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DAS FREMDE HIRN: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 14
DAS FREMDE HIRN: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 14
DAS FREMDE HIRN: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 14
eBook343 Seiten4 Stunden

DAS FREMDE HIRN: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 14

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Über dieses E-Book

Eine junge Ärztin opfert Glück und Gesundheit für das Leben ihrer Patienten; das Mädchen Petra erfährt die ungeheuerliche Wahrheit über seine Geburt; Inspektor Santanel glaubt die Ursache für die Mordtaten eines gewissen Collin Morton gefunden zu haben...

In vierzehn Geschichten treffen Menschen wichtige Entscheidungen, machen sie aufsehenerregende Entdeckungen, stößt ihnen Merkwürdiges zu, und jedes Mal sind ihre Erlebnisse auf irgendeine Art mit neuen biowissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft. Hirnoperation und Hirntransplantation, Klonierung und Vererbung, die Züchtung von Para-Humanoiden und Tierpflanzen, der Kontakt mit außerirdischen Lebensformen - all das ist Gegenstand intensiver Forschungen, kühner Hypothesen und gewagter Spekulationen, aber auch Thema dieser Erzählungen...

 

Klaus Frühauf (* 12. Oktober 1933 in Halle (Saale); † 11. November 2005 in Rostock) war ein deutscher Schriftsteller und gilt als einer der wichtigsten Science-Fiction-Autoren der DDR; seine Story-Sammlung Das fremde Hirn erschien erstmals im Jahre 1982.

Der Apex-Verlag veröffentlicht diese Sammlun als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe KOSMOLOGIEN - SCIENCE FICTION AUS DER DDR.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum26. Juli 2022
ISBN9783755417934
DAS FREMDE HIRN: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 14

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    Buchvorschau

    DAS FREMDE HIRN - Klaus Frühauf

    Das Buch

    Eine junge Ärztin opfert Glück und Gesundheit für das Leben ihrer Patienten; das Mädchen Petra erfährt die ungeheuerliche Wahrheit über seine Geburt; Inspektor Santanel glaubt die Ursache für die Mordtaten eines gewissen Collin Morton gefunden zu haben...

    In vierzehn Geschichten treffen Menschen wichtige Entscheidungen, machen sie aufsehenerregende Entdeckungen, stößt ihnen Merkwürdiges zu, und jedes Mal sind ihre Erlebnisse auf irgendeine Art mit neuen biowissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft. Hirnoperation und Hirntransplantation, Klonierung und Vererbung, die Züchtung von Para-Humanoiden und Tierpflanzen, der Kontakt mit außerirdischen Lebensformen - all das ist Gegenstand intensiver Forschungen, kühner Hypothesen und gewagter Spekulationen, aber auch Thema dieser Erzählungen...

    Klaus Frühauf (* 12. Oktober 1933 in Halle (Saale); † 11. November 2005 in Rostock) war ein deutscher Schriftsteller und gilt als einer der wichtigsten Science-Fiction-Autoren der DDR; seine Story-Sammlung Das fremde Hirn erschien  erstmals im Jahre 1982.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe KOSMOLOGIEN - SCIENCE FICTION AUS DER DDR.

    NACHTZUG

    Um in Zukunft die Abstoßungsrate bei Organtransplantationen auf ein Minimum zu senken, ist in letzter Zeit mehrfach die Einführung des sogenannten Dritten-Mann-Tests vorgeschlagen worden. Dabei wird bei einem unbeteiligten Dritten durch implantierte Gewebestücke des Patienten eine Immunreaktion hervorgerufen, sein Körper also gegen das Eiweißmuster des Patienten sensibilisiert. Je heftiger der Körper dieses Dritten nun das ebenfalls auf ihn verpflanzte Gewebe eines potentiellen Spenders abstößt, umso besser eignen sich dessen Organe für die geplante Transplantation.

    Sie steht mit geschlossenen Augen und lauscht den Geräuschen des davonfahrenden Zuges nach, bis das Heulen der Turbinen in der Ferne zu einem dumpfen Murmeln geschrumpft ist.

    Es ist angenehm, so zu stehen und nichts zu sehen und fast nichts zu hören, es ist, als habe sich nichts geändert, als gehe sie diesen Weg auch diesmal, um Lenn zu treffen.

    Sie schüttelt den Kopf und öffnet die Augen, und sie beißt die Zähne zusammen, als sie das charakteristische Kratzen auf den Lidern spürt, ein Gefühl, als habe ihr jemand trockenen Sand in die Augen gerieben.

