Jungs sind auch Mädchen
Von Simon Rhys Beck
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Jungs sind auch Mädchen - Simon Rhys Beck
I
modern boys
„Robin, 15, schwul." Erwartungsvoll sehe ich meinen älteren Bruder an.
Der zieht die Augenbrauen nach oben. „Bestechend kurz, sagt er und beginnt zu lachen. „Aber total bescheuert!
Ich sinke zusammen. Nur noch vier Tage bis zu unserer Klassenfahrt, und ich habe es noch immer nicht geschafft, den neuen Typen in unserer Klasse anzusprechen. Mein Gott, allein bei dem Gedanken an Yan bekomm ich weiche Knie! Als er vor ein paar Tagen die Klasse betreten hat, leicht angeschoben von Frau Hellmann – unserer Klassenlehrerin – ist mir fast das Herz stehen geblieben!
„Robbie – du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen, holt mich Maltes Stimme in die Realität zurück. „Wieso willst du dich dem Typen überhaupt vorstellen? Der weiß doch sicher schon, wie du heißt ...
Ich nicke schwach. Natürlich weiß er das. Na ja, wahrscheinlich … „Aber es gibt doch immer so Vorstellungsrunden und Kennenlernspiele bei solchen ... Fahrten ..."
Malte winkt ab. „Du musst ihn einfach anbaggern. Los, wir üben das jetzt mal."
Ich verdrehe die Augen. Mein Bruder weiß seit über einem Jahr, dass ich nicht auf Mädchen stehe.
Ich habe ihn immer beobachtet, wenn er mit bloßem Oberkörper vor dem Spiegel steht, wenn er aus der Dusche kommt. Malte ist zwei Jahre älter als ich und sieht verdammt gut aus. Anders als ich ist er breitschultrig und muskulös. Und es ist natürlich nicht so, dass ich auf ihn stehe – er ist schließlich mein Bruder! Nur, er sieht so schrecklich gut aus. Na ja, lange Rede, kurzer Sinn ... er hat es natürlich bemerkt. Und irgendwann hat er mich dann peinlicherweise beim Wichsen überrascht. Und ich hatte nicht den Playboy vor mir liegen – sondern ein Bild von einem supersexy Typen mit einem beachtlichen Ständer.
Ich erinnere mich noch sehr genau an Maltes Gesicht, als er mich da auf meinem Bett knien sah. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen, den Mund wie so oft spöttisch verzogen. Vermutlich hatte er mich wohl schon eine Zeitlang beobachtet, bis ich ihn endlich bemerkte. In diesem Augenblick – und der schien echt eine Ewigkeit zu dauern – dachte ich, vor Scham im Boden versinken zu müssen. So etwas Ultrapeinliches war mir noch nie passiert!
Und Malte lehnte einfach im Türrahmen und wartete darauf, dass ich irgendwas sagte. Aber ich saß dort mit hochrotem Kopf und konnte mich überhaupt nicht bewegen. Tausend Gedanken schossen durch mein Hirn, es gelang mir, mich wenigstens soweit zu rühren, dass ich meine Hose zuknöpfen konnte. Und schließlich sagte ich nur: „Bitte sag es nicht Ma und Dad."
Malte hatte leise gelacht. „Du stehst auf Jungs, was?"
Ich versuchte, das Bild hinter meinem Rücken verschwinden zu lassen. Doch Malte war schon an mir vorbei ins Zimmer geschossen und hatte das Bild an sich gerissen.
„Hm, ganz schönes Teil", bemerkte er grinsend.
Ich dachte noch immer sterben zu müssen, aus lauter Peinlichkeit. Wahrscheinlich rannte er damit jetzt gleich zu unseren Eltern. Der Robbie ist schwul. Schaut mal, was er für Bilder in seinem Zimmer hat. – Robbie? Nein, niemals! – Doch, sicher! Er gafft mich auch immer so an, wenn ich aus der Dusche komme. Voll pervers.
