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Zu dumm zum Sterben: Die Geschichte einer nützlichen Depression
Zu dumm zum Sterben: Die Geschichte einer nützlichen Depression
Zu dumm zum Sterben: Die Geschichte einer nützlichen Depression
eBook641 Seiten9 Stunden

Zu dumm zum Sterben: Die Geschichte einer nützlichen Depression

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Über dieses E-Book

"Zu dumm zum Sterben", erzählt von der Unfähigkeit ein Trauma zu verarbeiten, welches dich sonst verarbeiten wird, wenn du es nicht rechtzeitig loslassen kannst. Es erzählt von einem Vergehen, sich einer Trauer so sehr hinzugeben, als sei sie eine schützende Hütte in die man sich, bei Bedarf, verkriechen kann. Diese elende Phobie, die zarte Pflanze Liebe zwanghaft zerstören zu müssen, weil man an sich selbst ver-zweifelt. Dieses Buch erzählt von Todessehnsucht und was daraus entstehen kann; wie rücksichtslos depressive Menschen oft sind, weil sie, die Fähigkeit sich selbst zu lieben, verloren haben und nur noch schwarzsehen. Jedermann packt sie angstvoll mit Samthandschuhen an, oder man geht dieser abstrakten Krankheit, besser gleich aus dem Wege. Pieter van Weer, ein erfolgreicher Unternehmer, steht Gunda gänzlich hilflos gegenüber. Er hat schon alles versucht seine Frau, aus ihrer nie enden wollenden Trauer, herauszureißen. Alles… koste es was es wolle, und sei es noch so absurd. Er liebt Gunda von ganzem Herzen, aber seine Kräfte, sein Verständnis, sein aus-dauernder Wille ihr zu helfen, neigen sich langsam aber sicher dem Ende zu. Es ist, als wollte Gunda seine Bemühungen einfach nicht sehen, und deshalb zerstört sie, mit strammen Schritten, sein- und ihr eigenes Leben. Je tiefer sie ihn in Schuldgefühle treibt, umso besser geht es ihr. Freunde des Hauses haben aufrichtiges Mitleid mit Pieter und schlagen sich, hinter vorgehaltener Hand, bekennend auf seine Seite. Niemand würde sich darüber wundern wenn er seine Frau eines Tages…
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Juli 2017
ISBN9783743939998
Zu dumm zum Sterben: Die Geschichte einer nützlichen Depression
Autor

Lele Frank

Die Autorin Lele Frank – sie selbst bezeichnet sich als Schreibwerkerin - wurde 1957 in Bad Kreuznach geboren, ist Bauingenieurin und hat über 35 Jahre in dieser Ellbogen-Branche gearbeitet. Ende 2012 gab sie Beruf und Firma aus persönlichen und gesundheitlichen (ausgebrannt) Gründen auf. Nach dem Ende einer dramatischen Beziehung entdeckte sie die Liebe und Leidenschaft Bücher zu schreiben. Mit ihrem ersten Buch „Tanz der Optimisten“, welches eigentlich nur einen therapeutischen Zweck erfüllen sollte, hat sie sich ins Leben zurückgeschrieben. Sie lebt an der Nordsee und bezeichnet ihre jetzige Tätigkeit als: „Das Leben genießen.“

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    Buchvorschau

    Zu dumm zum Sterben - Lele Frank

    Sie ist doch noch ein Kind…

    Die Küche in dem großen, eleganten Stadthaus, mitten im Hamburger Stadtteil Eppendorf, war so eine Art zentraler Mittelpunkt im Leben der Bewohner, dieser Wände aus Rotstein. Hier wurden Streitigkeiten, welche sich in letzter Zeit mehr und mehr hochschaukelten, ausgefochten und Wehwehchen gelindert; Dispute geführt, Fragen gestellt und manchmal sogar beantwortet; manchmal auch nicht. Oder Sympathien wurden bezeugt, was allerdings eher Seltenheitswert hatte. Hier wurde, mit ein paar auserwählten Freundinnen der Hausherrin, neuester Tratsch analysiert und durchgehechelt, die Nachbarn verurteilt, die Kinder geherzt oder verdammt, und das Essen für die Familie zubereitet. Hier wurden Überlegungen angestellt- sich Sorgen gemacht und wieder zur Gelassenheit zurückgekehrt. Gegessen wurde im angrenzenden Speisezimmer, an einer Tafel die für zwölf Personen Platz bot, so, wie es sich für eine solch gutsituierte Familie, noch heute gehörte. Die große- fast schon ein wenig mondäne Küche jüngeren Alters, war Gerdas ganzer Stolz. Am liebsten hätte sie, ließ sie die Familie wissen, hier sogar ihr Bett aufgestellt, damit sie möglichst viel Zeit hier verbringen konnte. Gerda, die perfekte, grundzuverlässige, beispielhafte Muster-Hausfrau. Gerda, die weniger perfekte, nervös besorgte, schnell überforderte Mutter zweier Kinder, die ihr langsam aber sicher, um Lichtjahre entfernt, über den dauergewellten Kopf wuchsen. Die ihr gestellte Aufgabe der Erziehung, drohte ihr zu entgleiten. Gerda verlor die Kontrolle über ihren Nachwuchs. Noch bekam ihr, tagsüber abwesender und vielbeschäftigter Ehemann Hans, nichts davon mit, mit welchen Problemen Gerda, hier und da, unsicher um familiären Frieden rang. Noch.

    Damals hatte Gerda – in generationsbedingten, anerzogenen Selbstzweifeln, überzeugt von sich nichts wert zu sein, plötzlich und unerwartet das große Los gezogen. Davon war sie felsenfest überzeugt, ja sie neigte sogar zu Ansätzen von schüchternem Stolz. Ihr Mann Hans nicht gerade ein Romantiker - hatte sich tatsächlich für sie entschieden, obwohl er jede hätte haben können, wie jeder in der Stadt wusste.

    Gut sah er aus, der Hans. Damals. Und sehr wohlhabend- war und ist der Hans. Damals schon. So würde es bleiben bis über den Tod hinaus, ahnte Gerda. Einziger Sohn der größten und ältesten Apotheke im Stadtteil Eppendorf. Begehrt von allem was nur Brüste trug oder mit den Hormonen kämpfte. Heiß begehrt wie ein Star aus schnulzigen Filmen. Aber was machte der Hans? Er schnappte sich Gerda, die Tochter des Schusters aus der Nachbarschaft, und heiratete sie ohne lange zu fackeln, quasi vom Fleck weg. Er brauche keine selbstverliebte Modepuppe, hatte er damals Gerda frei ins Gesicht gesagt. Er brauche eine zuverlässige Frau die ihm wenigstens einen Sohn gebar und ihn, den Sohn, zu einem anständigen Menschen erzog. Modepuppen hätten andere Interessen und würden ihn doch ohnehin nur seines Geldes wegen heiraten. Sie, Gerda, würde ja nicht im Traum daran denken ein Auge auf ihn riskieren, weil sie wüsste, ohnehin keine Chancen bei ihm zu haben. So, sagte der Hans damals zu Gerda, konnte er ganz sicher sein, dass sie es eben nicht auf sein Geld abgesehen hätte.

