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Es war an einem halben Tag: Biographie im Dialog erzählt
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Es war an einem halben Tag: Biographie im Dialog erzählt
eBook665 Seiten9 Stunden

Es war an einem halben Tag: Biographie im Dialog erzählt

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Über dieses E-Book

Die Lebensreise des kleinen, bessarabischen Bauernbuben Gottlieb R. führt ihn vom schwarzen Meer über Polen "Heim ins Reich" und geradewegs ins Kittchen. Der größte Verlust seines Lebens, der Tod seiner jungen Frau, wird seine Lebensfreude beenden. Wären da nicht seine geliebten Kinder, wäre er schon lange nicht mehr da.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Sept. 2019
ISBN9783749742219
Es war an einem halben Tag: Biographie im Dialog erzählt
Autor

Lele Frank

Die Autorin Lele Frank – sie selbst bezeichnet sich als Schreibwerkerin - wurde 1957 in Bad Kreuznach geboren, ist Bauingenieurin und hat über 35 Jahre in dieser Ellbogen-Branche gearbeitet. Ende 2012 gab sie Beruf und Firma aus persönlichen und gesundheitlichen (ausgebrannt) Gründen auf. Nach dem Ende einer dramatischen Beziehung entdeckte sie die Liebe und Leidenschaft Bücher zu schreiben. Mit ihrem ersten Buch „Tanz der Optimisten“, welches eigentlich nur einen therapeutischen Zweck erfüllen sollte, hat sie sich ins Leben zurückgeschrieben. Sie lebt an der Nordsee und bezeichnet ihre jetzige Tätigkeit als: „Das Leben genießen.“

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    Buchvorschau

    Es war an einem halben Tag - Lele Frank

    Die erste Begegnung

    „Soweit hinauf reichen meine Augen nicht mehr", sagte der alte Mann neben mir auf der Parkbank, die wir uns zum Plaudern ausgesucht hatten. Er blickte mit seinen hellgrauen Augen hinauf zu einem bunten Banner, welches ganz sachte in einer lauen Briese hin- und herschaukelte.

    Es war alles so ganz anders gekommen, als vor ein paar Wochen am Telefon geplant. Vermutlich saß unser Schöpfer dort oben auf seinem himmlischen Designersessel und rieb sich seine manikürten Hände, weil er wieder einmal alles an - von Menschen geplanten – Unternehmungen, erfolgreich durcheinandergewirbelt hatte. Aus einem gemütlichen halben Tag, den ich für unsere Begegnung, nach so vielen Jahren Pause eingeplant hatte, war leider nichts geworden. Nur zwei Tage vorher, schickte seine hübsche Tochter mir eine SMS, der ich entnehmen konnte, dass der alte Schurke – so nenne ich ihn bis heute liebevoll – mit Herzproblemen in die Klinik gekommen sei. Es ginge ihm aber gut, schrieb sie, und besuchen könnte ich ihn selbstverständlich auch.

    Und so saßen wir nun in dem kleinen Park der zur Klinik gehörte und blinzelten gemeinsam in die früh mittägliche, brüllend heiße Augustsonne.

    Die Tränen des ersten Augenblicks waren getrocknet aber nicht gelöscht. Sie würden für immer unauslöschlich bleiben, wusste ich in diesem Moment. Zu viel war geschehen in der Zwischenzeit, zu viel.

    Ginge es ihm, diesem alten Mann an meiner Seite, ähnlich wie mir, dann hätte er vermutlich auch ein leicht schmerzhaftes Drücken in der vorderen Halsgegend. So, wie vor einer gefürchteten Klausur auf die man sich schlecht vorbereitet hatte.

    Als ich meine Augen schloss, und nur seiner, immer noch festen, Stimme lauschte, erschien es mir unvorstellbar, dass er schon zweiundachtzig Jahre auf dem Buckel haben sollte. Und als ich meine Augen weiterhin verschlossen hielt, musste ich mit den Tränen kämpfen, weil Erinnerungen an alte Zeiten mich zu necken begannen. Öffnete ich meine Augen wieder, blendete mich die Sonne und ich musste erneut gegen Tränen ankämpfen. Oder waren es doch die Erinnerungen die sich zwischen uns hinsetzten und uns, ihn und mich, ganz innen drin berührten? Alte, schöne und nicht sehr schöne Zeiten, die mich mit dem traurigen, alten Mann neben mir, in Eintracht wie Kinder auf der Parkbank sitzend, unausweichlich fest verbanden, blieben mit uns gemeinsam in der Sonne sitzen und genossen die Wärme des frühen Nachmittags dieses halben Tages.

    Der alte Mann neben mir auf der Parkbank, dachte ich still, ist heute ein verurteilter Ex-Sträfling, weil er so dumm und leichtsinnig gewesen war nach den Sternen zu greifen. Ein Lohengrin wollte er sein, ein ritterlicher Held. Zugegeben: er ist ein ziemlich liebenswerter Sträfling, der allerdings seine besten Tage längst schon gesehen hatte, und an manchen Tagen, vermutlich sogar sterben will. Primär, ist er aber ein Mensch aus Fleisch und Blut und Herz und Seele. Ein Mensch mit ziemlich klaren Facetten, aus denen er selbst noch nie ein Hehl gemacht hatte. Bis heute nicht. Ein Mensch mit einem Herzen so groß wie ein Bahnhof. Singulär, und mit einer üppigen Portion viralem Charme ausgestattet, versteht er bis heute seine Mitmenschen sowohl zu faszinieren, oder aber in die Flucht zu schlagen. Wen er liebt, den will er für immer und ewig beschützen und behüten. Wen er liebt, für denjenigen würde er alles tun. Selbst dann wenn es ihm selbst schaden könnte, wie er wahrhaft oft genug nachhaltig bewiesen hatte. Hier und da gab es Momente, in denen hätte man ihm gesunden Menschenverstand und Logik absprechen mögen. Immer dann, wenn er die Kontrolle über seine leicht entzündbaren Emotionen verlor, wurde er ziemlich unsachlich und tötete alles und jeden der ihm in die Quere kam mit Worten, aber niemals mit Taten. War diese Aufregung wieder überwunden, schälte sich erneut ein ausgesprochen liebenswerter Kerl ans trübe oder strahlende Tageslicht. Seine laute und polterige Art, dieses aufbrausende krakelige Wesen seiner ungewöhnlichen- oft grell leuchtenden Charakterfarbe, begleitet von seiner schnörkellosen Syntax, war weiß Gott nicht jedermanns sensibler Geschmack. Gehörte man zu Familie der „Rührmichnichtan", suchte man am besten schnell das Weite. Wer ihn nicht wirklich richtig gut kannte, hätte ihn vermutlich für einen hoffnungslosen und unverbesserlichen Schreihals und Kolleriger gehalten, der sein loses und lautes Mundwerk nicht im Griff hatte. Wer ihn kannte… wirklich kannte, wusste das dieser laute, polterig ruppige Mensch nur hilflos nach Gerechtigkeit und Anerkennung rief, wenn auch auf eine sehr subtile Art und Weise. Dass er in irgendeiner Form zimperlich gewesen wäre, würde man ihm jedenfalls eines Tages nicht auf seinen Grabstein schreiben können.

    Wie hilflos musste er sich wohl gefühlt haben, als ihm das Schicksal diese Würde nahm und er versagen musste, weil seine Macht, einen geliebten Menschen vor dem Tod zu beschützen, genau an dieser Stelle zu Ende gewesen war. Tatenlos, musste er dabei zusehen, wie ihm jeglicher Sinn des Lebens durch die Finger geglitten war. Zu glauben, er könne übers Wasser gehen - vermutlich dachte er dabei eher an den Asphaltsee auf Trinidad – bescherte ihm am Ende einen Untergang auf ganzer Linie. Keine Höhen hatte Gottlieb R. je ausgelassen. Nicht eine. Und nun war er dabei die Tiefen des Lebens zu ergründen. Alles, hatte er im Leben gesehen, alles. Alles gewonnen und beinahe alles wieder verloren.

