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Lila in der Entropie
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eBook113 Seiten1 Stunde

Lila in der Entropie

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Über dieses E-Book

"Ich vermisse dich so sehr, mein Ohr ist einfach abgefallen.
Ich musste es nicht einmal abschneiden.
Eines Morgens lag es neben mir in meinem Bett.
Ich habe es in der Küche aufgehängt, dort, wo ein Bild von uns hätte sein müssen."

In dieser zwischen Novelle und verrätselter Dichtung changierenden Erzählung wird die Existenz Gottes infrage gestellt, als die Protagonistin eine Trennung durchleidet - und ihr der Glaube zurückgegeben, als sie sich einer zweiten tiefen Krise stellen muss. Während dieses Prozesses erkennt sie in den sich schließenden Kreisen des Lebens den Sinn eines der Entropie ausgelieferten Diesseits. Denn Gott, der, einsam geboren, voller Wut diese chaotische und grausame Welt schuf, schenkte ihr zum Ausgleich auch die Schönheit - in all ihrer Vergänglichkeit.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Apr. 2021
ISBN9783347247253
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    Buchvorschau

    Lila in der Entropie - Noush Talaii

    TEIL 1

    Als Gott verloren ging

    Einen Monat davor

    Es war vorüber, als sein Vater an einem Wintermorgen betrunken die Treppe hinunterstürzte, sich den Kopf stieß und auf dem Fußboden des Wohnzimmers verblutete. Eigentlich war es schon vorüber zwischen ihm und mir, als sein Vater einige Tage zuvor beschloss, allein in das Ferienhaus zu fahren. Im Nachhinein hätten sich alle gewünscht, sein Vater hätte jemanden mitgenommen, ihn vielleicht oder sogar nur irgendeinen Freund.

    Oft stelle ich mir vor, dass die Sonne schien, als er starb. Dass ihre Strahlen, voller Erbarmen, das Zimmer und den Garten, in den er hinaussah, während er starb, erfüllten.

    Ich stelle mir vor, dass seine Augen sich erhellten und er sich stark fühlte, noch ein letztes Mal.

    Ich hoffe, dass die Heizung richtig eingestellt war und ihm genug Wärme geschenkt wurde. Ich hoffe, dass der Wind die Bäume streichelte und dass er, als er starb, noch einmal die Blätter der Bäume leuchten sah.

    Im Innersten wünsche ich mir, dass besonders seine letzten Gedanken seinem Sohn galten. Dass es ihn mit Stolz erfüllte, seinen Sohn Sohn zu nennen und der Vorsilbe „Stief" keine Beachtung zu schenken.

    Ich bin mir sicher, dass er, gerührt von all dieser sich vor ihm erstreckenden Schönheit, viel an seine Tochter dachte. An ihren Mut zu lächeln, von einem Ohr zum anderen.

    Selbst wenn die Heizung nicht warm genug war – man friert ja bekanntlich in den letzten Momenten –, bewahrten ihn sicherlich die Gedanken an seine Frau vor der Kälte. Sie, wie sie stets und mit Selbstverständlichkeit an seiner Seite gelebt hatte.

    Ich stelle mir seinen ungerechten Tod, der auf ein ungerechtes Leben folgte, sanft (beinahe liebevoll) und unbedingt zärtlich vor.

    Drei Wochen davor

    Sein Vater wurde erst eine Woche nach dem Unfall gefunden, von seiner Mutter und seiner Schwester. Der Geruch war eindeutig gewesen, er ließ keinen Raum der Wohnung unberührt.

    Es war seine Schwester, die ihn anrief. Sie konnte nur Kleines, Weniges aus ihrem Mund herauszwingen und gab schließlich ihrer Mutter das Telefon. Seine Mutter sagte es ihm dann. Die beiden Frauen saßen wieder im Auto. Seine Mutter sagte ihm, dass sie jetzt nach Hause fahren würden, und bat ihn, dasselbe zu tun.

    Er kam zu mir, noch in derselben Nacht, mitten in der Nacht. Ich hörte im Halbschlaf, dass sich jemand leise mit meinem Mitbewohner unterhielt, doch ich konnte diese Stimme nicht zuordnen und schlief weiter.

    Wir hatten uns ein wenig gestritten, bevor sie ihn anriefen, und ich hatte eingeschnappt mein Handy beiseitegelegt und war eingeschlafen.