    Hans, ein pupstrockener, stocksteifer Akademiker. Sohn eines Akademikers, der Sohn eines Akademikers war, der… undsoweiterundsoweiter. Eine pupstrockene Akademikerfamilie, zurück verfolgbar bis Kaiser Wilhelm. Ohne Illusionen auf eine große Liebe hatte Gerda sich den Brautschleier übergestülpt und war fortan gut versorgt. Wenigstens etwas. Besser als nichts. Liebe vergeht, Reichtum bleibt. Diesen Spruch hatte ihr ihre Mutter ins Ohr geflüstert, als sie, damals, an der Lieblosigkeit ihres Freiers, fast zu Grunde gegangen wäre. Wenn er ihr doch wenigstens die Wahrheit nicht ins Gesicht gesagt hätte, und so getan hätte als ob… Aber nein. Hans war ein Mann der klaren Worte. Bis zum heutigen Tag hatte sich daran nicht viel geändert. Damals, als Thilo und Gunda gezeugt wurden, behielt der Hans ihren Eisprung fest im Blick. Damals sagte der Hans: „So Gerda… Leg` dich mal hin, ich muss dich jetzt lieben, sonst wird das nichts mit dem Erben." Gerda legte sich brav hin und gab ihr Bestes, in dem sie… nichts tat. Was denn auch. Erotik kannte sie nur aus Büchern, die sie spätnachmittags-, wenn der Haushalt erledigt war, zwei Stunden lang las, wovon der schicke Hans natürlich nichts mitbekam. Sinnlose Tätigkeiten lehnte er ebenso ab wie übermäßiges Pausieren. In so einem großen Haus, ohne Reinigungspersonal, bis auf die Räumlichkeiten der Apotheke, das bot genügend Betätigungsfelder, so referierte er emotionslos. Außerdem war auf der Rückseite des eleganten Altbaus auch noch ein kleiner Garten, der, dieses Objekt zu einem echten Juwel machte. Hier könne sie, Gerda, ihre erübrigende Zeit vertun. Sonnenbaden durfte sie nicht. Sonne war schlecht für die Haut. Und was sollten die Nachbarn denken, die aus den benachbarten Gebäuden den kleinen Garten einsehen konnten? Die Frau vom Apotheker ist womöglich ein Luxusweibchen das am helllichten Tag in der Sonne herumliegt, oder was? Nein nein. Nicht im Hause Melchior. Hier nicht. In diesem Hause durfte kein Müßiggang betrieben werden. Nein. Das wäre doch mal noch schöner. Nein. Nicht in seinem Hause.

    Im Erdgeschoß befand sich die große Apotheke. Hans Reich. Hier hatte Gerda nichts verloren. Besuche seiner Frau, in diesen Räumen, hatte er von Anbeginn strengstens untersagt. Wäre aus ihm ein Rechtsanwalt geworden, so wie er sich das eigentlich gewünscht hatte, und hätte er irgendwo in der Stadt eine eigene Kanzlei gehabt, wären solche Besuche auch nicht möglich gewesen. Was hätten die Mandanten von ihm gehalten? Dass er ein Pantoffelheld sei, der kontrolliert wurde? Desgleichen galt für die Kundschaft seiner Apotheke, die er, der Tradition entsprechend übernehmen musste als der Vater, sich aus gesundheitlichen Gründen, sehr früh zurückgezogen hatte. Sein Vater, der sich höchst selbst um seine Ausbildung gekümmert-, und ihn seiner Jugend beraubt hatte. So etwas vergisst man wieder. Es verwächst sich, war seine ergebene Einstellung. Es hätte ihm ja nicht geschadet, redete er sich ein, der Hans. Das zu tun, was Eltern von ihren Kindern erwarten, war doch so verwerflich nicht. Der Lohn war eine Existenz die sehr einträglich ist. Wohlstand hieß die Krone. Verzicht, der Stuhl auf dem er saß.

    In der ersten Etage waren die Wohnräume. Küche, Speisekammer, Esszimmer, Wohnstube und eine Bibliothek mit einem großen Flügel in der Mitte des holzgetäfelten Raumes. Vor der Küche war ein winziger Balkon auf dem Erker der unteren Etage. Drei Personen hätten dort nicht Platz gefunden um ein sommerliches, kleines Abendbrot einzunehmen. Wenn man im Sommer das Bedürfnis hatte den Garten zu nutzen, musste der ganze Krempel nach unten geschleppt werden. Anfangs, in jüngeren Jahren, als Hans noch voller Stolz seinen Status genoss, als er noch einen Hauch Esprit in den trockenen Knochen hatte, wurde das ein- oder andere Fest im Garten gefeiert. Aber heute… Die Kinder sind dreizehn und siebzehn Jahre alt, heute wurde der Garten nur noch von ihnen genutzt. Gerda hielt ihn in Schuss und war anschließen froh, wenn sie ihre Beine wieder hochlegen konnte, was sie im Garten nicht durfte… der Nachbarn wegen. Mitten im Sommer, wenn sieben Sonnen am Himmel standen, saß sie oben, bei geöffneter Balkontür, in der Küche und las, an der frischen Eppendorfer Stadtluft, ihre romantischen Bücher.

    In der zweiten Etage befand sich das elterliche Schlafzimmer-, ein Bügelzimmer in dem es im Sommer unerträglich heiß wurde, ein großes Bad und ein kleines Büro für Hans in das er sich - außer im Hochsommer gerne zurückzog, wenn die Kinder zu Hause waren und seine Ohren mit ihren ständigen Streitigkeiten malträtierten. Hier wäre Platz genug um ein Bett aufzustellen und von seiner Frau getrennt zu schlafen. So lange die Kinder aber noch im Haus waren, würde er davon absehen, um Zweifel, erst gar nicht aufkommen zu lassen, die Ehe könnte womöglich abgeschliffen sein. Kinder bekommen so etwas leicht mit. Sie haben ihre Ohren, überall dort, wo sie sie nicht haben sollten. Und Kinder tragen Dinge nach außen, die niemand einen feuchten Kehricht angehen, was Kinder, in ihrer Schwatzhaftigkeit, reichlich wenig interessiert. Damit meinte er in primärer Hinsicht seine Tochter, die in letzter Zeit, etwas aufsässig schien. Seit dem man ihr das Taschengeld gestrichen hatte, war sie der Meinung, dass sie nichts mehr zu verlieren hätte, und warum solle sie ein braves Kind sein, wenn es doch schlimmer nicht mehr kommen könne. Zum einen war Hans genervt von ihrem stillen Aufstand, zum anderen, beeindruckten ihn aber, die intelligenten Zusammenhänge, welche Gunda, aus ihrer misslichen Lage schöpfte.

    In der dritten Etage, lagen die beiden Kinderzimmer und zwei Gästezimmer, die Hans, lieber von weiteren Erben besiedelt gesehen hätte. Die Geburt von Gunda hatte es aber in sich, und Berthold, der nette Gynäkologe und ehemalige Schulfreund von Hans, riet von weiteren Schwangerschaften dringend ab. Hans hielt sich daran, und hatte sich seitdem nie wieder zu seiner Frau gelegt. Nachdem er seine Produktion eingestellt hatte, blieb ihm nichts weiter übrig, als sich mit nur einem Sohn und einem weiblichen, seltsamen Kind abzufinden. Anstelle einer Gunda, wäre ihm, ein Gunwald lieber gewesen. Das dumme an der ganzen Sache war: Ein Junge und ein Mädchen konnten sich unmöglich ein Badezimmer teilen. Also musste dieser große Raum, in dem das alte Badezimmer gewesen war, in zwei kleinere, getrennte Nassräume aufgeteilt werden. Kinder sind teuer, erkannte Hans damals schneller als ihm lieb war. Und noch teurer, wenn sie nicht gleichgeschlechtlich sind. Und noch viel, viel teurer, wenn eines der beiden Kinder, ständig irgendwelche Lebensmittel in sich hineinstopfte, und dementsprechend rundlich daherkam. Bei seinen Kindern hatte es ausgerechnet Gunda getroffen. Mit sechs Jahren, als sie zur Schule kam, fing sie plötzlich damit an alles in sich hineinzufressen was ihr in die Hände geriet. Nahm man es ihr Essbares wieder ab, oder reglementierte sie streng, stahl sie es. Sie stahl sehr zum Unmut von Hans - sogar im benachbarten Lebensmittelladen, ausgerechnet bei Frau Dostjewski der alten Tratsch-Tante, und stritt es nicht einmal ab. Sie habe eben Hunger, argumentierte sie zu aller Peinlichkeit auch noch lapidar. Wäre sie nicht die Tochter des Apothekers gewesen - Frau Dostojewski vom Lebensmittelladen hätte damals die Polizei herbeordert, wenn ihr Mann sie nicht daran gehindert hätte. Aber so, die Tochter des Apothekers? Das ließ sich doch unter der Hand alles wunderbar regeln, meinte der kluge Lebensmittelladenbesitzer und erlöste Hans Melchior von seinen schlimmsten Befürchtungen. Seiner Frau hatte Hans damals die größten Vorwürfe gemacht. Sie hätte das Kind nicht im Griff-, achte nicht darauf dass es sich bei Tisch satt essen würde, sie solle mit ihr zum Arzt gehen, weil dieser Appetit, in den Ausmaßen, ja nicht mehr normal sei. Vielleicht habe sie einen Bandwurm, vielleicht einen unbekannten Virus. Irgendwas. Er wüsste da als Apotheker schon ein geeignetes Mittelchen, aber das sei sogar für Erwachsene nicht ganz ungefährlich. Und umbringen wolle er seine Tochter ganz gewiss nicht. Obwohl… Manchmal…

    Als Hans damals in das verzweifelte Gesicht seiner Frau blickte, tat sie ihm fast ein bisschen leid. Hans hatte sich umgedreht und seinen begonnenen Satz untergeschluckt. Von diesem Tag an, legte er sich einen schussfesten Panzer aus Ignoranz um, und kümmerte sich nicht mehr um den Appetit seiner einfallsreichen Tochter. Gerda war schließlich für die Erziehung zuständig. Seine Aufgabe war es, den familiären Wohlstand, zu erhalten und zu vermehren. Auch wenn sie im Urlaub noch nie weiter als bis Blavand gekommen waren.

