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Haus der toten Engel: Thriller über die Jagd auf einen Serienkiller
Haus der toten Engel: Thriller über die Jagd auf einen Serienkiller
Haus der toten Engel: Thriller über die Jagd auf einen Serienkiller
eBook448 Seiten6 Stunden

Haus der toten Engel: Thriller über die Jagd auf einen Serienkiller

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Über dieses E-Book

Ein kleines Mädchen verschwindet spurlos aus einem Mehrfamilienhaus. Bei den Ermittlungen stößt die Polizei auf Verbindungen zu einem alten ungelösten und äußerst rätselhaften Fall, bei dem mehrere Kinder aus einem Kinderheim entführt wurden und ebenfalls spurlos verschwanden. Doch die Spuren führen zunächst in die falsche Richtung. Aber schon bald wird klar, dass es sich bei dem gesuchten Täter um einen Serienmörder handelt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. Mai 2022
ISBN9783347529861
Haus der toten Engel: Thriller über die Jagd auf einen Serienkiller
Autor

Ben Kossek

Der Autor, der unter dem Pseudonym "Ben Kossek" schreibt, wurde 1954 in Frankfurt am Main geboren. Er war über dreißig Jahre in einem großen Zeitungsverlag im Rhein-Main-Gebiet tätig, jedoch nicht als Schreiber, sondern als Techniker. Die Liebe zum Schreiben von Geschichten, vor allem von Thrillern und Krimis, hat ihn zwar schon lange Jahre begleitet, seine überwiegende Aufmerksamkeit galt in früheren Jahren jedoch der Fotografie, weshalb Ben Kossek erst 2019 seinen ersten Thriller veröffentlichte. "Tod in Amsterdam" wurde der Einstieg in eine neue Lebensphase künstlerischen Schaffens. Inzwischen wurde eine Trilogie vollendet. Weitere Titel folgten oder sind zur Zeit in Arbeit. Ben Kossek lebt mit seiner Familie heute in der Nähe von Koblenz. "Es bereitet mir Spaß, den Leser mit meinen Geschichten auf eine falsche Fährte zu locken, um am Ende für Überraschungen zu sorgen. Das erhöht für ihn die Spannung und das Lesevergnügen. Für mich als Autor ist es wichtig, dass der Leser meine Bücher mit Freude liest, dass er gespannt ist auf das, was kommt, dass er versucht, seine eigenen Schlüsse zu ziehen, um doch immer wieder überrascht zu werden. Das macht für mich die Freude am Schreiben aus, und für meine Leser soll es ein kurzweiliges und aufregendes Lesevergnügen sein."

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    Buchvorschau

    Haus der toten Engel - Ben Kossek

    Prolog

    21 Jahre zuvor

    Ein lauer, nächtlicher Sommerwind zwängte sich durch die geöffneten Oberlichter der hohen Fenster und bewegte mit einer sanften Brise die langen Vorhänge, als seien sie schemenhafte Gespenster, die im matten Leuchten des weißen Mondes durch die Dunkelheit des Schlafraums schwebten. Leise, beinahe geräuschlos, hatte er das Fenster, dass er vor zwei Tagen nur angelehnt hatte, geöffnet und war wie ein Schatten in die friedliche, sanfte Stille des Raumes eingestiegen. Sein Atem ging schnell, denn er war angespannt und erregt. Jedes Mal, wenn der Mond hinter den Wolken hervorlugte, spiegelte sich das matte, fahle Licht auf den dunkel glänzenden, mit Wachs sorgfältig gebohnerten Holzdielen des Fußbodens wider. Er liebte dieses Spiel von Licht und Schatten, weil es ihn stets aufs Neue faszinierte. Bewegungslos und voll der Erregung stand er so inmitten der nachtdunklen, unschuldigen Stille des Schlafraums, die ihn mit all ihrer Ahnungslosigkeit umgab und die nur durch die leisen und unregelmäßigen Atemgeräusche der schlafenden Kinder unterbrochen wurde, und lauschte. Er vernahm die Bewegung, wenn eines der Kinder sich im Schlaf in seinem Bettchen drehte, um gleich darauf wieder friedlich einzuschlafen.

    Heute Nacht war er gekommen, um sie endlich zu holen, die kleine Johanna mit ihren leuchtend blonden Haaren, so wie er schon die andere geholt hatte, aus dem Schlaf heraus und ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. Heute Nacht würde er sie holen und dann mit ihr verschwinden – für immer und für alle Zeit.

    In der Stille lauschte er auf jedes noch so kleine Geräusch. Von außerhalb des Schlafraums war nicht der geringste Laut zu hören, keine Schritte auf dem Flur, die näher kamen und ihn hätten stören können, und auch kein Lichtschein, der unter dem Türspalt hindurchschimmerte. Draußen auf dem Flur war es ebenfalls dunkel und still. Alle Bewohner des Hauses schienen wohl tief zu schlafen. Ein zufriedenes Lächeln überflog sein Gesicht und ließ ihn nun etwas ruhiger werden. Die fluoreszierenden Zeiger der Armbanduhr an seinem Handgelenk zeigten ihm, dass es gerade kurz vor vier Uhr war. Es war genau die richtige Zeit, um sein Werk in Angriff zu nehmen und das zu tun, wozu ihn seine innere Unruhe, dieser gnadenlose Dämon, schon seit vielen Tagen trieb! Diese erstickende und fortwährende Unruhe, die so unerbittlich war, die ihn des Nachts nicht schlafen ließ und ihn beinahe in den Wahnsinn getrieben hatte! Dieser verdammte Dämon!