    Jetzt erkannte ich seine Stimme und war sehr glücklich. Er war gekommen, einfach so, um mich zu überraschen! Bestimmt, um sich zu entschuldigen. Vielleicht, um mich zur Rede zu stellen. Ja, vielleicht sogar vor Wut! Es war mir egal. Er war hier, ich hatte ihn nicht gebeten zu kommen, und das war sicherlich ein gutes Zeichen.

    Ich warf mich im Bett theatralisch auf die andere Seite und wartete in aller Ruhe darauf, dass er endlich in mein Zimmer kam.

    Minuten vergingen und er kam nicht. Meine Augenlider wurden wieder schwerer und ich schlief erneut ein. Als er ein wenig später meinen Namen sagte, ganz leise und vorsichtig, dauerte es einen Moment oder zwei, bis ich verstand, dass er hereingekommen war.

    Als er mich fragte, wieso ich nicht an mein Telefon gegangen sei, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Er fragte es nicht vorwurfsvoll, sondern mit einer wuchtigen Niedergeschlagenheit, als hätten ihn die nicht beantworteten Anrufe außer Gefecht gesetzt.

    Beunruhigt fing ich an, irgendetwas zu erklären, aber sein Blick lag zu schwer in der Luft, und meine Erklärungen arteten in unverständliche Halbsätze aus. Ich brach mein Stammeln ab und fragte ihn, was passiert sei. Er wiederholte stattdessen seine Frage. Wieso bist du denn nicht an dein Telefon gegangen? Dieses Mal hörte ich den Vorwurf deutlich, er bestätigte meine Vorahnung.

    Anstatt irgendetwas zu sagen und mir meine Sorge zu nehmen, schwieg er. Ich wiederholte ebenfalls meine Frage. Was ist passiert?

    Zuerst dachte ich, er hätte sich lediglich nicht die Mühe gemacht, das Licht anzumachen, doch als seine Hand schüchtern meine umschloss, wusste ich: Die Dunkelheit war Nachsicht.

    Ich war sehr dankbar für den Schutz der fehlenden Beleuchtung, als er sagte: Ich wollte mich nur verabschieden, meine Schöne, ich fahre nach Hause.

    Alles war klar, es blieb nur ungesagt, um wen es ging.

    Er sagte: Mein Stiefvater.

    Sein Stiefvater. Ich hielt ihn, so fest ich konnte.

    Am Tag darauf

    Ich hatte mich bei der Arbeit krankgemeldet, um ihn zum Bahnhof zu begleiten, damit er zumindest dieses winzige Stück des Weges nicht allein war.

    Er sagte zu mir: Verschwinde.

    Tag eins

    Ich musste verschwinden und

    Rot war nicht mehr Teil meines Lebens.

    Tag fünf

    Sein Vater starb und ich verlor meine große Liebe. Die Zeit wurde neu erfunden: Meine Zeit war vorbei, in der dunklen Nacht ging sie vorbei, oder vielleicht schon, als sein Vater begann zu verbluten, oder vielleicht auch erst später, es spielte keine Rolle, vorbei war sie und vorbei.

    Damals, zu meiner Zeit, glaubte ich weder ernsthaft an einen Gott noch glaubte ich an keinen. Ich war zu beschäftigt, um Fragen zu stellen, deren Antworten unsicher waren.

    Ich gab mich zufrieden mit Halbwissen und Spekulationen.

    Jetzt begann eine andere Zeit. Vage Vorstellungen genügten längst nicht mehr, ich musste verstehen.

    Tag sieben

    Ich begann alle möglichen Menschen zu fragen. Ich schrieb E-Mails an zwei Philosophieprofessoren: Wo ist dieser mutmaßliche Gott, an den ich halb glaube? Im Aufzug fragte ich meinen Arbeitskollegen aus der Abteilung ein Stockwerk über unserer: Wie kann Gott nur zulassen, falls er existiert, dass meine Augen ohne ihn sehen müssen?

    Ich fragte den Bäcker und meinen Nachbarn und jeden sympathischen Zeitgenossen, der gerade zufällig mit seinem Hund auf derselben Straße Gassi ging: Welcher Gott, welches grausame Ungeheuer lässt Väter Treppen hinunterfallen und

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