    Ich las ihm das Banner vor, das sich erwartungsvoll und fröhlich tanzend über den schmalen Parkweg spannte. Eine einsame, kleine Böh schien offenbar durch den Klinikpark geeilt zu sein und versteckte sich nun wieder am strahlend blauen Augusthimmel. Auf dem kleinen Banner wurde ein Jubiläum angekündigt. Die Klinik feierte ihre Existenz und ihren Zweck, mit einem kleinen Park Fest, genau an dieser Stelle an der wir saßen und die Wärme genossen.

    „Fünfzig Jahre sind auch nur ein Wimpernschlag", sagte Gottlieb R. plötzlich in die laute Stille hinein. Weil ich diese Aussage nicht zu werten wusste, schwieg ich und wartete ab. Gleich, dachte ich, gleich würde er weiterreden und sich für seine Empfindungen oder Erinnerungen hoffentlich öffnen. Man sah ihm an wie er sinnierte und grübelte. Ich, sah es ihm an. Wir kannten uns zu lange, als dass mir irgendetwas entging. Er rieb sich seine adrigen Handrücken, als streichelte er einen, für andere unsichtbaren Schmerz. Er blickte mit seinen grauwässrigen Augen irgendwo ins Nirgendwo des Augenblicks. Ich ließ ihn in Ruhe zu sich kommen, weil Schmerz es verdiente gespürt zu werden.

    „Damals, sagte er von ganz weit her, „damals wusste ich noch nicht was Glück bedeutet. Damals stellte sich die Frage nach Glück nicht, weil es uns allen, trotz schwerer körperlicher Arbeit, gut ging. Es ging uns gut, setze er nach, um seiner Aussage mehr Gewicht zu verschaffen. Noch wusste ich nicht wovon er sprach, aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war nur, dass wir hier saßen und innerlich ein unverhofftes Widersehen feierten, wenngleich die Umstände nicht sehr erfreulich waren. Seine Worte schwebten waagrecht vor meinem Gesicht und ließen mich auf mehr davon hoffen. Die Neugierde hieß mich unbedingt weiter zu schweigen und geduldig abzuwarten was kommen würde. Seine plötzliche Abwesenheit war spürbar bis in letzte Ecke des kleinen Parks vor der Klinik, in der er morgenfrüh operiert werden sollte. Sein Herz brauchte ein dringendes Facelifting, um wieder mit ihm selbst schritthalten zu können, erklärte mir Gottlieb R. während der Begrüßung. „Einen Austauschmotor, frotzelte er gespielt fröhlich während unserer tränenreichen, nicht enden wollenden Umarmung, in seinem typisch grauschwarz morbiden Humor, „einen Austauschmotor, wolle man ihm, aus knausrigen Kostengründen leider nicht spendieren. Als er das sagte, schoss es mir eiskalt durch die Glieder. Damit… mit diesen spaßig gemeinten Worten erinnerte er mich ungewollt daran, dass ich augenblicklich vor einem vermögenslosen- in finanzielle Abhängigkeit geratenen Sozialhilfeempfänger stand, den ich vor einigen Jahren erst, als halbwegs erfolgreichen Unternehmer zum letzten Mal gesehen hatte, bevor das Schicksal und die Launen des Lebens uns auseinanderspülte. Noch bevor er ins Gefängnis musste, liefen seine Geschäfte auskömmlich, wenn auch nicht üppig. Immerhin konnte er damit seine Familie ernähren und seiner geliebten Frau ein Hobby ermöglichen, glaubte ich. Und heute…? Hier in der Sonne, in diesem kleinen Park sitzend? Nicht nur in menschlicher Hinsicht stand er vor dem Nichts, mal abgesehen von seinen Kindern und Enkelkindern, die er über alles liebte. Kinder die, bis auf seine Tochter, selbst schon Familien hatten und Väter waren, gaben ihm jenen lebenswichtigen Halt den er brauchte, um nicht allem ein Ende zu setzen, weil der Sinn seines Lebens immer knapper wurde. Gottlieb R. war schon immer ein Familienmensch. Seine Familie hob er bis in den Himmel hinein. Aber in allen übrigen Lebensbereichen sah es mau aus. Noch bevor die Justizvollzugsanstalt ihre Tore öffnete, war seine Firma, welche zu allem Elend auch noch auf den Namen seiner Frau lief, schon längst bis auf die Knochen bankrott. Einem finanziellen Bankrott folgt immer der menschliche Bankrott, der im Grunde der verheerendere von beiden war. Freunde, die zuvor gerne am üppig gedeckten Tisch platznahmen, übten sich von da an in der Kunst des sich unsichtbar Machens. Das Telefon wurde still und stiller. Außer seinen Anwälten, einem treuen und langjährigen Freund namens Peter und meiner Wenigkeit, wurde es Zusehens ruhig, um die gescheiterte Familie R. mit ihm als Kapitän.

    „Du musst dir das mal so vorstellen", redete Gottlieb R. mehr zu sich selbst, als zu mir. Er riss mich mit diesen Worten aus meinen düsteren Gedanken.

    „Es gab in unserem Dorf nur eine einzige Straße. Sie hatte zwei Namen, diese Straße. Links von der kleinen evangelischen Kirche hieß sie Obergasse, in der anderen Richtung hieß sie Untergasse. Und befestigt war sie auch nicht. Sie war aus Lehm und festgebackenem Keuper Boden. Festgefahren von unzähligen Fahrten weniger Pferdefuhrwerke, die täglich auf die Äcker hinaus fuhren, um die Vier-Felder-Wirtschaft am Laufen zu halten. Stolze anderthalb Kilometer war sie lang, diese Straße, an die ich mich noch ganz gut erinnern kann. Rüben, Gerste, Mais und Hafer wurden auf ihr hin- und her gekarrt. Höfe links, Höfe rechts. Alle gleich aussehend, weil es Katharina so wollte. Es sollte keinen Neid geben unter den kommerziellen Bauernfamilien, keine Petitessen die einen Gemeinschaftsbetrieb wie die Molkerei schnell ins Wanken gebracht hätten. Nach Möglichkeit sollten alle Bürger im gleichen- im gerechten Status leben und arbeiten. Nur dort, wo es um Leben ging - in der Haltung von Pferden, Kühen, Schweinen und Hühnern, da gab es natürlich Differenzen in der jeweiligen Anzahl. Geschick, Glück und der Herrgott bestimmte darüber, wie reich gesegnet ein Viehstall im Vierseitenhof bestückt war. Auf den Viehdoktor im eigenen Stall verzichtete jeder gerne. Zum Saufen in der Stube war er uns dann willkommen, der Viehdoktor. Er war, wenn ich mich richtig erinnere, ein Freund meines Vaters, der übrigens Bürgermeister der kleinen Gemeinde Friedenstal gewesen war. Vaters Amt war Mutters ganzer Stolz."

    Gottlieb R. rutschte ganz nach hinten und lehnte seinen Rücken an die Lehne der kleinen Bank. Dass er es aufgab an der Kante sitzend zu balancieren, signalisierte mir, dass er begann sich zu entspannen. „Womöglich kommt es aus jener lange zurückliegenden Zeit, dass ich dachte ich könnte übers Wasser laufen. Damals brauchte ich keine Großmannsphantasien zu spinnen, sagte er, „damals waren wir wer, wir bessarabischen Landwirte.

    Währenddessen geschah in einer, von Bessarabien fernen, parallelen Welt, Unglaubliches:

    1937 hatte Hitler mit seiner abgesegneten Expansion begonnen, während man in Prag noch öffentlich die Promiskuität feierte. Kokain gehörte zum täglichen Speiseplan der niederträchtig, verkommenen Bourgeoise. Champagner in nicht mehr messbaren Mengen ertränkten ausschweifend die noch unbekannten Probleme des Sudetenlandes. Niemand glaubte wirklich an einen Krieg. Niemand verschwendete einen einzigen Gedanken daran, ob man diesen umstrittenen Landstreifen autonom werden lassen sollte oder nicht. Es wurde gelebt als gäbe es keine Zukunft, kein Morgen. Dennoch wurde zwischen Kellerkämpfen und Hurerei Politik gemacht. Insider woben Ihre Netzwerke und schlossen sich hinter verschlossenen Türen zusammen. Kritiker, Pessimisten und Anhänger einer ersehnten Autonomie gleichermaßen, saßen an einem langen Tisch und aßen gemeinsam aus einer goldenen Schüssel. Noch… noch begnügte man sich damit, einzig Nazideutschland lediglich lapidar nur als besonders aggressiv zu titulieren. Aber an einen Handel, eine Zerstörung in nennenswertem Ausmaß…

    Ein Opfer dieses Ausmaßes, das hielt man in der feinen, feiernden, Drogen und Champagner konsumierenden Gesellschaft, für absolut undenkbar.