    Mit vorsichtigen Schritten bewegte er sich wie ein Schatten in den Raum hinein. Das leise Knarren der Bodendielen begleitete jeden seiner Schritte. Gezielt ging er nun auf eines der Bettchen zu, in dem die kleine Johanna selig und ahnungslos schlief. Wovon sie wohl gerade träumt, fragte er sich, ohne den Blick von ihr zu lassen.

    Begonnen hatte alles vor ungefähr fünf Jahren mit der kleinen Marie, die er am helllichten Tag vom Spielplatz des Kinderheims geholt hatte. In einem unbeobachteten Augenblick hatte er zugeschlagen. Schnell und geräuschlos. Und niemand hatte etwas bemerkt. Er hatte den kleinen Moment abgepasst, in dem sich Marie hinter einem der Büsche versteckte. Erst einige Minuten später war einer Betreuerin aufgefallen, dass das Mädchen nicht mehr da war. Sie riefen laut nach ihr und suchten sie in ihrer Angst und Verzweiflung. Aber da hatte er sie schon in den hellen Lieferwagen gebracht, den er zuvor in einiger Entfernung, aber nahe genug, hinter einer Wegbiegung versteckt abgestellt hatte. Welch ein Triumph war das für ihn gewesen! Und welch ein Hochgefühl zugleich! Es war damals sein erstes Mal!

    Von diesem Moment an war das Spannungsgefühl und der ganze Druck, der sich immer über Wochen hinweg langsam, aber stetig in ihm aufgebaut hatte, völlig verschwunden. Diese verdammte, gnadenlose Sucht, dieser Zwang, etwas darstellen zu müssen, Beachtung zu finden, wichtig zu sein für diese Gesellschaft, war zufriedengestellt. Und wenn ihm die Gesellschaft nicht die Würdigung und Aufmerksamkeit zukommen lassen wollte, die er verdient hatte und die er von ihr forderte, würde er sie dazu zwingen müssen, sie ihm zu gewähren! Und das hatte er dann getan! Er hasste seinen Vater dafür, dass er ihm dieses Gefühl der Wertlosigkeit gegeben hatte, dass er ihm, seinem einzigen Sohn, das alles angetan hatte. Sein Vater war es, der ihn dazu gemacht hatte, was er jetzt war – ein gottverdammtes Monster! Aber damals, als er sich Marie geholt hatte, fühlte er sich danach frei, unbesiegbar, unüberwindlich. Das kleine hilflose Mädchen in seiner Gewalt zu haben gab ihm das Gefühl von Stärke und befreite ihn! Es gab ihm die Illusion von unbegrenzter Macht! Nur zu schade, dass er die kleine Marie danach verschwinden lassen musste. Er hatte das Mädchen töten müssen, nachdem er seine Spielchen mit ihr vollzogen hatte und dieses berauschende Gefühl von Überlegenheit und Unverwundbarkeit, dass vorübergehend wie eine böse Droge Besitz von ihm ergriffen hatte, ihn dann am Ende doch wieder verlassen hatte – als wäre die Energie verbraucht wie bei einer Batterie. Und dann – er konnte sie ja unmöglich wieder laufen lassen. Sie hätte ihn womöglich noch verraten.

    Also hatte er sie getötet und vergraben. Dort, wo man sie so schnell nicht finden und keiner nach ihr suchen würde. Aber dieses fatale, kranke und besessene Verlangen ließ ihn von nun an nicht mehr in Ruhe. Er spürte wohl, dass er krank war, aber er konnte sich nicht dagegen wehren! Er hatte sich danach, zwei Jahre später, ein weiteres Opfer holen müssen, die kleine süße Silvie. Wie heute war er in der Nacht in den Schlafraum der Kinder eingedrungen und hatte sie geholt. Die Sucht hatte sich wieder aufgebaut und ihn ohne Erbarmen gezwungen, ihr ein weiteres Mal zu folgen. Er konnte nicht anders. Und heute war es nun wieder so weit. Drei Jahre hatte er widerstanden. Doch er konnte dieses ungestüme Verlangen, das von Zeit zu Zeit immer wieder Besitz von ihm ergriff, dieser unbändige Dämon, der ihn wie ein Raubtier in seinen Krallen hielt, einfach nicht auf eine andere Art und Weise besänftigen. Er hatte es mit aller Kraft versucht, aber es war das Böse in ihm, dass sich gegen seine Bemühungen zur Wehr setzte und ihn nicht mehr zur Ruhe kommen lassen wollte! Das Böse, dass er selbst gerufen hatte, dass er zugelassen hatte, dass er in sich hatte wachsen lassen … und das ihn nun ohne Unterlass quälte!