    Das war vor sieben Jahren. Gunda ist heute dreizehn. An ihrer Körperfülle hatte sich nichts geändert. Im Gegenteil. Sie war drall beieinander und hatte sogar ein kleines Doppelkinn. Gerda verweigerte ihr seit mehr als sieben Jahren das Taschengeld, welches sie - Gunda ausschließlich in Süßigkeiten investiert hatte. Ihre Tochter ließ sich davon aber nicht mehr beeindrucken. Jetzt war sie alt genug um ihre private Kinderkasse selbst aufzubessern. Jetzt brauchte sie der Mutter nicht mehr heimlich ein paar Groschen aus der Haushaltskasse zu stibitzen. Sie führte Hunde von älteren Damen aus, erledigte Einkäufe, half bei Kleinigkeiten in fremden Haushalten, und vernachlässigte fröhlich ihre Schularbeiten mit dem Argument, sie gehöre ja jetzt zur arbeitenden Bevölkerung-, zum Proletariat sozusagen. Gerda hoffte insgeheim, dass ihr Mann es endlich einsah, dass dem Kind nicht beizukommen sei, und es doch keinen guten Eindruck hinterlassen würde, wenn die Tochter des Apothekers, sich so abrackerte. „Arbeit schändet nicht", lautete Hans Kommentar. Damit war die Sache erledigt. Aus seiner Tochter müsse keine berufliche Koryphäe werden. Hauptsache sie würde eine gute Partie machen. Dafür würde er schon sorgen. Frauen die nicht so attraktiv seien, so meinte er zu wissen, wären bei wohlhabenden Männern beliebter als sie es selbst für möglich hielten. Dabei überzog er seine eigene Frau mit einem wissenden Blick, den Gerda aber resistent ignorierte. Alles andere sei neumodisches, unsinniges Emanzipations-Gesabbel, meinte er auch noch zu wissen. Neumodischer Kram. Der beschlossene Beruf seines beschlossenen Sohnes, war schon bei seiner Geburt beschlossene Sache. Alles andere war unwichtig. Tochter hin oder her. Sie, fiel aus seinen Interessen heraus, wie ein überreifer Apfel aus einem übervollen Obstkorb. Gute Manieren sollte sie haben-, damit aufhören so zu spachteln, als gäbe es morgen nichts mehr zu essen, dann wäre der Fisch geputzt. Wäre es nach ihm, Hans, gegangen, hätte er Gunda viel lieber in ein günstiges Internat abgeschoben, statt sie - auf Empfehlung der dusseligen Lehrer - auf das hiesige Gymnasium zu schicken. Im Internat hätte man ihr die elende Fresserei schon ausgetrieben, dessen war Hans sich sicher. Aber Gerda hatte sich aufgebäumt wie ein wildes Pferd, und ihm gedroht, ihn zu verlassen wenn er das in die Wege leiten würde. Nur über ihre Leiche, hatte sie damals gekreischt. Überhaupt, es war Gerdas einziger Aufstand, an den sich Hans erinnern konnte. So hatte er sie noch nie-, während ihrer ganzen Ehe nicht gesehen und erlebt. Sie…? Bereit einen Skandal vom Zaun zu brechen? Das war wirklich allerhand. Er stand damals vollkommen hilflos, ganz alleine auf weiter Flur des hölzernen, trockenen Eheparketts. Kapitulieren und schweigen half ihm wieder aus der prekären, peinlichen Lage hinaus. So, wie er es immer machte, wenn es eng wurde um ihn herum. Das Kind blieb da und futterte munter weiter. Schweigen. Ein funktionierendes Allheilmittel gut angesehener Familien, die auf Biegen und Brechen, den Schein wahrten. Das war vor sieben Jahren. Man wahrte und wahrte und wahrte diesen, ach so schönen Schein noch heute… Den schönen Schein der heilen, intakten- mit Emotionen sparsam haushaltenden Familienwelt. Wie dicke es noch kommen würde, ahnte damals noch niemand.

    „Ich will aber auch mitkommen", lamentiert Gunda weinerlich. Sie wischt sich mit dem Handrücken den Rotz von der Nase, steht auf, weiß nicht was sie tun soll und setzt sich wieder. In ihrem Brass, um ein Haar neben den Küchenstuhl.

    – Du spinnst wohl ein bisschen kontert Thilo, eiskalt und großspurig wie immer. Sein Blick ruht angewidert auf seiner Schwester.

    – Waaarum, verdammt nochmal? Warum denn?

    – Weil du erst dreizehn bist, verdammte Hühnerkacke. Und weil du ein Mädchen bist. Und weil du meine Schwester bist. Und überhaupt…

    – Und überhaupt was?

    – Ich will dich nicht dabeihaben. Fertig. Sense.

    – Aber ich mache doch gar nichts.

    – Eben.

    – Eben was?

    – Geh mir nicht auf die Nerven.

    – Tu ich doch gar nicht. Ich will doch nur mitkommen. Nur ein bisschen. Nur einmal. Nur ein winziges Stündchen. Mehr nicht.

    – Ach leck mich doch.

    – Wo?

    – Wie bitte?

    – Wo ich dich lecken soll. Ich mach`s.

    – Jetzt bist du vollkommen übergeschnappt, was?

    – Bin ich nicht. Och Menno… Sei doch nicht so. Gunda steckt sich über den Küchentisch, macht ihre Arme lang, und faltet die Hände wie zum Gebet. Sie dreht ihren Kopf etwas seitlich, in der Hoffnung, sie sähe niedlich aus in dieser Position.

    – Am Aaaharsch. Verstehste?

    – Schluchz…

    – Hör bloß auf zu heulen. Das hilft dir gar nichts.

    – Ich heule ja nicht. Ich doch nicht.

    – Dann ist ja gut. Alles in Butter.

    – Am Aaahrsch. Nix ist in Butter.

    – Was willst du denn noch?

    – Und…? Was wäre, wenn ich Papa erzählte, dass du heimlich in deinem Zimmer geraucht hast? Hä…? Was wäre dann?

    – Ach? Du willst mich verpetzen? Am Ende noch erpressen? Jetzt wird `s aber hinten höher als vorne. Leg` dich nicht mit mir an, du. Du… Pummelfee du verfressene.