Ich schloss die Augen und befürchtete das Schlimmste. Doch Malte legte meine „Wichsvorlage" einfach wieder auf mein Bett und strich mir mit der Hand über den Kopf.
„Mach nicht so ein Gesicht, Robbie! Ich wusste das doch schon länger."
Ich sah ihn überrascht an. „Was?"
„Meinst du, ich bin blind? Dir sind ja fast immer die Augen aus dem Kopf gefallen, wenn du mich mal nackt gesehen hast."
Wieder wurde ich knallrot. Seinen eigenen Bruder anzuspannen, war ja wohl das Peinlichste überhaupt. Aber Malte war gar nicht sauer.
„Wann willst du es Ma und Dad sagen?" Er setzte sich zu mir aufs Bett.
Ich zuckte mit den Schultern. Unsere Eltern sind okay – ein echter Glücksgriff. Aber – wie würden sie auf so etwas reagieren? Die meisten Eltern waren wohl nicht besonders begeistert, wenn ihre Söhne oder Töchter ihnen eröffneten, dass sie vom anderen Ufer waren. Ich hatte mir schon oft vorgestellt, was meine Eltern sagen würden, wenn ich irgendwann – vielleicht so nebenbei beim Mittagessen – zwischen Rotkohl und Klößen oder doch besser beim Nasi Goreng? – einfließen lassen würde „Ach, übrigens, ich bin schwul."
Vielleicht würden sie mich rausschmeißen? Aber zumindest anschreien ... oder mein Vater würde mir eine kleben – und das hatte er noch nie getan!
„Hey, du hast doch keine Angst, oder?"
Ich starrte auf meine nackten Füße. „Doch", sagte ich kläglich.
Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Das schaffst du schon, Brüderchen." Und damit schien das Thema für ihn erledigt.
„Sag mal, interessierst du dich gar nicht für Mädchen?"
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte zwar zwei sehr gute Freundinnen – aber noch nie darüber nachgedacht, mal mit einem Mädchen herumzuknutschen.
„Also auch nicht für Nicky?", hakte er nach.
Nicky war eine meiner beiden Freundinnen. „Nein. Und dann dämmerte mir, warum er fragte. „Und ich mach euch auch nicht bekannt!
Malte lachte und stand auf. „Kannst ja noch mal darüber nachdenken ... Außerdem kenne ich sie ja auch schon."
Ich schüttelte heftig den Kopf, wusste aber jetzt bereits, dass Nicky von den Socken sein würde. Malte war der absolute Mädchenschwarm auf unserer Schule. Dass er auf sie stand, würde sie echt umhauen!
„Malte?"
Er drehte sich in der Tür noch einmal um.
„Danke."
Erstaunt zog er die Augenbrauen nach oben. Dann grinste er. „Wofür?"
II
there’s something in the air that you breath
„Robbie? Sag mal, wo bist du mit deinen Gedanken?" Malte knufft mich in die Seite.
„Autsch!"
Er sieht mich erwartungsvoll an. „Wie würdest du ihn angraben? – Stell’ dir vor, ich sei Yan ..."
Ich mustere ihn abschätzend. „Schwer vorstellbar."
Yan ist ein dünner, schlaksiger, dunkelhaariger Typ. Wohingegen ich Malte eher als blondes, immer grinsendes Honigkuchenpferd, Marke Surfer, beschreiben würde.
„Weiß eh nicht, was du an ihm findest ..."
Ich schenke meinem Bruder einen düsteren Blick, setze mich dann aber zu ihm und sage mit gekünsteltem Augenaufschlag und schnurrender Stimme: „Na Süßer, du bist mir ja sofort aufgefallen ..."
Malte starrt mich an, dann bricht er in ein wieherndes Gelächter aus.
„Du bist vielleicht ne Schwuchtel!"
Ich lache ebenfalls. So kann ich Yan jedenfalls nicht anbaggern. Es sei denn, ich will eine Witznummer daraus machen.
Als Malte sich wieder ein wenig beruhigt hat, sieht er mich an. „Jetzt ernsthaft, du musst den Typen doch irgendwie ansprechen. Weiß er denn, dass du schwul bist?"