    Leise knarzte der Boden unter seinen bedachten Schritten, als er sich dem Bettchen näherte, in dem die kleine Johanna lag und fest schlief. Er hatte sie schon eine ganze Weile lang beobachtet, um herauszufinden, ob sie auch die richtige war. Aber nun war er sich sicher. Johanna war genau die richtige! Das Böse, das ihn die ganze Zeit über beherrschte, hatte ihn zu diesem kleinen sanften Mädchen geführt. Und das Böse, dieser Dämon, irrte sich nie!

    Plötzlich schien sich eines der Kinder ganz in der Nähe zu bewegen! Er hielt den Atem an und sah sich um, konnte aber im Dunkeln nicht erkennen, welches der Kinder es war. Still wartete er nun ab und rührte sich nicht von der Stelle, bis es sich wieder beruhigt hatte und endlich weiterschlief. Oder hatte es ihn soeben doch bemerkt und beobachtete ihn nun aus ängstlichen Augen? Hatte es seinen Schatten im Dunkeln gesehen und vielleicht seinen schweren, unruhigen Atem gehört? In der Düsternis des Schlafsaals konnte er das nicht ausmachen. Soeben verschwand der Mond hinter einem Wolkenband und es wurde wieder dunkler im Raum. Er trat zitternd vor Erregung geräuschlos neben das Bettchen der kleinen Johanna und beobachtete sie. Wie sie dort lag in ihrer Unschuld und Unwissenheit und tief und selig träumte. Nichts ahnend vom dem, was gleich geschehen würde! Ja, sie war wirklich perfekt, so wunderschön und so zart. Erneut fielen jetzt die Strahlen des Mondes durch die Fenster herein und streiften ihr zartes und unschuldiges Gesichtchen, dass aussah wie reines, weißes Porzellan. Er stand still neben ihr und war beinahe ergriffen von dieser weichen Schönheit. Eine kleine Ewigkeit wagte er nicht, sich zu bewegen, verharrte auf der Stelle und starrte sie nur an unter seiner Maske. Doch dann, ganz plötzlich, schien ihn die innere Stimme anzutreiben. ‚Mach‘ es endlich! Warte nicht damit, sonst ist es noch zu spät! Tue es jetzt!‘ Die innere Stimme gab nie auf. Und sie war immer da. Das Böse drängte ihn erbarmungslos, endlich zu handeln und sein Werk zu vollbringen.

    Er nahm nun das weiße Tuch aus der Tasche und das kleine Fläschchen mit der durchsichtigen Flüssigkeit und gab eine kleine Menge davon in das Tuch. Dann ließ er das Fläschchen wieder in seiner Jackentasche verschwinden und beugte sich zu Johanna hinab. Er drückte ihr das Tuch erst nur sanft, und dann, als sie erwachte und sich zu bewegen begann, fester in ihr wunderschönes Puppengesicht. Das Mädchen zappelte kurz, als sie spürte, was mit ihr geschah, jedoch nur, um gleich darauf wieder in tiefer Bewusstlosigkeit zu versinken. Schnell ließ er das Tuch wieder in seine Jackentasche gleiten, dorthin, wo sich schon das Fläschchen befand, denn die innere Stimme ermahnte ihn nun zum wiederholten Mal, sich zu beeilen. Er beugte sich eilig hinunter und schob seine Arme unter den kleinen Körper, der nun schlaff und schwer wirkte. Er hob sie hoch und legte sie vorsichtig über seine Schulter, um sie besser tragen zu können.

    Wieder schien sich eines der Kinder zu bewegen, und er verharrte einen Augenblick, um zu lauschen und es wieder einschlafen zu lassen. Als er nach einer kleinen Weile keine weiteren Geräusche vernahm, ging er vorsichtig durch den Raum hinüber zu dem Fenster am Ende des Schlafsaals, durch dass er auch hereingekommen war. Er hatte es nur angelehnt und öffnete es jetzt leise. Ein kaum hörbares Quietschen der Angeln war zu hören, zu leise, um jemand auf ihn aufmerksam zu machen. Ohne ein weiteres Geräusch zu verursachen, stieg er mit dem rechten Bein durch das nun offene Fenster, und als er mit seinem Fuß draußen festen Boden spürte, schlüpfte er hindurch und zog den Fensterflügel hinter sich wieder leise bei, so dass es den Anschein hatte, als sei er nie geöffnet worden. Der nächtliche Sommerwind streifte der kleinen Johanna durch die hellen Haare, die jetzt lang auf seinen Rücken herabfielen.

    Mit der Zeit wurde die kleine Last, die er auf seiner Schulter trug, schwerer. Er blickte sich um. Der Mond tauchte gerade wieder hinter einem der zahlreichen Wolkenfelder auf und beleuchtete die grauen Mauern des Engelhauses und die Bäume, Büsche und Hecken mit seinem weißen, matten Leuchten. Nur wenige Tage vor Vollmond, dachte er gerade. Aber er konnte beruhigt sein. Keine Menschenseele schien außerhalb des Hauses auf dem Gelände zu sein. Alles lag in tiefem Schlaf. Doch ihm entging die schmale Gestalt, die im Schutze einer Hecke kauerte und ihm und seinem Tun mit starrem, entsetzten Blick folgte. Die Gestalt rührte sich nicht von der Stelle, blieb in ihrer Angst im Verborgenen und rührte sich nicht, um ihn nicht noch auf sich aufmerksam zu machen, aber sie hatte ihn genau beobachtet!