    Frankreich und England gaben mit Freude Ihre Zustimmung zum geplanten Opfer, solange es sie selbst nicht traf.

    Aufkommend schlechte Gedanken und vielleicht sogar Zweifel, in dem ein- oder anderen sinnierenden Kopf, wurden von Sigmund Freuds modernem Gedankengut erfolglos therapiert, während das Gewissen Verantwortlicher erste Ansätze zur Hornhautbildung erkennen ließ. Ein Vorteil ist näher an der Seele als Schuld; eine altbekannte Weisheit. Wahrheiten entgegenzublicken wurde zusehends unpopulärer. Jener bittere Beigeschmack vom Erkennen damaliger Realitäten, zusammen mit ihrer ungeschminkten Wahrheit, vertrug sich nicht harmonisch mit teurer, perlender Brause aus dicken, grünen, kostbaren Flaschen.

    Hinter vorgehaltener Hand gab es ein neues Wort…: Mobilmachung!

    Heckler und Koch Handfeuerwaffen, hoch in Mode, eigneten sich hervorragend für eine Unterschrift.

    Um Gottlieb R. - unbeholfen wie ich in solchen Momenten leider jedes Mal bin – in seiner heraufsteigenden Wehmütigkeit zu trösten, legte ich meine Hand auf die seine. Sie zitterte. Doch an Stelle eines Trostes löste meine sachte Berührung eine unerwartete Reaktion in ihm aus. Seine Schultern sackten zusammen und seine Augen blickten nicht mehr länger in Richtung des Banners oder in die Ferne des vorher besehenen Nichts, sondern fixiert auf einen einzelnen weißlich schimmernden Kieselstein, der, weißer als alle anderen Steine auf diesem Weg, friedlich vor uns auf dem Boden lag. Man konnte spüren wie Gottlieb R. noch weiter vom Hier und Jetzt abrückte und in seiner Vergangenheit Platz nahm. Wie gut, dachte ich so bei mir, dass wir vorhin so nachsichtig gewesen waren, uns am Krankenhaus-Kiosk mit Kaffee und Wasser eingedeckt zu haben. Das würde ein langer halber Tag, ahnte ich. Wenn die Seele erst einmal zu tanzen begann, spielte die Zeit, um die Seele herum, keine nennenswerte Rolle mehr. Sie verlor drastisch an Gewicht und Bedeutung… die Zeit. Wenn eine Seele nach erlösender Reinigung ruft, dann wird die Welt und alle anderen Menschen zur Nebensache; ich wurde zur Nebensache, was mich jedoch nicht im Geringsten kränkte. Sollte er doch in Gedanken wie eine Jesusechse über die Gewässer seiner Vergangenheit wandern, zumal er erstmals, seit ich ihn kannte, seine Welt, seine Galaxie - bestehend aus seiner ständig auftoupierten Euphorie, zu verlassen schien, um sich einer echten Realität zuzuwenden. Hier bahnte sich eine Primäre an. Man durfte gespannt sein. Ich würde ihm gerne zuhören und im Geiste alles notieren.

    Schrecklicher Streuselkuchen

    Es war nicht meine Absicht ihn an seine glanzlose Karriere zu erinnern, aber es brannte mir auf den Nägeln ihn nach seinem heutigen finanziellen Status zu fragen. Unbedingt, wollte ich in diesem Augenblick wissen, ob er ehrlich in seinen Erzählungen wäre, jetzt, wo alles sowieso schon längst den Bach runter war. Taktlos, dachte ich, wäre das und ließ es vorerst dabei bewenden. Diese Frage hätte noch Zeit bis später. Meine Neugierde auf einen ungefilterten Bericht aus alten Zeiten gewann das Rennen. Zumal Gottlieb R. ohnehin nicht mehr anwesend war. Er war in dem kleinen, weißlich schimmernden Kieselstein verschwunden, der still und friedlich vor uns auf dem Weg lag. Das Steinchen schien gespannt zu warten; genauso gespannt wie ich selbst. Von weit her hörte ich bedacht formulierte Worte, wenngleich der Zusammenhang vorerst nicht begreiflich für mich gewesen war. Erst nach und nach formten sich Bilder zu diesen gesprochenen Worten. Bilder, die selbst Generationen später bis ins Mark erschütterten. Bilder, die man nie vergessen durfte.

    „Ja, sagte er fast schon ein wenig stolz. „Ja, wir hatten auch eine kleine Schule im Dorf. Mein Vater, der Bürgermeister gewesen war, verstand es sich mit den honorigen des Ortes zu verbünden, was das Leben meiner älteren Geschwister in gewisser Weise positiv beeinflusste. Der ein- oder andere Streich blieb nur deshalb ungeahndet, weil der Herr Lehrer sich an unserem Sonntagstisch seinen Wanst vollschlug. Mutter Berta war eine hervorragende Köchin. Ja, das war sie, sagte er sinnierend zu dem weißlich schimmernden Kieselstein. Kognitiv, wischte Gottlieb R. sich mit seinem linken Handrücken eine Träne aus seinem Gesicht. Er bemerkte diese Geste selbst nicht und redete weiter, als habe es diese stille Träne nicht gegeben. Solange wir uns kannten hatte ich noch nie einen Tropfen Wasser in seinen Augen gesehen. Umso schwerer wurde mein Herz es ausgerechnet heute zu tun. Heute, wo doch alles schon den Bach runter war. Heute, wo man am gestern nichts mehr ändern konnte.

    „Katharina und Oscar waren Zwillinge, musst du wissen", sagte er zu dem weißschimmernden Kieselstein. Ob er mich damit meinte, das weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls schenkte er mir keine Beachtung mehr. Ich wurde zum Statisten degradiert.

    „Die Zwillinge wurden 1926 geboren, setzte Gottlieb R. seine Erzählung fort. „Sie waren ein Kopf und ein Arsch und schlimmer als gemeiner Klebstoff unzertrennlich, auch wenn es darum ging etwas auszufressen; dann erst recht. Als ich dann 1936 als Hausgeburt - wie alle anderen vor mir auch - zur Welt kam, mussten die beiden schon auf dem Hof mitarbeiten wie Erwachsene. Klara, dass sollte ich unbedingt erwähnen, ist bis zu dem Tage an dem sie in hohem Alter starb, meine absolute Lieblingsschwester gewesen, erzählte er dem weißlich schimmernden Kieselstein und lächelte dabei versonnen- fast ein bisschen verliebt. In diesem Lächeln war all seine Liebe für die große Schwester eingewickelt. Man konnte zusehen wie sein Herz fühlte.

    „Sie war genau zehn Jahre älter als ich. Der nächste Abschied wäre also so sicher wie das Amen in der Kirche. Und Fritz, was soll ich sagen…: Fritz ist als Kind schon ein schrecklicher Idiot gewesen. Bis zum heutigen Tage hat sich daran kein Deut geändert. Kaum kommt es zu einem Gespräch, egal in welcher Angelegenheit, lässt er mich seine Verachtung überdeutlich spüren. Nach meinem Ausflug nach SingSing war es endgültig vorbei. Endgültig. Was soll´s."

    Gottlieb R. setzte sich wieder mit geradem Rücken, etwas bequemer, zurück auf unsere sonnenbeschienene Parkbank, ohne den weißlich schimmernden Kieselstein auch nur für einen Augenblick aus seinen grauwässrigen Augen zu lassen. Dieser kleine Stein schien zu einem imaginären Gesprächspartner- zu einem Verbündeten geworden zu sein. Ich existierte offenbar überhaupt nicht mehr. Nur noch der Kieselstein und er. Gottlieb R. schwieg bedrückt. Er sah aus als würde er in seinem Kopf nach etwas suchen.