    Gerda hörte schon auf der Treppe zum ersten Obergeschoss, dass die beiden schon wieder miteinander stritten. Sie stöhnte genervt und wechselte die Hand für die schwere Einkaufstasche. Diese Schlepperei ging ihr langsam aufs Kreuz. Einen Führerschein hatte sie ja nicht, weil ihr Mann es nicht wollte, also erledigte sie alles perpedes. Hans zu überreden, mit ihr einkaufen zu gehen, wo es doch jetzt in der Stadt einen neuen Discounter mit den Ausmaßen Luxemburgs gab, dass konnte sie getrost vergessen. Edeka hatte sich selbst neu erfunden, und strebte eine neue Verkaufsstrategie an, die ihrer Kundschaft den Einkauf nicht nur schmackhaft machen-, sondern neuerdings enorm erleichtern sollte. Übersichtlicher und größer, als alles, was man bisher kannte. Zu gerne wäre Gerda nur einmal dorthin gefahren. Aber Hans Melchior weigerte sich strikt, obwohl vor der Haustüre ein nagelneuer Mercedes S 280 stand, der die alte Mercedes-Benz 300 Adenauer (W186 II) 4-Türer- Limousine, von ihrem angestammten Platz verdrängt hatte. Dieses altmodische Fahrzeug, hatte Hans damals, von einem befreundeten Arzt, in immer wiederkehrenden Geldnotintervallen, zu einem sportlichen Preis erstanden. Gerda fand diesen Wagen schon zum damaligen Anschaffungszeitpunkt sehr altbacken. Aber Hans behauptete, dass diese Kutsche einmal ein begehrter Oldtimer werden würde, und der Kauf, sich eines Tages auszahlte. Als hätte ausgerechnet Hans eine Ahnung von Autos. Er konnte nicht einmal ein Bild in der Wohnung aufhängen, der ungeschickte Pillendreher der. Und anstatt dieses alte Ding zu verkaufen, hatte er den Wagen zu einem seiner Kunden überführt, der ihn konservierte und für eine monatliche Gebühr in einer Halle unterstellte. Dort stand er nun und war für nichts mehr gut. Gerda verstand ihren Mann nicht. Wozu sollte das denn gut sein? Ein Auto im Dornröschenschlaf? Seltsame Idee das.

    Gerdas Ehe war nun fast achtzehn Jahre alt. Als ihr Sohn Thilo, vor vier Wochen, seinen siebzehnten Geburtstag feierte, stellte sie sich die Gretchenfrage, wo die Zeit geblieben war. Auf dem Kalender stand zwar die Zahl 1972, außer, dass ein nagelneuer Mercedes S 280, den alten, altmodischen Wagen von seinem Platz verdrängt hatte, und die Kinder immer größer und unkontrollierbarer geworden sind, hatte sich in ihrem Leben nicht viel geändert, sah man von den kleinen Speckrollen auf ihren Hüften ab. Ja, und die Augen waren etwas schlechter geworden, was eine lästige Lesebrille erforderlich machte. Sie lese zu viel Schund hatte Hans zu ihr gesagt. Als würden die Augen nicht leiden, wenn man bildende Literatur zu sich nahm. Gerda damit zu kränken gelang ihm nicht. Gerda war so voller friedliebender Demut und Gutmütigkeit, dass keine noch so bissige Beleidigung, dieses dicke Fell hätte durchdringen können. Die Reise in ihr inneres „Ich" war kurz und schmerzlos schnell erledigt, und von näherem Hinsehen, verschont geblieben. Wäre eine Profilzeichnung ihres Wesens erforderlich, dann sähe es so aus: Sie ist halt da. Hier in dieser Familie die sie hinnimmt und ausnutzt, ohne dass sie erspüren würde, dass es so ist wie es ist. Ein Weltbild, weich und friedfertig, welches zu ihrer dauerhaften Sättigung, einen nicht unbeachtlichen Beitrag leistete. Gott machte sie satt und blähte ihr Herz auf. Tiefster Glaube egalisierte jegliches Unbehagen. Schmalspurzufriedenheit, Anspruchslosigkeit und Demut- getränkt, ertränkt von einem liebevollen, reinen, arglosen Herzen. Im Grunde zu schade um so missbraucht zu werden, aber ohne sichtbares Aufbegehren, und nicht fähig zu nachhaltigen Vetos, weder ihren Kindern- noch ihrem Mann gegenüber. Diese schlichte Stabilität sicherte ihr die Liebe ihrer Kinder zu. Sie sahen in ihr ein Familienschaf zur Sklaverei verdammt. Sie - die Kinder - hatten Mitleid mit der Mutter und schonten sie so gut es ging. Doch da gab es noch etwas, worüber man sich nicht im Klaren war: In ihren Köpfen hatte sich eine Art Verachtung manifestiert, welche sich unbemerkt, negativ auf die Erziehung auswirkte. Gunda und Thilo, würden erst weit im Erwachsenenalter, zu der Einsicht gelangen, dass sie zeitlebens, von der Rückradlosigkeit der Mutter und ihrem despotischen Vater, irreparabel beschädigt wurden. Jeder auf seine Weise, und jeder irgendwie fatal. Kinder aus gutem Hause.

    „Ach Kinder… Warum habt ihr euch denn schon wieder in den Haaren? Draußen ist so ein schönes Wetter, und ihr sitzt hier und streitet euch schon wieder wegen nichts und wieder nichts. Muss das denn sein? Gunda, hilf mir mal beim Auspacken." Gerda sah ihre Tochter mit den altbekannten Dackelaugen an, und verfehlte ihr Ziel, von dem sie wusste, dass sie damit bisher als Friedensrichter recht erfolgreich schlichten konnte. Heute sah ihre Tochter sie nicht einmal an. Sie fixierte weiterhin unbeeindruckt ihren Bruder, und schien regelrecht auf dem Sprung, um ihm die Kehle zu zerfetzen. Gerda wusste, dass Gunda sich mit der Pubertät schwer tat, und praktizierte, eine tödliche Nachsicht, die in Thilo eine blinde Eifersucht hervorrief. Wo er nur konnte schikanierte er seine Schwester. Am schlimmsten hatte er Gunda getroffen, als er ihre heimlichen Vorräte an Süßigkeiten in seinen Besitz brachte, und sie, in aller Seelenruhe, selbst verspachtelte. Natürlich konnte ihm Gunda keine Beweise für seinen Diebstahl liefern; zwei und zwei zusammenzählen, das konnte sie aber schon. Im Hause Melchior wurde aber nicht gepetzt; so dass erzieherische Prinzip des Vaters. Wer petzte, bekam die Strafe, die dem eigentlichen Sünder zustand. Ungerecht aber wirkungsvoll. Hans ließ sich von seinen Praktiken nicht abbringen und glaubte an seinen Erfolg, die Kinder, so, zur Loyalität anzuhalten. Thilo fühlte sich also sicher wie in Evas Schoß und grinste gemein. Nachtragend war sie außerdem, seine Schwester. Die kleinste Kleinigkeit krallte sich in ihrer Erinnerung fest, und blieb für immer, dort in dieser unvergesslichen Erinnerung, sicher eingelagert. Bei allem Sicherheitsgefühl durfte er, diese ärgerliche Tatsache, nicht aus den Augen verlieren. Man konnte ja nie wissen. Schließlich war sie, Gunda, doch irgendwie, schon eine kleine, unberechenbare Frau. Gunda kochte vor Wut, weil die Mutter sich nicht nach dem Anlass für diesen Streit erkundigte, und fühlte sich sofort schmerzvoll übergangen. Als sie hinter dem Rücken der Mutter eine Geste machte, die das Rauchen einer Zigarette bedeutete, rastete Thilo beinahe aus. Wenn Vater es erfuhr, gäbe es richtigen Ärger.

    – Sie will unbedingt mit mir und meiner Clique auf den Dom, Mutter. Das kommt überhaupt nicht infrage. Sie ist dreizehn. Das fehlte noch, dass ich bei meinen Freunden mit der kleinen Schwester im Schlepptau aufkreuze. Sag ihr das. Sie soll damit aufhören mich so penetrant anzubetteln, er nützt ihr nichts. Ich werde sie auf keinen Fall mitnehmen. Ich bin doch nicht bescheuert und mache mich zum Babysitter.

    –Thilo Schatz. Mäßige bitte deinen Ton. Wir wollen alles in Ruhe besprechen. Wir finden eine Lösung. Lasst das Geschrei sein. Ich bekomme Kopfschmerzen davon. – So… Da hast du es, du… du… Arschlöcher, posaunte Gunda selbstbewusst mit verzerrtem Gesicht und durch den Einwand einer Lösung die man suchen wollte, kräftig unterstützt. Mutter bekommt Kopfschmerzen von dir. Mäßige dich.

    – Arschloch.

    – Was?

    – Das heiß Arschloch, und nicht im Plural, du Dumpfbacke. Nicht „öcher", sondern …och, verstehste, Schwesterherz?

    Thilo suchte nach seinem bösartigsten Grinsen und beugte seinen Oberkörper nach vorne, in die Richtung, in der seine nervige Schwester stand.