    Eilig und in leicht geduckter Haltung lief er im Laufschritt über die Wiese hinter dem Haus und hinüber zu der niedrigen Steinmauer, die den Garten des Anwesens umgab und gegen die umliegenden Felder und Wiesen abgrenzte. Und ohne das Mädchen von der Schulter zu nehmen, stieg er jetzt zügig über die nur kniehohe Mauer und folgte einem schmalen Pfad. Das Mondlicht wies ihm den Weg, und am Ende des Pfades stand sein alter Lieferwagen, den er dort im Schatten einiger Bäume abgestellt hatte. Es war vollbracht! Er hatte sich die kleine Johanna geholt, so wie es ihm der Dämon in seinem Inneren befohlen hatte!

    „Ich bringe dir dein Opfer, bald schon, aber lass‘ mich jetzt endlich in Ruhe, du verdammter Dämon", murmelte er vor sich hin, als wäre noch jemand an seiner Seite, der neben ihm stand, während er das kleine bewusstlose Mädchen endlich auf der Rückbank des Wagens ablegte und dann eilig nach vorne lief, um den Motor zu starten. Seine Hände zitterten stark vor Erregung und er keuchte vor Anstrengung, ohne den Zündschlüssel umzudrehen. Er saß einfach nur da und schien auf etwas zu warten.

    Erst jetzt wurde er gewahr, wie ihm der Schweiß aus allen Poren strömte. Sein Hemd klebte auf seiner Haut, und Zweifel nagten an ihm, weil er immer noch keine Veränderung spüren konnte. Warum ließ sie dieses Mal so lange auf sich warten, die Erlösung?

    Doch dann war es plötzlich wieder da, jenes Hochgefühl, das er so sehnsüchtig erwartet hatte und das ihm seine Ruhe wieder geben sollte. Ganz langsam und unscheinbar kam es nach oben, kroch in ihm hoch wie ein böses, hämisch grinsendes Tier, das ihn unbesiegbar und wertvoll machte, und wurde immer stärker. Es erfasste ihn, hob ihn vom Boden hoch und ließ ihn schweben, beinahe schwerelos, befreite ihn von allen Spannungen, von allen Ängsten und von dieser Sucht und dem Zwang zu handeln, die auf ihm gelastet hatten! Er spürte, wie sich jede Zelle in seinem Inneren mit jener wunderbaren und geheimnisvollen Energie aufzuladen begann, die ihn so stark und unbesiegbar, so selbstbewusst und frei werden ließ. Oh ja, nun war er endlich wieder der Alte! Er war wieder er selbst, frei von seinem Dämon. Und dann wurde es plötzlich ruhig und still in ihm.

    Er würde immer wieder auf die Jagd gehen müssen, seinem unerbittlichen und gnadenlosen Trieb folgend, doch war er sich auch der unausweichlichen Tatsache bewusst, dass sie ihn eines Tages erwischen würden, vielleicht schon sehr bald, vielleicht auch erst in vielen Jahren. Aber irgendwann ganz sicher. Wer konnte das schon wissen? Doch bis es so weit war, würde er seine teuflische und todbringende Mission fortführen, die ihm das Böse in seinem Inneren aufzwang. Er würde einfach immer weitermachen müssen, denn der gnadenlose Dämon, der ihn so sehr im Griff hatte, würde keine Ruhe geben und ihn so lange quälen, bis er endlich wieder auf die Suche ging. Das war nun mal sein verdammtes Schicksal!

    Aber daran wollte er jetzt nicht denken, nicht heute!

    Ein befreites Grinsen flog über sein Gesicht, als er das kleine, bewegungslose Mädchen auf der Rückbank hinter sich ansah. Johanna lag still und friedlich da. Aber sie würde bald wieder zu sich kommen, und bis dahin musste er zurück sein. Er drehte den Zündschlüssel, und der Motor startete mit einem tiefen Brummen in der Dunkelheit der Nacht.

    Erster Teil

    Suche

    „Die wirklich großen Erkenntnisse,

    sie liegen in ungeheuren Abgründen,

    wo man sie sucht,

    nicht an jenen sichtbaren und greifbaren Örtlichkeiten,

    wo man sie zu finden meint."

    Edgar Allen Poe (1809-1849)

    AARON

    Erinnere dich!

    Mit einem lauten Knall, dessen Echo von den kalten Betonwänden des Ganges noch verstärkt zurückgeworfen wurde und in der Luft spürbar nachvibrierte, schloss sich die schwere Metalltür hinter ihm und seinem Begleiter. Ihre Schritte erzeugten ein laut trommelndes Geräusch auf dem gefliesten Boden, waren fast im gleichen Rhythmus. Doch nur wenige Sekunden lang, nur ein paar Schritte, dann wieder eine dieser Türen, wieder dieser Summton, der quälend in seine Ohren drang und signalisierte, dass die nächste Schleuse vor ihnen nun entriegelt war. Der Mann in der Uniform, der ihn begleitete, zog mit einem kräftigen Ruck am Griff, und mit einem erlösenden Klacken des Schlosses erlosch der Summton. Er ging durch die Schleuse und blieb gleich danach wieder stehen, der Uniformierte folgte ihm. Ein übler, stechender Schmerz im Kopf begleitete jeden einzelnen seiner Schritte. Dann wieder der laute Knall, als auch diese Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Wieder dieses Stechen, als hätte ihm jemand einen Pfeil durch den Schädel gejagt. Das dröhnende Summen und Knallen der Türen hatte etwas Endgültiges, etwas Unabänderliches und gleichzeitig etwas Abscheuliches. Er hatte das Gefühl, als würde sich sein Gehirn in der Flüssigkeit, in der es schwamm, überschlagen.