    „Nein, es ist Tango", sagte er aus dem Zusammenhang gerissen. Tango war sein- oder ein Synonym für Tod. Das wusste ich noch aus gemeinsamer Vergangenheit. Ich zuckte leicht zusammen, weil ich über diese plötzliche Wende seiner Schilderungen erschrak. Bevor Spekulationen über die Bedeutung des Wortes „Tango" über mich herfallen konnten, redete er weiter, als sei alles völlig normal und im Zusammenhang dessen, was er dem weißschimmernden Kieselstein bisher erzählt hatte und nun fortsetzte.

    „Es gab Tage und Wochen, sagte er, und sah blinzelnd hinauf zu dem Banner das ihn nun zu fesseln schien. „Es gab Tage und Wochen, da fühlte ich mich im Gefängnis freier als draußen in der restlichen Welt. Seltsam, nicht wahr?

    Diese erschütternden Worte sagte Gottlieb R. zum Banner hinauf, bevor er wieder seinen Blick dem kleinen, weißschimmernden Kieselstein zuwandte. Diese Worte waren für mich als Erklärung seiner Gefühle bestimmt, obwohl er mich immer noch keines Blickes würdigte. Gottlieb R. konnte nicht wissen wie viele Jahre ich mich schon mit dem Thema Mensch und Psyche beschäftigte, und dass ich durchaus sehr wohl verstand, was genau er mir damit sagen wollte, als er diese Schwergewichte durch die laue Sommerluft schleuderte. Im Knast, aller Verantwortungen entledigt, dass musste sich anfühlen als würde man fliegen. Jedoch, ohne die Gewissheit, dass Frau und Tochter draußen versorgt waren und mit diesem neuen Leben halbwegs gut umgehen konnten, wären diese Eindrücke für ihn sicherlich nicht möglich geworden, weil seine gefühlte Schuld so viel Raum beanspruchte und nur selten seine Gedanken erleichterte. Hier gab es für ihn nichts mehr zu vertuschen, hier drängte sich die Realität auf die Bühne. Dieses Gefühl des Fliegens hatte er gewiss nicht oft, dazu kannte ich ihn viel zu gut. Es waren – wie er schon sagte, nur Tage, keine Wochen und Monate. Nur Tage an denen er fliegen konnte.

    „Eigentlich, sagte er, „hätte ich auch einen älteren Bruder gehabt. Ihm habe ich meinen Vornamen zu verdanken. 1935 ist er gestorben. Woran, das weiß ich nicht mehr. Mutter hatte schwer daran zu beißen; dieses Thema war tabu. Es erscheint mir selbst makaber, dass ich genau ein Jahr später geboren wurde und man mir seinen Namen mit dieser absurden Selbstverständlichkeit vermachte. Es würde mich nicht wundern wenn meine Eltern, fest im Glauben, davon überzeugt waren, Gottlieb der Erste lebe so in mir weiter. Immerhin war er der Erstgeborene, der ganze Stolz des Schmalspur-Patriarchen, unseres Vaters. Später, als ich diese Zusammenhänge besser verstehen konnte, hatte ich fast ein schlechtes Gewissen, dass ich all die großen Erwartungen, die man an mich stellte, eher mangelhaft erfüllte. Ungestüm, wie ich als Kind gewesen war, hatte ich meine beiden Elternteile den ein- oder anderen unentbehrlichen Nerv gekostet. Aber nicht nur die Eltern, nein, ich hatte es, als jüngster Spross der Familie, hochgradig genossen so derart viele Freiheiten zu haben. Mehr Freiheit als mit guttat, zugegeben. Mit Vergnügen bin ich meinen älteren Geschwistern auf ihren gereizten Nerven herumgetrampelt. Bevorzugt wurde ich sowieso. Das Nesthäkchen, du weißt schon…

    Ich fühlte mich angesprochen und legte meine Hand auf seinen, nun wieder nach vorne gebeugten, gewölbten Rücken. Sein Kinn ruhte in den Schalen seiner beiden Hände, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Eine Position die nicht so recht zu einem alten Mann passen wollte. Gottlieb R. bemerkte meine Berührung nicht- Er wanderte weit weg, in Bessarabien in seiner frühen Kindheit umher.

    „Man kann sich das heutzutage überhaupt nicht mehr vorstellen, flüsterte er weiter ohne sich von der Stelle zu rühren: „Wir Kinder schliefen alle in einem Zimmer, schon alleine wegen der Wärme im Winter. Die Eltern hatten eine eigene Stube. Ein Zimmer im Obergeschoß blieb für Besuch verschlossen. Unser Leben spielte sich unten in der großen Stube ab. Ein Mehrzweckraum sozusagen, die Seele des kleinen Vierseitenhofes, war unser aller Lebensmittelpunkt. Wir liefen auf festgestampften Lehmboden herum und fanden es selbstverständlich keinen Stein- oder Kachelboden zu haben. Heute fehlt es uns dazu an nötiger Vorstellungskraft, dass ein einfaches Leben ein ganz glückliches Leben sein kann. Die Häuser in unserem Dorf sahen alle gleich aus. Ein Dorf, quasi am Reißbrett entworfen, weil es Katharina so wollte. Vierseitenhof von der Stange, geeignet zur Gleichmachung seiner tüchtigen Bewohner. Für jeden der damals umgesiedelten Deutschen exakt das gleiche Haus, damit ein Neid nicht aufkommen sollte. Nur die ganz armen Leute, unter den 1814 umgesiedelten Bauern, bekamen einen halben Hof. Daran konnte jeder sofort erkennen zu welcher Gesellschaftsschicht sie gehörten. Mit Kindern von Eltern aus halben Höfen durfte man nicht spielen, wohnte man in einem vollständigen, angesehenen Vierseitenhof. Keiner von uns hielt sich daran, wir Kinder machten unsere eigenen Kindergesetze. Die Herrschenden- die Reichen dieser Welt, sie lernen es nie, sie lernen Toleranz zu keiner Zeit. Unfriede lässt sich auf diese Art und Weise nicht eliminieren. So nicht. Gleichmachung ändert aber auch nichts, will ich meinen. Es wird immer starke und schwache- dumme und gescheite- arme und reiche Menschen auf dieser Erde geben, von den Gerissenen ganz zu schweigen. Die auch, die Gerissenen.

    Mir wurde bewusst, dass ich wirklich sehr aufmerksam zuhören musste, denn hier und da machte Gottlieb R. große Sprünge aus seinen Erinnerungen ins Hier und Jetzt und wieder zurück ins Damals. Seine Botschaften waren eindeutig und wahrhaft deutlich, aber ich wusste nicht zu deuten wohin er mit seiner Erzählung überhaupt wollte. Und warum begann er aus seiner Kindheit zu erzählen? Was war der Grund für so eine weite Rückreise? Der plötzliche Tod seiner Frau, welcher immer noch meine ganze Fassungslosigkeit in Anspruch nahm? Wenn ich daran dachte, wurden meine Gedanken grau wie Asche. Wie musste es ihm furchtbar ergangen sein, wenn es mir, als Außenstehender- als Nichtbetroffener schon so zusetzte. Sein ganzes Leben war in Flammen aufgegangen. Waren deshalb meine Gedanken grau? Oder hatte vielleicht mein Besuch etwas ganz Spezielles ins Rollen gebracht wovon ich nichts wusste? Erst sehr viel später- am Ende des Tages, wenn Gottlieb R. wieder zurück in sein Krankenhausbett zurückkehren müsste, würde ich verstehen dürfen, dass er an diesem halben Tag mit sich selbst abgerechnet haben würde. Niemand, lässt sein ganzes Leben ohne einen triftigen Grund revuepassieren. Für Gottlieb R. war ich mit meinem Besuch zu einem Instrument geworden, welches er als Gefäß benutzte, um sein Lebensleid darin abzulegen. Ein Abschlusseine innere Versöhnung wurde vollzogen, an der ich maßgeblich beteiligt sein durfte. Oder sollte ich es lieber als ein „müssen" werten, weil genau darin meine Aufgabe bestand, Gottlieb R. dabei behilflich zu sein, mit sich selbst ins Reine zu kommen?