    – Also Kinder… Nicht diese Worte in meinem Haus. Was sind das denn für neue Töne die hier angeschlagen werden? Ich will das nicht mehr hören. Schluss jetzt! Wir sind doch hier nicht auf dem Rummelplatz, auf dem sich die derben Karussellen-Bremser so titulieren.

    – Doch, fauchte Gunda. Genau da will ich hin; zu den Karussellen-Bremsern auf dem Rummelplatz. Genau da. Und Thilo will mich nicht dabeihaben. Dabei weiß ich… (Raucher-Geste)

    – Wage es nicht, sagte Thilo, und machte einen großen Satz nach vorne Richtung Gunda.

    – (Geste: Zunge herausstrecken)

    – Wenn ihr nicht zur Vernunft kommen wollt, und wir nicht vernünftig darüber sprechen können, muss ich euren Vater aus der Apotheke hochholen. Ihr könnt es euch aussuchen. Ja…? Wie sieht es aus? Wollt ihr das? Dabei machte Gerda einen Schritt auf die beiden Kampfhähne zu, so, als wolle sie in der Mitte, einen unüberwindbaren Schutz-wall aufstellen.

    – Zu spät, gluckste Gunda. Sie riss eine Möhre aus dem Einkaufskorb und rauchte sie.

    Hans stand in der Küchentür und beobachtete - wie lange wusste niemand - das unerfreuliche Schauspiel in seinem akademischen Hause. Thilos, von der hitzigen Debatte hochrote Birne, änderte seine Farbe und wechselte auf grünlich-weiß. Gerda drehte sich um und lächelte debil, so, als sei alles halb so wild und nur ein dummes Missverständnis. Gunda zog noch einmal an ihrer Möhre, und blies - für alle gut hörbar - die Luft mit gespitzten Lippen aus.

    – Wenn mir freundlicher Weise jemand erklären könnte was hier los ist, fragte Hans mit gefährlich leiser Stimme. Sofort brach die Hölle los, und jeder wollte zuerst, am lautesten-, am wahrsten, vordergründig seine Ansichten kundtun. Sogar Gerda, von der man das nicht gewohnt war, mischte mit, weil sie das Unheil in letzter Sekunde abzuwenden glaubte. Dabei behielt sie ihre Position zwischen beiden Kindern bei. Man konnte ja nie wissen.

    – Ruhe!

    Betretene Stille. Die Augen allesamt auf den Herrn des Hauses gerichtet. Kein Mucks war zu vernehmen. Eine herabfallende Stecknadel hätte einen Höllenlärm verursacht. Selbst Gunda schluckte ihre Möhren-Rauchluft unter und drohte an der vielen Luft die sie unterschluckte, beinahe zu ersticken. Gerda stand immer noch, mit friedensstiftend, ausgebreiteten Armen zwischen ihren Kindern und wagte sich nicht die Arme wieder herunterzunehmen. Sodom und Gomorra, schoss es ihr durch den Kopf, woraufhin der, sofort zu schmerzen begann.

    – So… sagte Hans.

    Sofort begannen die malträtierten Glieder Gerdas sich wieder etwas zu entspannen. Alleine dieses kleine Wörtchen „so reichte dazu aus, nach dem alten Modus der Friedensstiftung zu suchen, auch wenn die Bedeutung des kleinen Wörtchens „so, hier nichts Gutes verhieß.

    – Jetzt wird mir Thilo - in der Position des Lieblingskindes, was Hans selbstverständlich nur leise dachte, aber nicht hörbar formulierte - erklären, und zwar sachlich und der Reihe nach, um was es hier geht, warum ihr euch wie die Barbaren aufführen müsst. Ich höre. (Geste: Handmuschel an der linken Ohrmuschel, begleitet von grimmigem Blick in die familiäre, verunsicherte Runde)

    – Räuspern.

    – Na… Wird`s bald!

    – Also ich… Ich bin… stotterte Thilo.

    – Ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf, verunsicherte Hans seinen Sohn unnötiger Weise.

    – Ich bin auf dem Dom mit Freunden verabredet, und Gunda will unbedingt mitkommen, und ich will das aber nicht, weil sie erst dreizehn ist, und außerdem ein Mädchen, und überhaupt…

    – Aha. Ein Mädchen.

    – Ja. Und wenn ich sie wirklich mitnehmen muss, wenn auch nur für zwei Stunden, dann gehe ich gleich am besten überhaupt nicht hin, weil ich mich nicht blamieren will. So ist das. So.

    – Dann ist doch alles gut, nicht wahr?

    – Was soll denn jetzt gut sein, bitteschön?

    – Dein Ton gefällt mir nicht, Sohn. Dieses „bitteschön" hat am Ende deiner Rede nichts verloren, verstehst du? Fragen ja, provokant fragen, nein. Haben wir uns verstanden?

    – Aber Papa. Ich…

    – Nichts da. Keiner von euch geht auf den Dom. Schluss, aus, Ende. Du machst nächstes Jahr dein Abitur, Sohn, und hast Wichtigeres zu tun als dich dummen Vergnügungen vor das gefräßige Maul zu werfen. Und du kleine Dame; reiß dich zusammen, sonst fahren wir auf der Stelle gemeinsam in ein schönes, ruhiggelegenes Internat, welches ausschließlich Mädchen vorbehalten ist. Haben wir uns klar und deutlich verstanden? Hans dreht sich ein letztes Mal zu seinem Sohn, und sagte: „Du sollst nicht Papa sagen. Ich bin dein Vater. Wie oft soll ich das noch sagen? Papa zu sagen überlassen wir den proletarischen Unterschichten. Es ist ohnehin schon wenig genug was man uns noch an Differenzierungen vergönnt. Der Mopp ist auf dem Vormarsch. Gewerkschaften sind modern. Und du Sohn; sei dir deiner Abstammung bewusst, Sohn." Damit verließ er die große Wohnküche, weil er sowieso schon wieder vergessen hatte, warum er überhaupt nach oben gegangen war. Gerda ließ ihre schmerzenden Arme sinken und setzte sich erschöpft auf den Küchenstuhl. Sie wagte es nicht ihren Kindern ins Gesicht zu blicken. Gerade so, als sei sie dafür verantwortlich gewesen, dass ihr Mann, so plötzlich hier aufgetaucht war. Ihr gesengter Blick fiel schäl auf die Küchenuhr. Erst in einer Stunde war Zeit für den nachmittäglichen Kaffee und das gewohnte Stückchen trockenen Blechkuchen. Erst in einer Stunde.

    Gunda hielt immer noch ihre Mohrrübe zwischen Zeige- und Mittelfinger. Die Lust zum Rauchen war ihr gehörig vergangen. Einzig auf Thilos Gesicht regte sich etwas. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben, zeigte sich auf seiner glatten Stirn-, seitlich an den Schläfen, eine dicke, pulsierende Ader die bläulich schimmerte. Ein winziges Saatkorn fiel hinab in seine wütende Seele. Aus dieser Pflanze wollte fortan ein üppiges Gewächs gedeihen, welches der Menschheit als Hass, bereits bekannt war. Noch zart die Pflanze, noch jung, aber schon so kräftig, dass man sie nicht mehr so ohne weiteres vertilgen konnte. Sie strebte gen Himmel und wollte zu einem mächtigen Baum werden.

    Gerda, zur Harmonie verdammt, erschaffen Wohlgefühl wie Konfetti in die Luft zu werfen, saß immer noch auf ihrem Stuhl und konservierte ihre ängstliche Risikolosigkeit in ihre muffige, verzweifelte, sinnlose Langeweile, eingewickelt in bürgerlichem Mief. Diese Situation eben, brachte sie, an den Rand ihres Verständnisses. Alles nur wegen eines dummen Volksfestes, welches den Stein des Anstoßes innehatte. Es gibt Aasgeier, ging es ihr durch den schmerzenden Kopf, die fressen alles, Hauptsache satt. Geier die was auf sich halten, legen Wert auf Reales-, wenn auch mit fadem Beigeschmack. Der Rest fliegt unten und ernährt sich redlich. Sie selbst? Tribut bezahlen, schrie es in ihr. Tribut bezahlen für die Sicherheit gelebten Bürgertums. Selbstverleugnung. Sich verlieren. Wir heißen uns hoffen. Wer war sie eigentlich, dass sie sich nicht wagte einen Standpunkt zu vertreten? Eine Frau Niemand. Die Frau des Apothekers, von der nur wenige ihren Namen wirklich kannten. Sie war die Frau des Apothekers. Mehr nicht. Ihre Kinder, die ihr entglitten-, sich voneinander, ineinander entfernten, begannen einen Wettbewerb anzuzetteln, den die Tochter niemals gewinnen konnte. Würde sie ihr - der Tochter - womöglich die Freiheit schenken, wenn sie mit der Abschiebung in ein Internat einverstanden wäre? Woher sollte sie das wissen?