    Die Handschellen scheuerten an seinen Handgelenken, was ihn jedoch nicht weiter störte. Wenn das alles war, was er ertragen musste, dann wollte er sich nicht beklagen. Schließlich hatte er es auch nicht anders verdient! Und ihm stand auch keine Sonderbehandlung zu, nur weil er ein Bulle war. Er hatte offensichtlich einen Fehler gemacht und würde dafür geradestehen. Das gebot ihm alleine schon sein Ehrgefühl. Er hatte sich hinreißen lassen, hatte das Gesetz, so wie es aussah, selbst in die Hand genommen, sich zum Ankläger und Richter in einer Person aufgeschwungen. Und alles nur, um dieses elende Schwein nicht davonkommen zu lassen! Doch das war gegen das Gesetz! Und er hatte etwas getan, was er nicht hätte tun dürfen.

    Er, der Bulle, hatte die Kontrolle verloren!

    Oder etwa doch nicht? Er wusste es nicht.

    Er konnte sich nicht erinnern!

    Als sie wenige Augenblicke später den kahlen, mit einem schmutzig-hoffnungslosen Gelbton gestrichenen Besucherraum mit den in unerreichbarer Höhe angeordneten, schmalen Oberlichtern betraten, die jeden Blick nach draußen verwehrten, saß nur ein einziger Mann an einem der sechs Tische. Er trug einen teuren, dunkelgrauen Anzug, und auch die Ledertasche, die er vor sich auf der Tischplatte abgelegt hatte, erweckte den Eindruck, dass sie nicht gerade in das Budget eines Hauptkommissars, in sein Budget, passen würde. Der Mann hatte dichte graue Haare, die ihm fast bis auf die Schultern fielen, und er sah ihn mit interessierter Wachsamkeit durch seine randlose teure Brille an. Kannte man diesen Mann nicht, so würde man wohl sagen: Typisch Anwalt eben!

    Er kannte diesen Mann, und er kannte ihn verdammt gut. Er kannte jede seiner Macken, seine negativen wie positiven. Er kannte vor allem seine Großzügigkeit, seine Zuverlässigkeit, seine Loyalität, und er kannte auch den Menschen, der in diesem teuren Outfit steckte. Sie hatten schon gemeinsam das Gymnasium besucht und zusammen im gleichen Jahr das Abitur gemacht. Sie hatten mit einer verschworenen Clique als Abi-Streich in der Nacht vor der großen Abschlussfeier die Tür zum Lehrerzimmer zugemauert, sich sogar in das gleiche Mädchen verliebt, ohne sich deshalb zu entzweien, und sich ein ganzes Leben lang begleitet und nie aus den Augen verloren. Er konnte sich nicht einmal erinnern, ob es je einen Menschen gab, der sein Leben länger begleitet hatte als Lennard. Nicht einmal Mutter hatte das geschafft! Aber nicht nur das: Er und Lennard waren viel mehr als nur einfach Freunde, sie waren so etwas Heiliges wie Blutsbrüder!

    Er nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz.

    „Nehmen Sie ihm bitte die Handschellen ab", murmelte der Mann, der Lennard hieß und nicht nur sein Freund war, sondern auch sein Anwalt, in Richtung des Vollzugsbeamten, der neben der Tür stand. Dieser kramte murrend und umständlich einen Schlüssel hervor und entfernte die metallenen Fesseln. Man wurde den Eindruck nicht los, dass ein Polizeibeamter, gleich welchen Dienstgrads, der sich eines Vergehens schuldig gemacht hatte oder auch nur im Verdacht stand, etwas derartiges getan zu haben, schlimmer behandelt wurde als ein normaler Straftäter von der Straße. Warum dies so war? Eine der Fragen, auf die er keine Antwort hatte. Für einen Polizisten war so etwas allem Anschein nach tabu.

    „Wie geht es dir, Aaron?" Die Frage war voller Mitgefühl und erfüllt von einem ehrlichen, tiefen Bedürfnis, helfen zu wollen. Er erkannte sofort die Besorgnis, gepaart mit einer gewissen Ratlosigkeit in den Augen seines guten Freundes, und ja, es schmerzte ihn! Lennard hatte doch sicher genug anderes zu tun. Musste er ihm jetzt auch noch Sorgen und Schwierigkeiten bereiten und ihm seine kostbare Zeit stehlen? Was war nur in ihn gefahren am vorgestrigen Abend? Sein schlechtes Gewissen meldete sich.