    „Aber…, unterbrach er meine eigenen Gedanken. „Aber unsere Großmutter Luise, die hatte ein eigenes Haus für sich alleine, nachdem ihr Mann verstorben war. Die Zusammenhänge sind mit nicht bekannt, warum sie überhaupt noch Anspruch darauf erheben durfte, wieso sie bleiben durfte. Ich schätze, wenn man einmal einen Hof besaß, dann war das für die Ewigkeit und bis zum Tode so vorgesehen. Als Kind macht man sich über solche materiellen Dinge keine großartigen Gedanken. Mir hatte niemand erklärt, dass mein ältester Bruder Oscar ihren Hof hätte erben sollen. Soweit sollte es aber nicht kommen. Das Schicksal hatte etwas ganz anderes mit uns vor. Noch wusste niemand etwas von der bevorstehenden düsteren Zukunft die bereits auf dem Wege in unseren adretten Vierseitenhof- in unser feines, friedliches Friedenstal gewesen war. Wir fühlten uns alle so sicher wie in Evas Schoß. Man verschloss - wie es sich für eine Gemeinschaft gehört, kollektiv die Augen vor dem Rest der Welt.

    Gottlieb R. machte wieder eine kleine Pause. So, als würde er die Worte, die er ausgesprochen hatte, noch einmal einer letzten Prüfung unterziehen.

    „Nun will ich den Faden nicht verlieren", entschuldigte er sich bei dem weißschimmernden Kieselstein, der immer noch so geduldig vor uns auf dem Weg lag und aufmerksam zuzuhören schien.

    „Großmutters Hof wurde von unserer Familie, nach dem Tod des Großvaters, natürlich mitbewirtschaftet, setzte Gottlieb R. seine Schilderung fort. „Es ergab sich ganz natürlich, dass wir Kinder oft bei ihr aufbewahrt wurden, wenn die anderen alle auf den Äckern schufteten, um die Ernten zu sichern. Meine Geschwister – bis auf die größeren, mussten allesamt in den Kindergarten der an die kleine Schule im Dorf angeschlossen war. Ein Kindergarten, stell dir vor… Was für ein Fortschritt schon damals. Schließlich gab es nicht in jedem Hof Großeltern zum Kinder hüten. Ich genoss den Sonderstatus des verwöhnten Daheimgebliebenen, den Sonderstatus des Familienlieblings- des Nesthäkchens, erklärte Gottlieb R. nicht ohne Stolz. „Großmutters Liebling war ich wohl, möchte ich behaupten. War der Großvater ein richtiger Drecksack, so war sie das genaue Gegenteil. Ein Ausgleich seiner durchtriebenen Schlechtigkeit war sie in ihrer gütigen Art. Den Großvater kennenlernen zu müssen blieb mir erspart, Gott sei Dank. Alles, was ich von ihm wusste, hatte ich nur durch unerlaubtes Lauschen am Türspalt in Erfahrung bringen können, wenn Großmutter mit meinem Vater oder meiner Mutter über ihn redeten. Als Dreijähriger Knirps begriff ich bereits Großmutters tiefen Schmerz der meinen Schlaf in der Nacht erheblich störte, weil im Alter von knapp vier Jahren das Unterbewusstsein seine unentwegte Geburt durchlebt und sich 'peu à peu' im Menschen ansiedelt. Großmutter Luise war verbittert und klagte oft in unruhigen Träumen in die Vergangenheit hinein, wenn sie, nach dem Mittagessen, in ihrem Sessel ein kleines Schläfchen hielt. Ihre Verbitterung war die meine, ohne dass ich überhaupt wusste, dass dies so war. Zusammen mit unserer Mutter Berta saß sie ab und zu, wenn die Zeit es erlaubte oder wenn arbeitsfreie Sonntage waren, bei einer Tasse Muckefuck am Tisch und weinte salzige Tränen der Trauer über den Verlust zweier Söhne die Großvater verschachert hatte. Wenn sie von seinen unmenschlichen Machenschaften erzählte, die sich in ihren Erinnerungen festkrallten wie eine Katze am Baum, wurde sie mit jedem Wort Zusehens älter. Damals habe ich erfahren müssen, dass der Großvater ein schwerer Trinker gewesen war, der seine Kinder versklavte und sie für eigene Vorteile nach Sibirien verschleppen ließ, von wo sie dann niemals mehr zurückkehrten und für immer verschollen blieben. Hilflos hatte Großmutter Luise seinem teuflischen Treiben zusehen müssen, weil sie gegen ihn nichts ausrichten konnte. Er hätte sie mit bloßer Hand totgeschlagen, sagte sie mit gebrochener Stimme zu meiner Mutter, die nicht recht wusste wie sie die alte, friedfertige Frau zu trösten vermochte. Die beiden Frauen saßen sich am Ende des langen Tisches gegenüber und hielten sich bei den Händen. Eine kleine Geste des Trostes, wie ich heute weiß. Großmutter wünschte damals diesem Rasputin – wie sie ihn voller Verachtung nannte, den Tod an jedem neuen Tag, gestand sie unserer Mutter. Weil sie bei diesen Worten keine offensichtliche Reue zeigte, dachte ich als Kind, dass es erlaubt sei jemanden den Tod zu wünschen. Sofort wünschte ich meinem zwei Jahre älteren Bruder Fritz die Schwindsucht an den Hals, weil er mich immer so piesackte wenn gerade niemand zusah. So erfuhr ich, dass Großmutters Wunsch wohl bald erhört worden war, denn dieser bestialische Mensch soff sich wohl in recht jungen Jahren das Leben weg. Nicht einmal fufzig Jahre soll er alt gewesen sein, dieser Teufel. Großmutters Erzählungen, die ich eigentlich gar nicht hätte hören dürfen, verkleben mir bis heute die Seele. Je älter ich werde, umso öfter denke ich an sie zurück. Wie konnte ein Mensch, dem Gott einen Funken Verstand überreicht hatte, mit den Seinen nur so verwerflich handeln, frage ich mich heute noch. Und warum ist sie mit ihren Kindern nicht einfach davongelaufen, wie es die Frauen heute tun? Gott steh´ mir bei, habe ich oft genug gebetet, dass seine Gene nicht in mir lauern mögen. Gott steh` mir bei. Wie mild und gnädig, dass ich mich nicht mehr an alles erinnern kann."

    Gottlieb R. machte wieder eine kleine Pause und griff nach der Wasserflasche die zwischen uns stand. Ohne den Blick von dem kleinen weißlich schimmernden Kieselstein zu nehmen trank er einen großen Schluck, schraubte den blauen Deckel wieder zu und stellte die Flasche wieder zwischen uns, als sei ich gar nicht da. Das Wasser war zwischenzeitlich ziemlich warm geworden. Ich nippte lieber am lauwarmen Kaffee der im Becher langsam bitter wurde und nicht mehr schmeckte. So gefesselt wie ich seinen Worten lauschte hatte ich ohnehin keinen Durst. Als hätte ich den Verstand verloren, flehte ich den weißschimmernden Kieselstein an, dass Gottlieb R. nicht müde würde, oder dass ihm die heiße Sonne zu sehr zusetzte, weil ich jetzt alles erfahren wollte. Alles, bis zum Ende des heutigen halben Tages.

    „Ach, sagte Gottlieb R. und widerholte die Geste von vorhin, mit welcher er sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht wischte. „Ach, sagte er ein zweites Mal: „Ich habe sie sehr gerne gehabt, die Großmutter Luise. Ich liebte sie schon deshalb, weil sie gut zu unserer Mutter gewesen war. Großmutter legte großen Wert auf stabilen Frieden im Rest der Familie, die im Grunde eigentlich gar nicht ihre eigene Familie war. Sie war damals diejenige die in unsere Familie eingeheiratet hatte, ohne zu wissen welcher Satan ihr die letzte Würde- und den eigenen Kindern das Leben nehmen sollte. In vielen anderen Höfen erging es zahlreichen Schwiegertöchtern oftmals nicht so gut, weil ihre herrschsüchtigen Schwiegermütter entweder Rivalinnen oder nur billige Arbeitskräfte in den Frauen ihrer Söhne sahen. Natürlich waren es die bösen Schwiegertöchter die ihnen ihre verehrten Prinzen entrissen hatten. Die Schwiegertöchter waren in den meisten Fällen an allem Schuld. Manchmal, frage ich mich, wie Großmutter gewesen wäre, hätte sie einen liebevollen Mann gehabt."

