sagte ich es ihr sogar. Ein einziges Mal. Wie gesagt, früher sagte man weniger. Und vielleicht ist das auch nicht schlecht, das wenige war dann irgendwie wichtiger. Wertvoller. Wertvoll war es auf jeden Fall, als ich ihr das sagte. Sie wusste das. Und was es bedeutete.

    Nun. Ich …, ich habe sie geliebt. Richtig geliebt. Ich …, na ja, ich wusste nichts davon, von der … Liebe. Großes Wort. Klar, ich hatte schon auch Frauen gehabt. Wohl auch geglaubt, dass ich verliebt gewesen war. Früher. Davor, meine ich. Aber nein. Sie. Ich wusste plötzlich, dass ich nie vorher geliebt hatte. Ich …, ich wusste nicht, dass man das kann. Solche Gefühle empfinden. So stark, dass es einem Angst macht. Das hatte ich nie zuvor, auch nie seither. Hören Sie, ich will Ihnen hier nicht vormachen, dass ich ein Heiliger war. Denn das war ich nicht. Weißgott nicht. Ich muss niemandem etwas vormachen, und Ihnen am allerwenigsten. Ich bin ehrlich mit Ihnen, und ehrlich muss ich sagen, dass es später auch Frauen gab. Nicht viele, aber eben doch noch andere. Ich habe mich stets geweigert zu glauben, dass es nur eine Frau im Leben gibt. Deshalb wollte ich sie hinter mir lassen, sie zur ersten und nicht zur einen Frau in meinem Leben machen. Und ich habe es mit anderen versucht, wirklich versucht. Es waren alles gute Frauen. Eine davon, bei der stand ich kurz davor, sie um ihre Hand zu bitten. Aber dieses Gefühl, diese Liebe. So stark. Nie wieder. Nie. Traurig irgendwie. Aber so ist das. Vielleicht ist es auch gut so. Es gibt dem Ganzen etwas Besonderes. Immerhin das.

    Ah, Nabend, Schwester. Ja, alles gut. Das Essen den Umständen entsprechend, wie ich. Heh. Nein, alles recht. Danke. Ob wir wohl einen Krug Tee haben könnten, mit zwei Bechern? Danke. – Gut, Herr Pfarrer. Ich will nun zu der Geschichte kommen, sonst wird das nichts. Ich will Sie nicht den ganzen Abend hierbehalten.