    „Ich weiß es nicht, Lennard. Ich fühle mich leer und von mir selbst verlassen. Alles fühlt sich unwirklich und falsch an. Wie konnte ich nur so etwas tun, einen Menschen erschießen! Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist und kann mich auch nicht erinnern. Er sah Lennard mit einem Blick an, der seine innere Verzweiflung offenbarte, die diesen in höchstem Maße erschrecken ließ. „Tut mir wirklich leid, dass ich dich jetzt brauche.

    „Wir sind Freunde, schon vergessen? Und richtige Freunde helfen sich, wenn sie einander brauchen. Du glaubst also, du hast ihn erschossen." Lennard Brunnhäuser, der sein Freund und Anwalt war, betonte diesen Satz nicht als Frage, sondern als nüchterne Feststellung, die er jedoch offensichtlich nicht zu teilen schien. Das sagte sein Blick, der deutliche Zweifel an der ganzen Geschichte erkennen ließ.

    „Alles deutet darauf hin, ja doch!"

    Hauptkommissar Aaron Kramer versuchte erneut, sich zu erinnern und den Film noch einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen zu lassen – zum hundertsten Mal. Ohne jeden Erfolg! Die Faktenlage war auf den ersten Blick eindeutig und klar. Man hatte ihn, Hauptkommissar Aaron Kramer, in der vorletzten Nacht festgenommen wegen des Verdachts, er habe einem Menschen in den Rücken geschossen und dabei getötet. Er selbst wurde bewusstlos am Boden liegend unter einer Unterführung nahe des Rheinufers aufgefunden, mit der Dienstwaffe in seiner Hand, aus der unwiderlegbar zwei Schüsse abgefeuert worden waren. An seiner rechten Hand konnten eindeutig Schmauchspuren festgestellt werden, die belegten, dass er geschossen hatte. Und nur wenige Meter entfernt lag der Mann, den er an diesem Abend beschattet hatte und der durch einen der beiden Schüsse getötet worden war. Die Kugel war ihm in den Rücken eingedrungen und hatte das Herz getroffen. Er musste sofort tot gewesen sein, so die Annahme der Rechtsmediziner! Und – diese Kugel stammte zweifelsfrei aus seiner Dienstwaffe, die obendrein auch noch keine Fingerabdrücke außer seinen eigenen aufwies! Das zweite Projektil hatte man allerdings bisher am Tatort noch nicht finden können. Das waren zunächst einmal die mehr als eindeutigen Fakten! Und die sahen nicht gut aus für den Hauptkommissar.

    Der Tote hieß Elmar Kohnen, 36 Jahre alt. Er wurde bereits mit 24 Jahren wegen Entführung und sexuellen Missbrauchs an einem zehnjährigen Mädchen zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das völlig verstörte und verängstigte Kind hatte man lebend in seiner Wohnung auffinden können, nachdem Hinweise aus der Nachbarschaft bei der örtlichen Polizeidienststelle eingegangen waren. Elmar Kohnen hatte noch während seiner Inhaftierung verschiedene Resozialisierungsprogramme durchlaufen und befand sich seit zwei Jahren wieder auf freiem Fuß. Nun aber hatte sich der Verdacht erhärtet, dass genau dieser Kohnen etwas mit dem äußerst rätselhaften Verschwinden eines kleinen Mädchens zu tun haben könnte. Die gerade erst siebenjährige Annalena Strobel war vor drei Tagen aus einem Mehrfamilienhaus im Bonner Stadtteil Limperich spurlos und auf sehr merkwürdige Weise verschwunden. Kohnens neue Wohnung lag in genau diesem Haus, in dem auch Annalena mit ihrer Mutter wohnte. Und damit war er sofort in den Fokus der Polizei geraten. Sie hatten Kohnen im Rahmen der Ermittlungen mehrfach befragt und seine Wohnung regelrecht auseinandergenommen, dabei jedoch nichts Auffälliges gefunden. Der Anfangsverdacht hatte sich nicht bestätigt. Dennoch wurde er von nun an rund um die Uhr beschattet. Und diese Aufgabe hatte er, Hauptkommissar Aaron Kramer, mit seiner neuen Kollegin, der jungen Kommissarin Tilla Wendler, übernommen. Tilla, sie war erst vor wenigen Tagen als frischgebackene Kommissarin auf seine Dienststelle versetzt worden, hatte Aaron an diesem Abend begleitet.

    Höchst seltsam waren die Umstände des Verschwindens von Annalena Strobel. Eine Freundin des Mädchens wollte Annalena nachmittags zum Spielen auf dem Spielplatz hinter dem Haus abholen. Die Mutter sagte noch über die Gegensprechanlage, dass Annalena gleich nach unten kommen würde. Sie sei gerade dabei, ihre Jacke aus dem Kinderzimmer zu holen. Danach verließ das Mädchen die Wohnung. Als die Mutter eine halbe Stunde später auf dem Weg in den Keller nach unten kam, fand sie die Freundin immer noch wartend vor. Auf die besorgte Frage der Mutter, wo Annalena sei, antwortete die Freundin, sie wisse es nicht. Annalena sei noch nicht heruntergekommen. Die Mutter hatte sofort im und um das Haus nach dem Kind gesucht, hatte bei den Nachbarn geklingelt. Auch einige dieser Nachbarn hatten sich spontan bereiterklärt, im ganzen Haus und in der Umgebung nach Annalena zu suchen. Das Kind wurde nicht gefunden, worauf die Mutter dann schließlich gegen 18 Uhr die Polizei verständigte.