    Dieses Kind war ihr selbst ganz fremd. Es verbarg sich hinter einem üppigen Panzer aus Fett und ließ niemand wirklich an sich herankommen.

    Der Sohn, ausgestattet mit der gleichen Arroganz und Überheblichkeit wie der Vater selbst, war ihr schon um Lichtjahre voraus, ließ sie sein gnädiges Mitleid mit ihr, immer mehr spüren, und entfernte sich ohne liebevoll zurückzublicken. Er hatte heimlich geraucht, dass hatte sie gerochen. Warum sagte sie nichts? Hatte sie Angst vor ihm… dem eigenen Sohn? Ja, gestand sie sich ein. So war es. Sie hatte Angst. Kann man als verblasste Persönlichkeit, ohne eckiges Format, überhaupt etwas anderes stiften als Harmonie? Kann man, so konstruiert wie Gerda es war, Streitigkeiten begegnen, eingreifen, Meinungen äußern oder einen Krieg anzetteln? Diskussionen dominieren? Sich Gehör verschaffen, wahrgenommen werden? Nein, gestand sie sich ein. Man konnte es nicht. Sie… konnte es nicht. Sie konnte nicht einfach ihrer eigenen Haut entschlüpfen. Aussitzen, aushalten, ertragen, hinnehmen, dulden, schweigen und wegsehen. So schwer konnte das doch nicht sein. Mit etwas Glück würde die Tochter das Elternhaus früh verlassen und eine eigene Familie gründen, um ihrer jetzigen Familie zu entkommen. Bis dahin müsste sie sich taub stellen. Nur ein paar Jahre noch, dann würde sich alles wie von selbst in Wohlgefallen auflösen, und sie, könnte mit ihrem Mann, den Wohlstand genießen, wenn er, Hans, es bis dahin nicht vollkommen verlernt hätte.

    Als erster, aus dieser schweigenden Dreiergruppe, verließ Thilo ohne ein Wort die Küche. In der Tür drehte er sich noch einmal zu seiner Schwester um, und schickte ihr einen undefinierbaren, unheimlichen Blick. Gunda, tatsächlich von dieser nonverbalen Nachricht beeindruckt, beließ es dabei, und hielt, im Gegensatz zu sonst, vorsichtshalber die Klappe. Sie wartete noch ab bis sie ganz oben die Tür ins Schloss fallen hörte, und machte sich dann auch auf, ohne die Mutter eines Blickes zu würdigen. Was in ihr vorging wusste nur sie selbst. Gerda wollte es nicht wissen, sie war für heute reichlich bedient. Das penetrante Schellen des Telefons riss sie aus ihren niedergeschlagenen Gedanken. Wie eine alte Frau erhob sie sich und nahm ab.

    – Melchior, meldete sie sich, so wie immer.

    (Zuhören was an der anderen Seite gesprochen wurde)

    – Oh, das ist schön, säuselte Gerda mit einer eingeübten Kleinmädchenstimme. Ihr Vertuschungs-Modus funktionierte noch. Sie lauschte der Anruferin - Frau Doktor Herrmann lud zum Geburtstagsdinner ihres-, als waghalsiger Chirurg bekannten, berühmten Mannes und unterbrach sie nicht. Im Handumdrehen erfuhr sie den allerneuesten Klatsch und Tratsch der Blankeneser High-Society, sagte schon mal zu, bedankte sich für die Einladung, und legte wieder auf. Ihr Mann Hans wird begeistert sein von dieser unverhofften Einladung, denn er legte großen Wert auf Umgang mit großen Leuten. Darüber definierte er sich geradezu, und ließ es jeden wissen, der es nicht hören wollte: „Sage mir mit wem du befreundet bist, und ich sage dir wer du bist", schwadronierte er allzu gerne, zur Angabe neigend. Und sie, Gerda, bekäme zur Feier des Tages wieder mal ein neues Kleid, weil man in diesen Kreisen, nicht zweimal dasselbe Kleidungsstück tragen konnte. Es schickte sich nicht. Man wurde genau beobachtet. Die Auseinandersetzung von vorhin war bereits vergessen. (Neuauflage debiles Lächeln)

    In den kommenden beiden Wochen herrschte im Haus eine merkwürdige, ruhige, ungreifbare Atmosphäre, die an eine leere Kirche erinnerte. Thilo beachtete seine Schwester mit keinem Blick, und sprach sie auch nicht an. Gunda hatte zwar ein paar halbherzige Versuche unternommen, sich mit ihrem großen Bruder wieder gut zu stellen, scheiterte aber an dessen Sturheit, kalter Schulter und Unverzeihlichkeit. Nur einmal, als sich auf der Treppe ins Dachgeschoss, eine Begegnung nicht vermeiden ließ, zischte er ihr entgegen, dass er ihr noch auflandigen Wind versprechen würde, und bezeichnete sie zynisch als: „liebstes Schwesterherz." Gunda war über diesen geflüsterten, verbalen Angriff sehr erschrocken. Ein kurzer Blick in Thilos Augen hatte ihr das Blut in den Adern gefrieren lassen. Darin flogen dunkle Wolken wild hin und her, erinnerten sie an einen verrückt gewordenen Stier, der alles überrennen wollte was ihm vor die Hufe kam. Aber was wollte er schon Großartiges tun um sich für den verpatzten Besuch auf dem Hamburger Dom zu rächen? Ihr schon wieder den heimlichen Vorrat an Süßigkeiten wegspachteln? Ihr sauer verdientes Taschengeld stehlen? Pitschnasse Schwämme unter ihrem Leintuch verstecken, oder den Schlüssel zu ihrer Zimmertür verstecken? Dagegen konnte sie sich wappnen. Sie traf schleunigst vorbeugende Maßnahmen, in dem sie sich ein neues Versteck aussuchte-, ihr Geld immer bei sich trug, und sich an einem alten Schuhbändel, den Zimmerschlüssel um den Hals hängte. Nichtsahnend, von Thilos bösen Gedanken und unverzeihlichen Racheplänen, wog Gunda sich in einer unsicheren Sicherheit.