    Ich lernte sie zufällig kennen, aber die Begegnung an und für sich tut kaum etwas zur Sache. Die ersten paar Male, als ich sie sah, haben wir nicht miteinander gesprochen. Ich weiß noch, einmal, da war irgend so eine Veranstaltung, da hat sie Suppe serviert, und ich bin dreimal Suppe holen gegangen und sie hat mich immer angelächelt. Ich habe Suppe gelöffelt wie noch nie in meinem Leben, das war ein wässriges Zeugs, wie sie es einem halt servieren, da. Irgendein Stadtfest. Nicht einmal ein Wienerli drin, aber für mich war es die beste Suppe überhaupt. Na ja, man lief sich dann halt irgendwie immer öfter über den Weg, beim Einkaufen und so. Zufälle manchmal, und immer öfter auch Zufälle, die man selber herbeigeführt hat. Blickkontakt, ganz kurz. Man wusste voneinander, dass man sich gesehen hatte. Dass man sich ansah. Ich spürte ihren Blick auf mir. Und ich sah ihr nach … Sie, in ihren Röcken immer. Ich kannte nicht viele im Städtchen damals, war gerade erst zugezogen und hatte in der zweiten Werkstatt begonnen. Das war mir eigentlich ganz recht damals, ich arbeitete viel. Später ging ich dann zur Feuerwehr, dort lernte ich viele kennen, mit einigen jasste ich noch bis vor Kurzem. Egal. Sie aber, erfuhr ich dann, hatte kürzlich ihre Mutter verloren, und ihr Vater, der war schon während des Kriegs irgendwo verloren gegangen. Ja, verloren gegangen, so sagte man. Im Osten. Aber all das wusste eigentlich niemand so genau. Oder was das hieß, im Osten verloren zu gehen. Scheinbar ein Deutscher, der Vater, aber eben in der falschen Partei zu der Zeit. Sie wissen schon. Sie hat aber nie davon gesprochen, und ich habe sie nie danach gefragt. Auf alle Fälle war sie Halbschweizerin und hatte mit ihrer Mutter im Städtchen gelebt, seit sie klein war. Die Mutter hatte irgendeine Hautkrankheit und nahm den Besuch eines Kurortes hier in der Schweiz als Vorwand, um mit dem Kleinkind zusammen in ihre alte Heimat zu verschwinden und nie mehr zurückzukehren. Tapfere Frau und, na ja, wie die Mutter, so die Tochter. Diese nämlich hatte nach der Schule die Ausbildung zur Stenotypistin gemacht, dann arbeitete sie in einem Büro in der Stadt. Bei einem Bankier, glaube ich. Damals sagte man noch so: Bankier. Es gefiel ihr auf alle Fälle nicht, und als ich sie kennenlernte, da war sie gerade Lehrerin geworden. Primarlehrerin. Hatte sich umschulen lassen, mit dem Geld, das sie verdient hatte. Das machte mir Eindruck, das war damals noch etwas, was kaum jemand machte. Nicht wie heute, wo alle sich umschulen und alle studieren. Sie war in vielerlei Hinsicht anders als die Frauen damals. Ich glaube, das gefiel mir so an ihr. Sie war so anders. Ich dachte bei ihr zum ersten Mal, dass sie vielleicht eine neue Art sei. Was wahrscheinlich stimmte, denn sie nahm vieles vorweg, was heute normal geworden ist, damals aber verrückt war. Sie war Vegetarierin. Sie sagte das nicht so, das Wort habe ich erst später gehört. Aber sie sagte, sie esse kein Fleisch. Als ich sie zum ersten Mal zum Essen einlud, da bestellte sie einen Salat und eine Suppe. Ich hatte ein Gottlet bestellt. Ich fragte sie warum. Vielleicht war sie krank, was wusste ich schon. Aber sie sagte, sie esse einfach kein Fleisch. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich meine …, Anfang des Jahrhunderts waren einige Leute in Ascona nackt umhergetanzt und hatten Blumen gegessen, aber ich dachte immer, das könne kein Mensch ernsthaft in Betracht ziehen. Sowieso sollte ich eine solche Haltung von Haus aus einen Seich finden. Als Metzgerssohn. Aber ich fand sie …, hm, interessant. Irgendwie edel sogar. Ha. Stellen Sie sich vor, ich begann dann auch, mehr Salat zu essen. Und Suppen ohne Wienerli. Ich wurde nicht zum Vegetarier, weißgott, nur schon meinem Vater zuliebe. Der wäre mit dem Beil auf mich los. Aber irgendwie reichte diese Bemerkung von ihr, um mein Leben zu ändern. Selbstverständliches aufzuheben. Ich wollte sie verstehen. Und ihr gefallen, das wollte ich auch.

    Vielen Dank, Schwester. Nein, es geht nicht mehr lange. Halblange. Ich versuche, schnell zu sein. Ja. Je länger ich mit Ihnen spreche, Frau Künzle, desto länger werde ich hier nicht fertig. Gut. Ja, danke. Wiedersehen. – Möchten Sie Tee? Hm. Vielleicht machen das besser Sie. Vielen Dank. Danke. Ah. Was ist das? Nicht Hagebutten, Kamille, glaube ich. So, weiter.