    Von der kleinen Annalena fehlte seitdem jede Spur – seit vier Tagen! Auch eine sofort eingeleitete große Suchaktion war erfolglos geblieben. Die Suche lief auch weiterhin auf Hochtouren. So viel zur Vorgeschichte.

    „Du bist dir also wirklich sicher, dass du ihn erschossen hast?" Jäh unterbrach Lennard Brunnhäuser Aaron Kramers Gedanken.

    „Lennard, ich bitte dich! Wonach sieht das denn deiner Meinung nach aus? Ich hatte meine Dienstwaffe in der Hand, aus ihr wurden zwei Schüsse abgegeben, von denen der eine sein Herz durchbohrt hat. Beide Geschosse stammen eindeutig aus meiner Dienstwaffe, und an meiner Hand fand man Schmauchspuren. Hast du eine andere Erklärung?"

    Lennard sah Aaron mit einem langen, eindringlichen Blick an, als versuche er in Erfahrung zu bringen, was hinter der Stirn seines besten Freundes vor sich ging.

    „Und du erinnerst dich daran, dass du geschossen hast?"

    „Nein, natürlich nicht."

    „Warum um alles in der Welt bist du so überzeugt, dass du es getan hast, Aaron? Ich möchte dich nur daran erinnern, du lagst mit einer Kopfwunde am Boden, mit dem Gesicht nach unten. Alles deutet darauf hin, dass du von hinten niedergeschlagen wurdest. Und du kannst dich nicht einmal daran erinnern, abgedrückt zu haben. Das ist doch äußerst merkwürdig, oder etwa nicht?"

    „Ja, schon. Mir fehlt jede verdammte Erinnerung an die letzten Momente vor den Schüssen. Vielleicht hat mich jemand niedergeschlagen, nachdem ich geschossen habe. Vielleicht … um genau das zu verhindern. Aber dieser Jemand kam wohl zu spät!"

    Lennard Brunnhäuser erhob sich mit einem lauten Seufzer und ging einige Schritte im Raum auf und ab, so wie man es tat, wenn man sich sammeln und konzentrieren wollte. Die Hände vergrub er so tief es ging in den Hosentaschen. Dann lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand hinter seinem Stuhl, so dass er Aaron gegenüber stand und ihn genau in Blickrichtung hatte. Er sah kurz auf seine glänzenden, polierten italienischen Schuhe, die er letztes Jahr im Urlaub in Rom gekauft hatte, und ließ nun einen fast verzweifelt klingenden Seufzer hören.

    „Genau das ist das Problem, Aaron. Genau hier liegt der verdammte kleine Unterschied. Wurde deine Waffe vor oder nach dem Schlag auf deinen Kopf abgefeuert. Genau das ist bei all diesen Fragestellungen der alles entscheidende Aspekt. Davor oder danach." Mit einer wiegenden Hin-und-Her-Bewegung seiner Hände verdeutlichte er die beiden möglichen Varianten in eine bildliche Sprache.

    „Du meinst …"

    „ … dass jemand dich niedergeschlagen und dann den Kerl mit deiner Waffe erschossen hat. Ich meine das nicht. Es ist nur eine von einigen Möglichkeiten."

    „Aber warum …"

    „ … er dir danach wieder die Waffe in die Hand gedrückt hat? Um den Verdacht auf dich zu lenken. Und um ein zweites Mal abzudrücken – wegen der Schmauchspuren. Für mich klingt das gar nicht so abwegig."

    „Lennard, warum sollte jemand so etwas tun? Und vor allen Dingen wer?"

    „Ganz ehrlich – ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber es ist, wenn du meine ziemlich unbedeutende Meinung hören willst, die wahrscheinlichste Variante. Ich bin zwar kein Bulle, aber mein bester Freund ist einer und er ist jemand, der mir viel beigebracht hat, was strategische Analysen verschiedener Möglichkeiten angeht."

    „Danke für das Kompliment. Allerdings haben wir für deine These keinerlei Beweise. Für mein Fehlverhalten aber jede Menge."

    „Nicht ganz. Wir haben den Schlag auf deinen Kopf! Du hast dich höchstwahrscheinlich nicht selbst niedergeschlagen, oder?", fragte Lennard ironisch.

    „Nicht, dass ich mich erinnern könnte."

    „Dann erkläre mir doch bitte, weshalb du zwei Mal auf den Kerl geschossen, aber nur einmal getroffen hast?"

    „Ich … muss nicht zweimal schießen …"

    „Genau, Aaron – weil du einer der besten Schützen bist, die ich kenne. Wenn du ihn erschossen hättest, wäre kein zweiter Schuss nötig gewesen. Ein Schuss, und fertig! Auf diese Entfernung sowieso. Du warst schon immer verdammt gut. Du erinnerst dich doch noch an die lustige und äußerst köstliche Anekdote mit deinem damaligen Ausbilder beim Schießtraining auf der Polizeischule? Mein Gott, wie oft hast du mir die erzählt! Wir haben uns jedes Mal gebogen vor Lachen! Du erinnerst dich?"