    Dann kam der Abend, an dem die Eltern sich, mit unzähligen Ratschlägen des unabdingbaren Gehorsams, von ihrer eigenwilligen Brut verabschiedeten, um Herrn und Frau Doktor Herrmann die Ehre zu erweisen, als gerngesehene Gäste, auf ihrem protzigen Fest aufzuschlagen. Gerda war - ebenso wie ihrem geschätzten, akademischen Gemahl, das eindeutige Anzeichen für bevorstehendes Unheil, vor lauter Euphorie auf das bevorstehende, gesellschaftliche Ereignis, komplett entgangen. Keiner der beiden, weder Gunda noch Thilo, hatten darum gebeten, fernsehen zu dürfen. Keiner der beiden, weder Gunda noch Thilo, beschwerten sich oder legten ein Veto ein, etwas anderes tun zu wollen. Kein Maulen, kein Streit, keine Fragen. So harmonisch, so verständnisvoll, so, ging es zuvor noch nie. Das Haus war leer. Gunda und Thilo waren in ihren Zimmern zurückgeblieben. Gunda hatte sich, in weiser Voraussicht, heute Nachmittag einen auskömmlichen Vorrat an Köstlichkeiten beschafft, und war gewappnet, den Abend und die Nacht über, ihr Zimmer nicht zu verlassen. Weil beide Zimmer über ein kleines Duschbad en Suite verfügten, ließ sich dieses Vorhaben problemlos in die Tat umsetzen. Bevor sie sich der Entspannung hingab, nahm sie den Zimmerschlüssel von ihrem Hals ab, steckte ihn ins Schloss und drehte einmal um. Man konnte ja nie wissen. Im Familienwohnzimmer stand zwar ein nagelneues Fernsehgerät, aber ohne väterliche Kontrolle, war dieses herrliche Ding, für beide Kinder tabu. Heute, zum ersten Mal, wurde diese unbeliebte Regelung, wortlos und ohne Debatte akzeptiert. Nur sehr widerwillig hatte Hans so ein Gerät angeschafft. Obwohl alle Welt bereits eines besaß, war es ihm gelungen, dessen Einzug ins akademische Melchior-Haus, so lange hinauszuzögern. Er hielt diese Erfindung für entwicklungsschädlich und ließ nur widerwillig mit sich verhandeln. Thilo, in seinem Zimmer nicht minder versorgt, las was er nicht sollte, und Gunda las was sie nicht konnte. Je mehr Pseudo-Philosophische Sätze es in einen Text hineingeregnet hatte, umso wohler fühlte sie sich. Auch wenn sie kein einziges Wort davon wirklich verstand, saugte sie die verschachtelten Worte in sich hinein, und vergaß sie wieder. Mit aller Macht erarbeitete sie sich eine verschrobene Intellektualität, die ihr, in ihrem späteren Leben, noch sehr zu schaffen machen würde, weil sie, alles was ihr begegnete, erst einmal gründlich infrage stellen würde, um es mit gefährlichem Halbwissen zu analysieren, um damit, der restlichen Menschheit auf den Nerv zu gehen. Thilo belächelte ihren Ehrgeiz-, die Mutter lobte sie als besonders intelligentes Kind in alle Himmel, und der Vater rechnete sich schon aus, was es kosten würde, wenn seine Tochter ein unnötiges Studium anstreben wollte, an Stelle sich, schnellstens gut und wohlhabend zu verheiraten. Wirklich ernst nahm er sie allerdings nicht. Er hielt ihre Manie-, ihre Vorliebe für Philosophisches eher für eine Art Wichtigtuerei, um mit dem Bruder Schritt zu halten; ihn womöglich eines Tages sogar zu überholen. Die Apotheke würde sie aber trotzdem nicht bekommen. Sie war bereits für den Sohn reserviert. Sollte sie doch von ihm aus doch Lehrerin werden; dagegen war nichts einzuwenden. Wenn sie selbst einmal Kinder haben würde, käme ihrer Familie das Zugute. Und mit Nachhilfeunterricht konnte sie, später, so etwas zur Fütterung der Haushaltskasse beitragen. Das jüngere Frauen eigenes Geld verdienen wollten - so konnte Hans die letzten Jahre beobachten, wurde langsam immer moderner. Schreckliche neue Zeit, fand er.

    Thilos Literatur hingegen, blieb dem Vater verborgen. Er ahnte nicht, mit welcher Vehemenz sich sein Sohn, neuerdings für das andere Geschlecht zu interessierte. Gerda im Übrigen auch nicht. Sie hätte es niemals gewagt sich im Zimmer ihres Sohnes etwas genauer umzusehen. Hätte man Thilos Vorlieben entdeckt, stünde man ratlos vor der Frage, wie er an derartige Literatur überhaupt herangekommen war. Noch, ist ein Heranwachsender erst mit 21 Jahren Volljährig. Der Verkauf stimulierender Zeitschriften, an Jugendliche unterhalb dieser Altersgrenze, wurde streng überwacht. Erst am 1. Januar 1975 sollte die Reduzierung auf das 18. Lebensjahr erfolgen. Davon war man noch weit entfernt, und es bestand - Hans Ansicht nach - kein Grund zur Beunruhigung. Was den Melchiors aber nicht bekannt war, war die Tatsache, dass auf Thilos Gymnasium, in seiner Klasse, ein Junge aus dem verachteten Gewerbe der Prostitution, sich als cleverer und begabter Schüler hervortat. Sein Vater war stolzer Bordell-Besitzer auf St. Pauli. Er - dieser bordellbesitzende Vater - wusste selbst nicht so genau, woher sein Sohn so viel Gehirnschmalz hatte, und unterstellte seiner Frau, einen gehörigen Seitensprung den er ihr, aber leider nicht nachweisen konnte. Dieser Junge, versorgte - gegen Bargeld versteht sich - die halbe Schule mit schlüpfrigen Heftchen, die zur vorzeitigen Entwicklung der jungen Leserschaft beitrugen. Bis jetzt war die Sache noch nicht aufgeflogen, und die Anhängerschaft sehr bemüht darum, dass es auch so bliebe.

    In dieser Zeit gebar Thilo seine tiefe Verachtung gegen das andere Geschlecht. Frauen wurden für ihn minderwertig und verachtenswert. Allen voran seine devote Mutter, mit der er, nur noch Mitleid hatte. Ohne es zu ahnen, wurde Gerda - ausgerechnet sie, zum späteren Vorbild für das, was er sich einmal an den Ehering hängte, weil er, das Verhaltensmuster des Vaters kopierte, ohne zu wissen dass er es tat. Den Vater, den er nicht weniger verachtete, weil er keine Lebensfreude-, keine Leichtigkeit zuließ, und mit zunehmendem Alter zu einem ausgemachten Despoten mutierte, der ihm, Thilo, das Leben versaute mit seinen ständigen Leistungsanforderungen die einfach kein Ende nehmen wollten. Sein menschlicher Wert wurde an seinen Schulnoten bemessen. Sein Taschengeld fand Auf- oder Abwertung mit diesem arithmetischen Durchschnitt. Fatal an dieser Bemessung war jedoch, je geringer die Zahl - was gute Leistungen bedeutete - umso geringer seine Freiheiten. Gegensätzliche Belohnung in dieser speziellen Beziehung, weil man glaubte, mit unnötigen Freiheiten, würde man besagte Leistungen gefährden, weil Zerstreuungen Schlimmes anrichten konnten. Thilos Saatkorn in seiner wütenden Seele wuchs und gedieh. Jetzt war ihm seine Schwester, diese elende, lästige Verräterin, die ihm auch noch sein letztes bisschen Freude, mit Freunden etwas zu unternehmen, verdorben hatte, eine willkommene Zielscheibe. An ihr würde er ein Exempel statuieren dass sie so schnell nicht mehr vergessen würde. Was genau er ihr antun wollte, war ihm noch nicht ganz klar. Es wäre nachhaltig; so viel stand fest. Beschlossene Sache.