Ich schüttele den Kopf. So ein ganz „großes" Coming-out hatte ich noch gar nicht gehabt. Bin ich auch gar nicht scharf drauf! Nur Janine und Nicky wissen es ... und es ist mir schwer genug gefallen, ihnen davon zu erzählen. Aber Janine hatte sich in mich verliebt und da musste ich es ihr ja sagen. Und sie hat es nach dem ersten Schock erstaunlich gut weggesteckt.
„Mann, schätze, eure Klassenfahrt wird dann so eine richtig verklemmte Sache ... zumindest für dich."
„Ja, mach mir ruhig Mut", knurre ich.
Malte sieht auf seine Armbanduhr. „Du, ich muss los. Sollte noch vorher mit dem Hund rausgehen ... Er steht auf. „Warum fragst du ihn eigentlich nicht, ob er mal Bock hat, mit dir ins Kino zu gehen oder so?
Ich starre ihn entsetzt an. „Das sieht ja voll nach einem Date aus!"
Malte zuckt mit den Schultern und zieht sich sein Sweatshirt an, das er ordentlich über die Stuhllehne gehängt hatte. „Ist es doch auch ..."
Mein Leben ist zurzeit ein einziges Chaos. Manchmal hab ich den Eindruck, alles geht drunter und drüber, die verdammten Hormone gehen mit einem durch und ständig passieren peinliche Sachen.
Wenn man dann auch noch bemerkt, dass man nicht so ist wie andere, anders eben, oder andersherum, ist es noch viel verrückter. Ich habe das eine oder andere Mal wirklich an meinem Verstand gezweifelt. Obwohl es doch alles so klar war. Und es war ja auch okay so ... na ja, bis auf den Sportunterricht – vor allem das Schwimmen – der treibt mich regelmäßig an den Rand des Wahnsinns. Mit den Typen aus meiner Klasse zu duschen, bedeutet ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung für mich – wobei glücklicherweise nicht allzu viele gutaussehende Jungs dabei sind. Allerdings habe ich dafür keine Probleme mit Mädels. Wenigstens ein Vorteil ... Ich bekomm keine Bombe, wenn mich ein Mädchen anspricht. Damit kann ich locker umgehen. Aber meine Knie zittern, wenn Yan sich mir – versehentlich – auf fünf Meter nähert. Mein Gott ... Yan ... dieser Typ ...
Frau Hellmann hatte ihn an diesem Tag X in den Klassenraum geschoben. Und er hatte uns alle eher feindselig gemustert. Abschätzend irgendwie – und nicht besonders zurückhaltend.
„Hey, ihr Volk! – das sagt die Hellmann immer – „Hört mal einen Moment zu!
– Oh, ich war schon ganz Ohr – „Das ist Yan Karmann. Seine Eltern sind gerade erst aus Frankfurt hergezogen."
Sie sah Yan aufmunternd an. „Willst du dich vielleicht noch vorstellen? Oder noch irgendwas sagen?"
Er lächelte spröde. „Hi."
Einige lachten.
In meinem Kopf entstand ein unentwirrbares Gedankenknäuel. Ich musste ihn kennenlernen. MUSSTE. Aber Frau Hellmann hatte sich schon jemanden ausgeguckt, der sich um Yan kümmern sollte – und das war nicht ich. Nein, das war Benjamin Haan, unser Sport-Ass.
Benjamin und mich verband ... nichts. Aber so was von nichts. Ich verfluchte mich. Warum war ich nicht einer von Bennys Gefolgsleuten? Dann hätte ich Yan jetzt „ganz nebenbei" kennenlernen können.
Aber nein ... Robbie (also ich) war der Typ mit dem komischen Klamottengeschmack, der „eigenartige" Musik hörte. Die Band, die ich geil fand – SUEDE –, konnten die meisten Leute in meiner Klasse nicht einmal richtig aussprechen! Und solche Typen (wie ich) waren nicht in Bennys Gruppe. Ich wurde zwar nicht als Letzter in die Basketballmannschaft gewählt – aber meist als Vorletzter. Und – ich glaube, Benny verachtete mich. Aber was wusste Frau Hellmann schon davon?!