    Mit einem Mal legte sich ein leicht verstohlenes Grinsen auf Kramers Gesicht. Er sah den Kerl noch heute vor sich, sein überhebliches und selbstzufriedenes Breitbackengesicht in der gespannten Erwartung, den Grünschnäbeln am Schießstand mal so richtig zu zeigen, wo der Hammer hing. Das Ziel, ein Pappganove in leicht gebückter Haltung und einer Pappwaffe in der Hand, mit einem weißen Kreis im Gesicht und einem im Brustbereich. Die beiden Kreise hatten den Durchmesser von je fünfzehn Zentimetern, und die galt es nach Möglichkeit zu treffen.

    „Jetzt gut aufgepasst, Jungs, damit ihr euch nicht die Fußnägel wegschießt, wenn ihr dran seid! Den Ohrenschutz auf und dann hergesehen!"

    Nachdem alle ihren Ohrenschutz aufgesetzt und hinter dem Ausbilder Aufstellung bezogen hatten, um ja keine Phase seiner lehrreichen Demonstration zu verpassen, zwinkerte er ihnen kurz und gönnerhaft zu, stellte sich, die Füße schulterbreit auseinander, in Schussposition und ging dabei leicht in die Knie. Dann hob er die Waffe, eine übliche Dienstpistole, zum Anschlag. Fünf Schüsse donnerten durch die Schießhalle, alle in einem Abstand von etwas weniger als einer Sekunde. Dann setzte er die Waffe ab und zeigte den Grünschnäbeln sein breites Hab-ich‘s-euch-doch-gezeigt-Grinsen. Und nachdem man nun den Pappganoven herangeholt hatte, waren fünf Einschusslöcher oben im Gesichtskreis zu sehen, keines mehr als eine Daumenbreite vom nächsten entfernt! Mit einem übertrieben gefälligen Gesichtsausdruck baute sich der Kerl nun vor der Mannschaft auf. Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Einschüsse und sagte:

    „Nicht, dass ich das von euch erwarten würde, aber versucht wenigstens, den Pappkameraden zu treffen. Wer will als Erster?" Da sich natürlich keiner der anderen aktiv nach vorne drängte, bohrte sich sein Zeigefinger vom Pappkameraden weg geradewegs in Aarons Richtung. Auf die ihm eigene provozierende Art, begleitet von einem hämischen Grinsen, wie nur er es konnte, polterte er los.

    „Kramer, Sie haben doch sonst immer eine große Klappe. Wie wär’s denn mit Ihnen? Vielleicht wollen Sie mal den Anfang machen! Wollen doch mal sehen, ob das hiermit genauso gut geht. Damit gab er Kramer die nachgeladene Pistole in die Hand und knurrte ihm noch zu: „Und beim Abdrücken die Augen aufmachen, sonst sind die Zehen ab. Dann los!

    Aaron hatte noch genau vor Augen, wie er nach vorne getreten war, in Position ging, die Waffe hob und zielte. Wieder fielen fünf Schüsse, doch die Schussfolge war hörbar schneller. Allerdings war schon aus der Entfernung zu sehen, dass sich kein einziges Einschussloch in einem der beiden weißen Zielkreise befand.

    „Na, dann wollen wir doch mal nachsehen, ob die vielleicht in der grünen Wiese gelandet sind, was Männer?" Die ganze Gruppe begann zu lachen, und das Lachen klang verdammt hämisch in seinen Ohren.

    Dann wurde der Pappganove nach vorne gefahren, und je näher er herankam, desto ruhiger wurde es in der Gruppe. Und dann plötzlich rief einer der Jungs:

    „Scheiße, der hat dem Pappes die Glocken durchlöchert!"

    Es wurde merkwürdig still, beinahe hätte man sagen können, totenstill. Das hämische Gelächter und Getuschel aller Umstehenden einschließlich des Ausbilders erstarb.

    Dort, wo sich normalerweise die Genitalien des Pappganoven hätten befinden müssen, klaffte ein größeres Loch, dass an den Rändern ziemlich ausgefranst war. Alle fünf Einschüsse lagen so dicht beieinander, dass es wie ein einziger Treffer aussah. Mit reglosem Gesichtsausdruck glotzte der Ausbilder auf das Loch.

    „Alle fünf in den linken Hoden", sagte ein anderer.

    „Du Blindfisch, es ist der rechte", grinste der nächste.

    Der Ausbilder ließ ein verächtliches Zischen hören, dann sagte er in einem abfälligen Ton, dem jedoch jede Art von Überheblichkeit abhandengekommen war:

    „Vorbei! Keiner im weißen Kreis! Ab in die Mittagspause." Dann stampfte er trotzig brummend von dannen und ließ seine Schützlinge einfach stehen, ohne sie wissen zu lassen, weshalb die Schießübung so plötzlich beendet war und die Mittagspause heute eine halbe Stunde früher begann.

    Aaron Kramer musste nach diesem denkwürdigen Vorfall nie wieder am Schießstand als erster antreten.

    „Das war eine richtig geile Nummer", antwortete Kramer

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