    Gottlieb R. stöhnte leise und unterdrückte ein winziges Schluchzen das sich unbedingt seinen Hals hinaufzwängen wollte.

    „Nur, sagte er…: „wäre, hätte, wenn und Aber. Diese Worte bringen keinen Funken erhellendes Licht ins Dunkel unserer etwas komplizierten Familienvergangenheit. Aber ich habe sie wirklich von Herzen geliebt, die gütige Großmutter. Bloß Streuselkuchen backen… das konnte sie nicht. Er schmeckte einfach jedes Mal fürchterlich.

    In meiner Fantasie nahm ein steinharter Streuselkuchen in meinen Gedanken Platz und lenkte mich für einen Augenblick von seinen Erzählungen ab. Bilder, von einer feierlich mit Blumen geschmückten Beerdigung baumelten vor meinen Augen herum. Streuselkuchen war für mich ein Synonym für Tod. So wie „Tango" für meinen alten Freund sein Synonym fürs letzte Stündlein war, so war es für mich dieser furztrockene, saftlose, oftmals blasse Beerdigungskuchen von dem nur die oben aufgebrachten Streusel einigermaßen gut schmeckten.

    Gottlieb R. stieß noch einen letzten schweren und dramatisch langen Seufzer hinterher, bevor er mit seinen Schilderungen – Worte, wie in saubere Scheiben geschnitten - fortfuhr. Sein Blick war wieder auf den kleinen, weißschimmernden Kieselstein gerichtet, als blickte er konzentriert in eine imaginäre Camera obscura, während sich tiefe, nachdenkliche Falten auf seiner Stirn abzeichneten. Sein Handrücken berührte zum dritten Mal, seit unserem aufregenden Wiedersehen, seine immer noch erstaunlich glatten Wangen. Dieses Mal versuchte er nicht diese verräterische Bewegung möglichst zufällig aussehen zu lassen. Gottlieb R. stand neuerdings zu seinen Tränen der Erinnerung. Er stand neuerdings zu seinen Tränen, die von seinen Schuldgefühlen zum Leben erweckt wurden. Doch dazu kommen wir später noch zur Genüge… zu den Schuldgefühlen.

    Neue Heimat

    „Wie unsere Eltern und Großmutter es geschafft hatten ein so schwerwiegendes Geheimnis für sich zu behalten, damit wir Kinder uns nicht unnötig sorgen sollten und Tränen eines bevorstehenden Abschieds vergossen, ist mir bis heute noch schleierhaft, sagte Gottlieb R. kopfschüttelnd. Seine Stimme hatte wieder etwas an Festigkeit gewonnen. „Natürlich, sagte er, „hätte ich den Aufstand geprobt, mit meinen knapp vier Jahren. Immerhin war unser Hof und Friedenstal meine geliebte Heimat; mein Ein- und Alles. Dass es noch eine Welt dort draußen gab oder geben sollte, war einem Kind wie mir nicht bewusst. Wenn der Vater mich manchmal nach Akkermann hinein mitnahm, kam das schon einer aufregenden Weltreise gleich. Hinter Akkermann gab es nichts mehr von Bedeutung. Unsere Ober- und Untergasse, die Kirche, die Schule und halbe und ganze Vierseitenhöfe, ein Wirtshaus und jede Menge Tiere. Das war unsere kleine Welt in der wir glücklich waren. Selbst die kleine Stadt Akkermann verlor an Reiz wenn wir alle zu Hause am Tisch saßen und dampfende Kartoffeln schälten, um sie, zusammen mit Leinöl in selbstgemachten Quark, zu tunken und aufzuessen. Ein Bauernleben wie aus einem Bilderbuch hatten wir. Obwohl mein Vater Bürgermeister des kleinen Dörfchens war, wurde zu Hause niemals über Politik gesprochen. Politik ist nichts für Frauen, vertrat er seine stoische Meinung. Politik war Männersache. Seinen Kopf streckte er mit dem verfressenen Lehrer, dem Pastor und zwei anderen Bauern zusammen die er Freunde nannte. So wurde mir der erste Schock meines kleinen Lebens zugeteilt, als ich eines Morgens zusammen mit meinen Geschwistern aufstand, und noch vor dem Frühstück einen Planwagen besteigen musste, welcher heimlich still und leise mitten in der Nacht gepackt worden war, und der unsere Familie mit einem Minimum an Hab und Gut zu einem von vielen wartenden Donauschiffen bringen sollte. In diesem Alter konnte ich noch keine logischen Zusammenhänge jener überraschenden Abreise begreifen. Damals verstand ich meine kleine Welt nicht mehr. Ein noch größerer Hof und noch mehr Wohlstand und patriotische Pflichterfüllung, das sagte mir damals alles nichts. Alles, was ich in diesem schmerzvollen Moment des Abschieds begriff, war Verlust und Furcht. Schmerzhafter, purer Verlust meiner Heimat und allem was meinem kleinen Kinderherz so ungeheuer wichtig gewesen war. Furcht deshalb, weil man sie in den Gesichtern der anderen deutlich ablesen konnte, auch wenn sie uns gegenüber so optimistisch taten. Außer Fritz, meinem zwei Jahre älteren Bruder, weinten wir Kinder bittere, hysterische Tränen des Nichtverstehens. Auch Katharina und Oscar, die Zwillinge weinten, obwohl sie damals schon dreizehn Jahre alt waren und besser verstanden was Vater sagte. Fragen nach dem wieso und warum wurden nicht und von niemandem beantwortet, weil alles ganz schnell gehen musste. Vater forderte uns - sicherlich etwas schroffer als beabsichtigt auf, still zu sein und den Mund zu halten. Das Schiff würde nicht warten, bellte er unsere Mutter an. Mutter hingegen versuchte uns Kinder mit sanften Worten und süßschillernden Versprechungen zu trösten. Sie erzählte uns leise von einem noch viel größeren Hof in dem jeder von uns ein eigenes Zimmer haben sollte. Es sei Zeit für gute Veränderungen im Leben, wollte sie uns weismachen. Und sie wollte uns weismachen, dass diese Reise eine völlig normale Sache sei und wir uns nicht sorgen müssten. Ein Pony hatte sie mir sogar versprochen und einen Geburtstagskuchen aus purer Zuckersahne mit Biskuit und frischer Himbeermarmelade ohne Kerne. Klara, meine Lieblingsschwester nahm mich fest in ihre zittrigen Arme, während Fritz, diese schreckliche Nervensäge von Bruder, breitbeinig hinter dem Kutschbock stand und brüllend wild mit den Armen fuchtelte, als zögen wir hinaus ins Gefecht. Er schien mit seinen sechs Jahren ebenso wenig zu verstehen, wohin die Reise ging, wie ich es selbst nicht verstand. Doch während mir und den anderen Kindern das Herz in tausend Stücke zerbrach, verstand Fritz sich auf überschwänglichen Jubel. Meine erste spürbar tiefe Abneigung gegen ihn, wurde damals in die Wiege unseres kommenden Lebens gelegt, wo sie, die Abneigung, noch heute gemütlich schlummert, weil sich nichts mehr ändern lässt und…"

    (Schweigen).