Ich überlegte also fieberhaft – während ich hinter Yan saß und einen atemberaubenden Ausblick auf seinen schlanken Hals, seine kurzen dunklen Haare und seinen schmalen Rücken hatte – wie ich an ihn herankommen konnte.
Er war unerreichbar. Er war göttlich. Er war ...
„Hey du, hast du mal ein Blatt Papier für mich?"
Ich starrte ihn an, als wäre er gerade aus einem UFO gestiegen. „Häh? Was?"
Er hatte faszinierend braune Augen, so dunkelbraune, große Augen und lange schwarze Wimpern.
„Papier, Mann! Hast du einen Zettel für mich?"
Ich griff mit zitternden Händen nach meinem Collegeblock und riss einen Zettel für ihn ab.
„Hier, bitte."
Er nahm das Blatt und schenkte mir einen befremdeten Blick. Shit, er hielt mich für einen Idioten.
Das war sozusagen unser erster Kontakt – und seit diesem Augenblick gehe ich ihm aus dem Weg. Das heißt, ich schmachte ihn aus der Entfernung an. Und das ist verdammt hart.
III
when the rain falls ...
„Sag mal, Robbie – was ist los mit dir?" Janine passt mich am Eingang der Schule ab.
„Nichts, wieso?"
Sie sieht mich mit gerunzelter Stirn an. „Du bist seit einiger Zeit etwas ... ähm ... abwesend. Außerdem siehst du aus wie ein Gespenst! Hast du was?"
Ich kratze mir ein wenig verlegen am Kopf. „Ja, nein ..."
„Also, was nun?"
„Ich ... also, ich glaube, es ... liegt an dieser Klassenfahrt am Wochenende ..."
„Du meinst dieses Projektwochenende? Janine sieht verblüfft aus, dann beginnt sie zu kichern. „Sag mal, sonst bist du doch auch nicht so ... verklemmt!
Der Gong rettet mich vor weiteren Fragen und Vermutungen. Also an dem Thema unseres Projektwochenendes – das ist nämlich Sexualität – liegt es wohl nicht, dass ich so nervös bin. Ich hab mir über dieses Thema sicher schon mehr Gedanken gemacht, als die anderen Leute aus meiner Klasse. Ich habe nächtelang wach gelegen und gegrübelt, ob ich vielleicht nicht normal bin. Oder ob das vielleicht jeder Junge in meinem Alter durchmacht. Bis ich mich endlich mit dem Unvermeidbaren abgefunden habe. Ich bin nun mal homosexuell. Da gibt es nichts zu beschönigen ... Wobei es, genau betrachtet, sehr schön ist! Wenn auch manchmal ein wenig kompliziert ...
Lustlos schleiche ich Richtung Klassenraum. In der ersten Stunde haben wir Englisch, und wir schreiben einen Test. Englisch ist normalerweise mein Fach – doch an diesem Tag bekomme ich nichts auf die Reihe. Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren, denn ich muss ständig zu Yan rüberschauen. Der trägt heute nämlich eine verboten enge Hose und ein mindestens ebenso enges Shirt. Sein bloßer Anblick macht mich verrückt! Hilfe!
Als ich den Testzettel abgebe und Herr Wright einen kurzen Blick darauf wirft, sieht er mich mit gerunzelter Stirn an. „Alles okay mit dir, Robin?"
Ich nicke und weiß sofort, dass ich den Test völlig versiebt habe. So ein Mist!
In der ersten Pause bin ich so durcheinander, dass ich auf dem Weg in die Raucherecke mit Herrn Wiltow, unserem Direx, zusammenstoße. Natürlich habe ich die Kippe schon im Mundwinkel. Shit, was passiert wohl heute noch alles?
„Robin!"
Ich murmele eine Entschuldigung, doch als ich mich an ihm vorbeidrücken will, hält er mich fest.
„Hier geblieben.