    Ich weiß nicht, was sie an mir fand. Weshalb ich sie ausführen durfte. Ich habe mich das schon damals gefragt, ich weiß es noch. Ich war in der Werkstatt, überhaupt nicht mehr bei der Sache. Schon vorher, bevor ich sie gefragt hatte. Eigentlich leistete ich stets saubere Arbeit. Aber ich weiß noch, an diesem Tag, während ich mir überlegte, was ich sagen sollte … Zwei linke Hände plötzlich. Nebst meiner linken Zunge. Ich war einfach nervös. Ich dachte, ich müsste etwas Gutes sagen. Ich wollte Eindruck machen. Und ich ging zu ihr, mit allem, was ich mir in der Werkstatt überlegt hatte. Das war auf dem Markt am Samstag. Ich trug die Sonntagskleider, die ich eigentlich nur anzog, wenn ich zu meinen Eltern fuhr. Ich hatte die Haare zurückgekämmt, und die Haut in meinem Gesicht war ganz rot und brannte, weil ich mich dreimal rasiert hatte. Ich Esel ging also zu ihr und machte meinen Mund auf, und raus kam gar nichts. Alles vergessen. Ich fragte sie dann einfach, ohne Hallo oder etwas, ob sie essen wolle. Sie lachte. Ob sie essen wolle oder ob sie mit mir essen wolle, fragte sie. Mit mir, nuschelte ich. Ich wäre am liebsten davongerannt. Aber dann sagte sie Ja. Ich weiß nicht weshalb. Aber weißgott, ich hätte am liebsten einen Wildfremden dort am Markt gepackt, grundlos, und geschüttelt, einfach aus Freude. Ich tat es nicht, aber zu Hause sprang ich auf dem Bett herum wie ein Kind. Im Grunde war ich ja auch eines.

    Na ja, es begann dann. Wir trafen uns zum Abendessen. Das war noch ganz züchtig damals. Ich brachte sie nach dem Salat und der Suppe nach Hause, es war noch hell, und überhaupt gar nichts geschah. Darum ging’s aber auch nicht. Auch bei den späteren Malen nicht. Einmal gingen wir ins Kino, aber in Begleitung einer Freundin von ihr. Und einmal fuhren wir zum See, das war kurz nachdem ich mir mein erstes Auto gekauft hatte. Da hatte ich mir sogar einen Tag freigenommen, das heißt nein, ich war einfach nicht erschienen. Das hatte ich noch nie gemacht. Es brachte mir auch gehörigen Ärger ein, aber sie hatte Schulferien und war noch nie am See gewesen. Ich erinnere mich … Seltsam. Ich wusste damals schon, als wir an diesem Morgen ins Auto stiegen und losfuhren, ich wusste, dass es eine Dummheit war. Dass es verrückt war. Aber es war mir egal. Es war ein bewusster Entscheid gegen die Stimme im Kopf, die einem Nein sagt, mach das lieber nicht. Ich denke, das gehört irgendwie zusammen, Verliebtsein und Dummheiten wider besseres Wissen. Weil das, was eben noch wichtig war, nicht mehr wichtig ist. Weil wichtig nur noch eines ist. Das ist verrückt. Aber es ist auch schön. Ich hab’ das nie mehr gehabt, aber ich weiß es noch. Es ist sehr schön. Und dort am See sagte ich ihr, dass sie wunderschön sei.

    Gut, Herr Pfarrer, es wird Zeit, dass ich zum Punkt komme. Der Punkt ist nämlich, dass ich nicht der Einzige war. Ich sagte bereits, ich wusste nicht, warum sie sich mit mir abgab. Ich dachte, sie sei halt so allein wie ich in diesem Städtchen, und ich fand das richtig. Dass wir uns hatten. Damals war nichts zwischen uns gewesen, nie. Ich dachte einfach, wir genügten uns. Ich weiß nicht, inwieweit ich mir Hoffnungen machte. Ich denke schon. Ich dachte, dass es irgendwann dann so weit wäre. Ich wusste nicht wann. Ich sprach meine Gefühle nie aus. Aber das würde kommen. Irgendwann, irgendwie. Nur kam dann er … Martin. Hm, jetzt habe ich seinen Namen gesagt. Na gut, aber seinen Nachnamen behalte ich für mich. Wir trafen ihn eines Tages, als wir zu einem Sommerfestspiel gingen. Freudiges Wiedersehen. Er gab ihr einen Handkuss und zwinkerte mir zu. Sie kannte ihn noch von der Schule her, er aber war lange Zeit auf Reisen gewesen. Der Kerl, er war scheinbar sein ganzes Leben nur gereist. Immer erzählte er von da und von dort. Hatte irgendeine

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