    Eine Spur von altem Zorn hörte ich aus seiner Schilderung heraus und fragte mich, ob es tatsächlich möglich sei, dass man als Kind schon einen so endgültigen Entschluss fassen konnte, einen ganz bestimmten, auserwählten Menschen lebenslang nicht zu mögen, obwohl das selbe Blut in seinen Adern floss. Offensichtlich ist das sehr wohl möglich, gestand ich mir selbst ungern ein. Offensichtlich ging es tatsächlich genauso wie vermutet. Meine intrigante Cousine und ich, wir würden in diesem Leben auch keine Freunde mehr werden. Und was Gottlieb R. betraf, so wusste ich aus seinem Munde, dass er seinen Bruder Fritz bis heute nicht ausstehen konnte. Bislang schob ich seine kindische Haltung auf den unterschiedlichen Status in dem die beiden Brüder ihre Leben bis heute verbracht hatten. Dabei war in Wirklichkeit dieses kleine Saatkorn schon in allerfrühster Kindheit auf fruchtbaren Boden gefallen. Jenen ausschlaggebenden und fruchtbaren Nährboden zweier unterschiedlicher Charaktere und Sichtweisen die - bis zum heutigen Tage - jeden noch so stabilen Frieden in allerschlimmste Gefahr bringen konnte. Jene Erkenntnis, wie wenig sich die Menschheit änderte, egal in welcher Epoche sie auch lebten und in Zukunft leben würden, schnürte mir für einen kurzen Moment die Kehle zu. Ich war froh darüber, dass Gottlieb R. mit seinen Erzählungen fortfuhr, damit ich nicht nach eigenen Schuldgefühlen graben- und Ausschau halten konnte. Wer von uns könnte einen ersten Stein werfen, überlegte ich. Und wer von uns hat ein Recht darauf zu urteilen.

    „…und die Zwillinge Katharina und Oscar, sagte Gottlieb R. zu dem weißschimmernden Kieselstein mit trauriger Stimme, „die beiden saßen ganz hinten bei Mutter und Großmutter und weinten herzzerreißend, noch mehr als ich selbst. Vielleicht ahnten sie, dass sie geliebte Freunde schon bald aus den Augen verlieren würden. Die Tränen meines großen Bruders Oscar setzten mir am allermeisten zu. Bisher war er doch mein großer Held und Retter, der nicht selten meinen Kopf aus diversen selbstgeknüpften Schlingen gezogen hatte. Er war so verlässlich wie ein geduldiger Kaltblüter. Und nun weinte er als hätte sein Unterbewusstsein schon eine deutliche Vision, dass er seinem sicheren Tod entgegenfuhr. Im Nachhinein betrachtet sehe ich diese Dinge natürlich viel klarer. Im Nachhinein beziehe ich das menschliche Unterbewusstsein sehr wohl mit ein, weil ich heute weiß, wozu es im Stande ist.

    Gottlieb R. blickte ganz kurz und nur beiläufig zu mir her, so als wollte er sich davon überzeugen, dass ich noch neben ihm saß. Ohne ein Wort an mich zu richten fuhr er mit seiner Geschichte fort.

    „Unser Vater beachtete seine unruhige Fracht mit keinem Blick. Seine Aufmerksamkeit war streng auf den Weg und die Pferde vor ihm gerichtet. Heute weiß ich, dass auch er weinte, weil diese angeblich gemeinsam getroffene Entscheidung beinahe aller bessarabischen Umsiedler des Dorfes Friedenstal, diese angebliche und vom Machthaber suggerierte bessarabische Perspektivlosigkeit, die man den Bauern einredete, gegen eine glänzende und lohnende Zukunft einzutauschen, doch wohl eher ein Mittel zum Zwecke und keine glasklare, von Herzen getroffene Überzeugung gewesen ist. Sie waren mehr als hundertfünfundzwanzig Jahre lang glücklich hier. Mehr als fünf Generationen lebten auskömmlich und zufrieden einen bäuerlichen Alltag. Und nun sollte das plötzlich alles nicht mehr gut für die Menschen sein? Niemand verstand so recht, dass eigentlich nur ein Kuhhandel dahinter steckte, und es diesem Hitler einzig und alleine um Polen ging. Man hatte natürlich auch die Wahl hierzubleiben, um von einer russischen Kolchose aufgesogen zu werden. In unserem Dorf war man sich jedoch zum größten Teil darüber einig, dass dies keine Option gewesen wäre. Mutters Schwester gehörte leider zu den wenigen Menschen die geblieben sind. Unsere Mutter konnte sie nicht davon überzeugen, dass sie einen schweren Fehler machte. Im Gegensatz zur stoisch, sturen Schwester glaubte sie nicht an eine gute Zukunft unter russischer Führung. Sie hörte lieber auf unseren Vater ohne zu zweifeln. Mutter sollte mit ihrer weisen Einschätzung Recht behalten, denn ihre Schwester wurde später von den Russen nach Sibirien in ein Arbeitslager verschleppt. Viele Jahre später, da war der Krieg schon seit Jahren zu Ende, stand sie eines Tages vor unserer Tür. Alles woran ich mich noch erinnere, weil ich als Bub an einer Tante nicht interessiert war, ist, dass sie eine ziemlich verstörte Frau gewesen war, als sie aus diesem Land zurückkam. Aber gut… sie hat es ja damals so entschieden. Man muss auf sich selbst achten und darf sich nicht verführen lassen. Schwamm drüber… Sie ist längst tot."

    Gottlieb R. nahm abwesend noch einen winzig kleinen Schluck aus der Wasserflasche. Er befeuchtete seine trockenen Lippen mehr als das er trank.

    „Unser Vater, erzählte er weiter, „als Bürgermeister wusste er natürlich aus irgendeiner sicheren Quelle, dass die Front näher rückte und die Russen vor den Toren – unweit von Odessa, schon in Position standen, um abwartend die Bedingungen des Nichtangriffsvertrages zwischen Hitler und Stalin zu erfüllen. Polen war bereits zerfetzt und in Stücke gerissen; der eigentliche aber geheim gehaltene Anlass dieses Kuhhandel-Paktes. Davon wusste zu diesem Zeitpunkt aber niemand in der proletarischen Bevölkerung, weder in Bessarabien noch sonst wo. Zunächst hieß es für uns Volksdeutschen Umsiedler heim ins Reich. Das fruchtbare polnische Land wartete aber schon auf uns, damit wir es - wie von Hitler gewünscht, vollständig germanisierten. Hätte Vater geahnt, wie wörtlich dieser Hitler sein Vorhaben umsetzten würde, vermutlich hätte er uns ein Schiff gekapert und wäre mit seiner Familie übers Schwarze Meer getürmt. Ich weiß es nicht, sagte Gottlieb R. nachdenklich. „Er hat mir seine wahre Gesinnung nie verraten; auch später nicht. Politik war in unserer Familie ein unwillkommenes Thema und wurde gemieden. Aber damals, auf dem Kutschbock des Planwagens sitzend und stoisch schweigend… Niemals im Leben hätte er uns seine Tränen gezeigt, weil er stark für uns sein wollte und musste. Ohne einen Funken Zuversicht konnte man einen solchen Schritt nicht gehen, das weiß ich heute. Ohne Zuversicht und naives Vertrauen in einen Wahnsinnigen ging es nicht. Unsere Eltern hatten nicht nur keine Wahl, sondern sie hatten auch ein gerüttelt Maß an großem Glück in all diesem verheerenden Umtrieb."

    Gottlieb R. fuhr sich mit Daumen und Zeigfinger an die Nasenwurzel. Diese Geste bescherte mir einen latenten Schmerz im Hals, weil ich ahnte was in ihm vorging. Um mich abzulenken hob ich meinen Blick zu dem kleinen Banner über dem Weg. Seine Botschaft war immer noch die gleiche, nur hier unten auf der sonnenbeschienenen Parkbank veränderten sich die Dinge mit jedem einzelnen gesprochenen Wort. Mir kam auch nur so eine latente Ahnung, dass wir womöglich in diesem Moment über die gleichen Gräuel nachdachten. Und so langsam wurde mir auch klar, worauf das Ganze hier hinauslaufen sollte. Meine Kenntnisse, den Krieg betreffend, sind natürlich allesamt nur schmal angelesen. Dennoch ist der zweite Weltkrieg, bis heute, ein brisantes Thema von Bedeutung für uns alle geblieben. Ohne zu wissen, in wieweit meine eigene Herkunft mit diesem Krieg verwoben war, hatte mich dieses dunkle Thema unserer Geschichte schon immer mit Steinen im Bauch gefangen genommen und gleichsam in eine völlig unerklärliche Trauer gestürzt, welche ich erst nach dem Tod meines „angeblichen" Vaters verstehen konnte. Ihren Ehemann, den meine Mutter mir zeitlebens als Vater vorgesetzt hatte.