    In seine anspruchsvolle, stimulierende Literatur vertieft, lauschte er immer wieder nach nebenan, konnte aber nichts hören. Dass sie sich am Nachmittag, vorbeugend mit Fressalien eingedeckt haben konnte, daran hatte er nicht gedacht. Für gewöhnlich - das wusste er von vergangenen, ähnlichen Abenden, an denen sie alleine zu Hause waren - schlich Gunda, wenn sie sich versichert hatte das auch keiner der Eltern zurückzukommen schien, nach unten in die Küche und plünderte die Vorratskammer oder den Kühlschrank. Ihre Verfressenheit trieb die einfallsreichsten Blüten, und verlieh ihr raffinierten Mut, die Essverbote, mit allen möglichen Tricks, gekonnt zu umschiffen. Thilo hatte sie schon oft genug bei ihren Beutezügen erwischt, wäre aber niemals auf die Idee gekommen, sie bei den Eltern zu verraten. Schließlich war sie ja seine Schwester. So etwas tat man nicht. Höchstens ein wenig hänseln, dass gestattete er sich, und es machte ihm Spaß. Die Sache mit dem versauten Dom-Nachmittag war etwas ganz anderes. Die müsste er ahnden. Sie hatte ihm sein erstes Rendezvous verdorben ohne es zu wissen. Hätte er sich tatsächlich mit Freunden treffen wollen, war die Möglichkeit, dass er seine lästige Schwester für zwei Stündchen mitgenommen hätte, durchaus gegeben. Vermutlich hätte er, Thilo, ich breitschlagen lassen. Aber so… Nach wochenlangen Bemühungen die Aufmerksamkeit dieses besonderen Mädchens-, um das sich alle Jungs an der Schule bemühten, zu erregen, hatte sie ihm tatsächlich den Vorzug gegeben und wollte sich auf dem Rummel mit ihm treffen. Ganz alleine mit ihm. Ohne nervige Freunde mit nervigen, neidischen Bemerkungen. Nur er. Platz eins. Mit ineinander verschlungenen Händen, zusammen mit ihr-, seiner Angebeteten, den Sieg festhalten, davon tragen. In seinen Träumen legte er seinen Mund auf den ihren und berührte ihren göttlichen Körper vorsichtig mit seinen neugierigen Händen. Im Geiste legte er sich zu ihr, damit sich seine Lenden wieder beruhigen konnten. Er, Thilo, der auf Leistung getrimmte junge Mann, gefangen in einem familiären Korsett aus Konventionen, verlor sich in romantischen Gedankenspielen, und war so voller gespannter Vorfreude, dass er glatt zu atmen vergaß. Und dann kam seine fersenklebende Schwester, seine verzogene, verfressene Schwester, die sich von niemandem wirklich zur Raison bringen ließ, auch von den Eltern nicht, und machte ihm einen fetten Strich durch die bereits aufgestellte, unbezahlte Rechnung. So würde er das nicht hinnehmen. So nicht. Zu dumm dass Gunda vorgesorgt hatte. Er müsste schon die Zimmertür einschlagen um zu ihr zu gelangen. Thilo war sich sicher dass sie abgeschlossen hatte. Er hatte den Schlüssel um ihren Hals sofort gesehen und konnte zwei und zwei zusammenzählen. Diesen Vorsprung, diese vorausschauende Weitsicht, müsse er unbedingt zerreißen. Koste es was es wolle. Wenn ihm nicht bald etwas einfallen würde, wäre ihr Siegt total; seine Niederlage unerträglich. Thilo blätterte durch üppige Brüste und pralle Hintern und eindeutige Positionen, ohne sich eigentlich wirklich daran zu ergötzen. Immer wieder lauschte er auf den Flur hinaus, aber nichts war zu hören. Niederlage, Niederlage, waberte dieses vernichtende Wort, tanzend vor seinen Augen herum, raste durch seine Synapsen. Eine ganze lange Weile dachte er über menschliche Dinge und deren Vergänglichkeiten nach. Über verpasste Chancen und die lebensverändernden Konsequenzen daraus. Über die Unterschiede zwischen Mann und Frau, nicht die Optischen. Verwirrungen schlichen sich in seine Überlegungen ein und veranlassen ihn dazu, eine Gegenüberstellung der Geschlechter zu versuchen. Thilo ging ziemlich schnell ein hell leuchtendes, klärendes Licht auf, dass sie Kette der individuellen Unterschiede, derart lang und unfassbar war, dass er, vermutlich bald, über seine vergleichenden Überlegungen bald einschlafen würde, weil sich eine Monotonie der Endlosigkeit einschleichen würde. Dieser Vergleich war einfach nicht greifbar, er war generell.

    Plötzlich setzte er sich ruckartig auf, verfehlte mit diesem kraftvollen Akt, um ein Haar nur die Dachschräge, an der er sich beinahe den Schädel angeschlagen hätte - mit seinem Haar konnte er kurz die billige Raufasertapete schon spüren, und erschrak. Eine winzige Essenz aus dem, was er aus seinen Überlegungen herausgefiltert hatte, traf ihn wie ein Dum Dum-Geschoß aus einer bellenden Büchse. Das war es. Genau das. Ihre Neugierde.

    Frauen waren - seiner Ansicht nach - von Natur aus, um ein vielfaches neugieriger als das männliche Geschlecht. Es lag auf der Hand. Das war die Lösung, wenn auch ohne Garantie. Darauf konnte man bauen; musste er bauen. Bessere Varianten boten sich nicht an. Keine Alternativen. Nur diese eine. Die Erfüllung seiner Desiderata.

    Ein diabolisches Lächeln machte es sich auf seinem verschwitzten Antlitz gemütlich. Obwohl der Sommer schon Ausschau nach herbstlichen Tagen hielt, war es oben-, unter dem Dach des alten Hauses, immer noch sehr warm. Thilo stellte seine Füße auf das abgenutzte Parkett, zog seine Schlafanzugjacke aus um sich damit das Gesicht abzuwischen, trank einen großen Schluck aus der lauwarmen Wasserflasche die auf seinem Nachttisch stand, und löschte das Licht aus. So saß er geraume Zeit auf der Bettkannte und lauschte in die Dunkelheit hinein. Sein Herz raste in wilder Vorfreude, sein Vorhaben möge ihm gelingen. Im Zimmer nebenan vernahm er, ein leises-, kaum hörbares rascheln von Butterbrotpapier. Madam vertilgte ihre Vorräte, so vermutete er. Einen Augenblick noch, beruhigte sich Thilo erneut. Nur einen kleinen Augenblick noch. Dann stand er auf, schlich sich zu seiner Zimmertür, drehte, ganz leise den Schlüssen um, nahm den kühlen Messinggriff in die rechte Hand, und drückte ihn herab um die Tür zu öffnen. Jetzt konnte er das Rascheln deutlicher hören. Lautlos schlüpfte er auf den dunklen Flur hinaus, zog die Zimmertüre wieder hinter sich zu, ging am Treppengeländer der Galerie entlang bis zur hinteren Ecke, an dem das Geländer an der Drempel-Wand befestigt war, und setzte sich hinter den offenen Staketen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf den Fußboden, um seine- und die Zimmertür seiner Schwester, durch die Zwischenräume zu beobachten. Hatte er Pech, würde er dort sitzen bleiben müssen bis die Eltern in der Nacht, von ihrem Ausflug in die feine Gesellschaft Hamburgs, wieder zurückkommen würden. Das konnte spät werden, wie Thilo wusste. Sein Vater- der sich gerne selbst reden hörte, war von guter Kondition, und blieb bei Einladungen dieser Art, bis zur Auflösung des sogenannten harten Kerns, gerne bei ausdauernden Zuhörern sitzen, bis das letzte Licht gelöscht wurde. Selbst die Mutter, die ansonsten gerne etwas theatralisch schwächelte, war berieselt von so viel Glanz und Glamour, dass sie urplötzlich ungeahnte Kräfte mobilisierte. Außerdem kostete es nichts, außer einem üblichen Gastgeschenk, welches man der Apotheke entnahm und als Schwund oder Bruch verbuchte. Elixiere zur Erhaltung geistiger und jugendlicher Frische waren jedem Gastgeber willkommen und wurden gerne angenommen. Eine Hand wäscht die andere, hält sie fest, oder reißt ihr die Finger aus und wirft sie weg wenn keine Finger mehr dran sind. Unbrauchbar geworden, wird man aus der feinen Gesellschaft schneller hinauskatapultiert, wie man auf vier zählen kann. Dass wussten Hans und Gerda, das wusste Thilo, der heranwachsende, leistungsorientierte, konditionierte Sohn. Das wusste jeder.

    Pech wäre auch, wenn Gunda das Licht anknipsen würde um den dunklen Flur zu betreten. Dann würde sie ihn höchstwahrscheinlich sitzen sehen, wenn ihr Blick nicht gerade nach unten, auf die Treppenstufen gerichtet wäre. An mangelnder Bereitschaft, dieses Risiko einzugehen, fehlte es Thilo nicht. Nicht, wenn er an den göttlichen Körper seiner unerreichbaren Angebeteten dachte, die ihre vielversprechenden Versprechen, nach dem Eklat in der Küche, nicht hatte erfüllen können. Gescheitertes Unternehmen dank seiner verzogenen Schwester, grollte Thilo. Es war Zeit für kreative, nachhaltige Ressentiments. Zeit für auflandigen, steifen Wind.

    Nach fast anderthalb Stunden, stellte Thilo fest, dass Gundas angefressener Teenager-Speck auch gewisse Vorteile hatte. Ihm tat sein fast fleischloses Hinterteil ganz gehörig weh. Er wechselte die Po-Backen von einer zur anderen Seite ab, was ihm jedoch nur für kurze Zeit Erleichterung verschaffte. Kurz ließ er den Gedanken zu, sein Vorhaben-, von dem er selbst nicht so recht wusste wie es ausfallen würde, abzubrechen, als sich plötzlich ganz leise der Schlüssel in Gundas Zimmertürschloss drehte. Thilo hielt

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