    Gottlieb R. und meine nachdenkliche Wenigkeit, hatten einen gemeinsamen Verbündeten, der sich unsere stierenden Blicke gefallen lassen musste. Wir schickten ihm, dem weißschimmernden Kieselstein, unsere unausgesprochenen Gedanken mit einer gewissen Dualität. Gottlieb R. auf seine- ich auf meine unbeholfene Weise. Ich betete zu ihm, diesem kleinen weißschimmernden Stein, dass ich alles ertragen könnte was mein alter Freund Gottlieb R. mir heute noch alles erzählen würde, weil die zurückliegende Zukunft von ihm und seiner großen Familie, die 1940 begonnen- und nun beinahe achtzig Jahre zurück lag, mit einem großen Unrecht an Menschen für immer direkt und untrennbar verbunden blieb. Jene ungerechte, unverschuldete Mitschuld würde niemand je abschütteln können, auch dann nicht, wenn man eine andere Wahl gehabt hätte. Auch dann nicht, wenn man damals noch ein Kind gewesen war, weil die Erinnerungen und Erzählungen aus dieser Zeit wie Blut auf unseren empfindlichen Seelen klebt.

    Bevor der kleine, weinende Gottlieb R. mit seiner großen Familie, angeblich geschlossen und augenscheinlich freiwillig, den vollgeladenen Treck-Wagen besteigen konnte, hatten in großen Teilen von Polen unzählige Menschen auf bestialische Weise, nicht nur ihren gesamten Besitz- sondern auch oft genug ihr eigenes Leben verloren. Wer sich Hitlers Rollkommando widersetzte, wurde entweder sofort erschossen oder nach Deutschland ins tödliche Arbeitslager verschleppt. Von Glück konnten nur jene Polen sprechen, die sich bereit erklärten für die neuen Herren - die Umsiedler die da kommen würden, und denen man fälschlicher Weise ihr Einverständnis für diese Gräueltaten zusprach, künftig den Rücken krumm zu machen, um ihnen als billige, devote Arbeitskraft zu dienen. Wer in ein gestohlenes Hofgut einzog, um es einfach weiter zu bewirtschaften als sei nichts geschehen, der konnte doch kein Mensch mit einem schlagenden Herzen in der Brust sein. Dies war zu Recht vordergründig die Sichtweise etlicher enteigneter Menschen in diesem besetzten Land. Die wenigsten vertriebenen Polen waren ohne Hass gegen die ungebetenen Neuankömmlinge, weil sie die politischen Zusammenhänge begriffen und verstanden. Weil ihnen einleuchtete, dass auch diese erschöpften Menschen, die nach einer langen beschwerlichen Reise bei ihnen strandeten, nicht so ganz freiwillig ihre alte Heimat in Bessarabien- und ihre versprochene neue Heimat im großen Deutschen Reich verlassen hatten, um angeblich genau dorthin zu gelangen, wo dieser Despot sie haben wollte. Hitler hatte sie alle getäuscht; auch Stalin. Sein Ziel hieß grenzenlose Expansion über jede Leiche hinwegschreitend, die ihm im Wege lag. Polnische Bauern, Großgrundbesitzer und simples Bürgertum mussten ihr gesamtes, erarbeitetes Eigentum dieser - zwischen Hitler und Stalin perfide geplanten Enteignung überlassen, ohne dass sie je eine Chance auf Verhinderung gehabt hätten. In Bessarabien erging es den deutschstämmigen Menschen doch ganz ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass kein Blut vergossen wurde, weil man der deutschstämmigen Bevölkerung eine nennenswerte Verbesserung ihrer bisherigen Lebensumstände in täuschend schillernde Aussicht stellte, um die eigentlichen Ziele einer weltweiten Germanisierung zu erreichen, um Hitlers absurden Größenwahn zu nähren. Außerdem erinnerte man die volksdeutschen Bessarabier im Vorfeld an ihre patriotische Pflicht, dem regierenden, allmächtigen Führer des Vaterlandes- des großen Deutschen Reiches, ergeben und bedingungslos zu dienen und nichts in Frage zu stellen. Wer diesen Wahnsinnigen infrage stellte, spielte russisches Roulette. Offiziell wagte es niemand. Man erinnerte die Umsiedler mit Nachdruck an diese vaterländischen Pflichten; notfalls mit noch etwas mehr Nachdruck, damit es auch ganz bestimmt von jedermann verstanden wurde. In der noch stolzen Armee wimmelte es nur so von kleinen Himmlern, die, elegant in eine Uniform gewickelt, jedes noch so absurde Bestreben ihres allheiligen Führers, notfalls mit hartem Herzen durchführten. Sie waren diejenigen, die sich freiwillig zu dieser Umsiedlungs-Kommission meldeten. Das sprach sich bei den betroffenen Bauern bis in die hinterste Scheune wie ein Lauffeuer herum. Man wusste was zu tun ist, um Leib und Leben zu schützen.

    Im sogenannten inneren Kreis - bestehend aus diesem hergelaufenen, wahnsinnig gewordenen Proleten Adolf Hitler, mit seinen allerengsten Mordbuben und diesem psychopathischen Iosif Vissarionovich Dzhugashvili, genannt der „Stählerne", war dieser Pakt von langer Hand geplant und als beschlossene Sache zum Vollzug vorbereitet. Der Unterzeichnung dieses Vertrages stand schnell nichts mehr im Wege; die politischen Würfel waren gefallen. Unschuldige wurden zu Schuldigen gemacht. Und dann ging im September 1940 alles ganz schnell… Dann wurden die Planwagen für eine drei Tage lange und beschwerliche Reise gepackt und von Aussiedlungswilligen- und Unwilligen mit einem latenten Druck in der Magengegend zur Abreise bestiegen. Den Kindern erzähle man nichts. Kinder wurden geschont. Kinder durften nichts wissen, sie hatten ihre Münder nicht unter Kontrolle, schnappten Dinge auf.

    Die russische Regierung hatte damals, 1918 Bessarabien an Rumänien abtreten müssen. Nach dem der zweite Weltkrieg - zunächst gegen alle Erwartungen - dann letztendlich doch ausgebrochen war, forderte Russland dieses Land mit dem Namen Bessarabien unbedingt zurück. Mit dem „Hitler-Stalin-Pakt – Stalin hatte sich gegen die Cholera (Frankreich und die Briten) entschieden, und sich mit der Pest (Nazideutschland) zwecks Abkommen an einen Tisch gesetzt - wurde im Sommer 1939 Bessarabiens Schicksal somit beschlossen und besiegelt. Heim ins Reich, hieß es darin für die Volksdeutschen. Die Umsiedlung der dortigen- ursprünglich deutschstämmigen Bevölkerung, war somit ein ausgemachtes aber augenscheinliches Vorhaben ohne weitere Optionen. Im Nachhinein kann man behaupten, dass Hitler, noch während er seine Unterschrift auf dieses Abkommen setzte, irrwitzige Expansionsgedanken in seinem despotischen Schädel formte, von denen Stalin mit Sicherheit etwas ahnte. Aus „heim ins Reich wurde „ab nach Polen." Ertragreicher Boden sollte bis zur tiefsten Wurzel einverleibt und germanisiert werden. Das war zumindest ein Anfang für die bevorstehende geplante germanische Weltherrschaft, welche dieser zwielichtige, österreichische Wandmaler anstrebte.

    Schnellstens und ohne viel Zeit zu verlieren wurde eine beinharte Umsiedlungskommission ins Leben gerufen, die gnadenlos dafür sorgten sollte, dass nur ein Jahr und vier Wochen später die ersten Pferdetrecks und Lastwagen auf vorgeschriebenen Wegen ihre Heimat- ihre geliebten Dörfer und Städte verließen, damit ihre Vierseitenhöfe von den Russen in gleichem Atemzuge übernommen werden konnten. Schließlich mussten die zurückgelassenen Tiere sofort versorgt werden, weil sie in Zukunft die Versorgung der Armee gewährleisteten. Auch wenn dieser, eigentlich eher zur Feigheit neigende großmäulige Iosif Vissarionovich Dzhugashvili, genannt der „Stählerne", lieber den Schwanz eingezogen hätte, und viel lieber so getan hätte, als ginge ihn der ganze Rotz nichts an, steckte er jetzt bis zur Halskrause in einem bevorstehenden Weltdrama.

    Ein großer Teil

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