    Nein, trotz allem ist die Welt geblieben, wie sie war, noch immer duckt sich die Station unter die schweren Schatten der Nacht, noch immer verbreiten die drei Punktleuchten trüben Dämmer, noch immer blicken die mattgrauen Scheiben wie längst erloschene Augen herüber auf den Bahnsteig. Niemand außer ihr hat den Zug verlassen. Wer sonst sollte wohl auf den Gedanken kommen, diesen kleinen Ort zu besuchen, der auch für sie nichts zu bieten hat als die winzige Hütte drüben, jenseits des Flusses? Die Leere und die Dunkelheit hüllen sie ein wie ein schützender Mantel, sie empfindet die Einsamkeit wie eine lange entbehrte Wohltat. Sie versucht gar nicht erst herauszufinden, was sie ausgerechnet hierhergetrieben hat, sie weiß ohnehin, dass es nur die Erinnerung an die Tage mit Lenn gewesen ist. Und vielleicht auch die Gewissheit, dass er sie hier nicht suchen wird. Hier ist der letzte Platz, an dem er sie vermuten könnte. Sie geht auf die kleine Pforte neben dem Stationsgebäude zu, langsam und mit gesenktem Blick. Sie würde ihren Weg auch mit geschlossenen Augen finden, sie ist ihn oft genug gegangen. Bisher allerdings stets mit der Vorfreude, Lenn zu treffen. Dieser Weg war immer der Weg, der sie zu Lenn führte. Immer, bis heute. Dann aber bemerkt sie, dass sie noch langsamer und vorsichtiger als sonst geht. Langsamer, weil sie wieder diese ziehenden Schmerzen in den Kniegelenken fühlt, und vorsichtiger, weil sie sich im Schatten der Bäume zu halten sucht, was ihr bei der spärlichen Beleuchtung nicht schwerfällt.

    Die Pforte ist verschlossen, sosehr sie auch an der Klinke rüttelt, das Türchen öffnet sich nicht, nur die losen Bleche klappern. Endlich flammt das Licht über der Tür des Stationsgebäudes auf, der alte Eisenbahner, den sie so oft in heiterem Ton begrüßt hat, schlurft herbei, und je näher er kommt, umso deutlicher sieht sie ihm die Verwunderung an. Er schüttelt den grauhaarigen Kopf und murmelt Unverständliches in seinen Bart.

    Sie wendet sich ein wenig ab, als er schlüsselklappernd an sie herantritt, aber gerade das erweist sich als falsch, der Alte will sehen, wer da um Mitternacht auf seiner Station den Zug verlassen hat.

    »Momentchen!«, sagt er. »Gleich öffne ich Ihnen.« Er schiebt den Kopf vor, um ihr ins Gesicht blicken zu können, und sie vermag nicht zu verhindern, dass er erschrickt. Er fährt zurück, und das matte Licht spiegelt sich in seinen weit offenen Augen.

    »Ja... Sie?«, stottert er, und sie sieht, dass seine Lippen zittern. »Mein Gott!« Und dann wendet er sich ab und hantiert hektisch mit den Schlüsseln, bis die Tür, in den Angeln quietschend, aufschwingt.

    Sie geht über den Platz vor der Station, die sanft abfallende Straße zum Fluss hinunter, und sie hält sich mitten auf der Fahrbahn, weil ihr das Licht der wenigen Straßenlaternen Unbehagen verursacht. Sie empfindet keinen Verdruss über die Reaktion des Alten. Sie hat sich längst an das Erschrecken in den fremden Gesichtern gewöhnt. Aber auch die Gewöhnung macht es nicht weniger unangenehm.

    Die Straßen sind fast menschenleer, nur hin und wieder begegnet ihr ein Passant, ein Schatten, von Lichtkreis zu Lichtkreis gleitend, manchmal an den Hauswänden emporwachsend und dann wieder in sich zusammensinkend. Nie vorher hat sie dieses groteske Spiel beachtet, vielleicht, weil sie bisher stets, wenn sie durch die Straßen dieses Städtchens ging, ihr Herz bis in den Hals hinauf schlagen fühlte, weil sich all ihre Gedanken auf Lenn konzentrierten.

    Jetzt aber steht sie außerhalb all dessen, jetzt fühlt sie sich wie ein Beobachter am Rand der Welt, noch lebend und doch schon nicht mehr am Leben.

    Auf der linken Straßenseite kommt ihr eine Gestalt entgegen, ein Mann, der steil aufgerichtet und mit langen, fast ein wenig zögernden Schritten geht. Unvermittelt bleibt sie stehen, sie fühlt, wie sich ihr die Kopfhaut zusammenzieht, diese schmale Silhouette hat sie schon tausendmal gesehen, den etwas steifen Gang, die eckigen Schultern, das ist Rudolfs Gang, Rudolfs Schatten.

    Wie von selbst bewegen sich ihre Füße, sie spürt den Schmerz in den Kniegelenken nicht mehr, sie geht auf den Mann zu. Erst im letzten Augenblick fasst sie sich, der da ist nicht Rudolf, kann nicht Rudolf sein, so abgeschieden diese Stadt auch sein mag, Tote werden selbst hier nicht wieder zu Lebenden, der da ist ein Fremder, jemand, den sie noch nie gesehen hat.

    Der Mann bleibt stehen, als sie ihm gegenübertritt, und lüftet mit unschlüssiger Geste den Hut. Als er ihr das Gesicht zuwendet, sieht sie abermals das ihr längst bekannte Erstarren fremder Augen. Nein, sie wird jetzt nicht weglaufen, sie bleibt stehen und mustert ihn, diesen Fremden, der den Kopf zur Seite wendet, um sie nicht ansehen zu müssen.

    Also fragt sie ihn nach dem Weg zur Hütte, nach einem Weg, auf dem sie jeden Stein und jede Pfütze kennt, und er wendet sich aufatmend dem Fluss zu und gibt mit weiten Armbewegungen Auskunft.

    Ein Flüstern geht durch die alten Bäume des Parks am Fluss, ein Raunen wie von Hunderten gedämpfter Stimmen. Oder ist dieses Rauschen in ihr selber, ist es nicht vielmehr das Pochen ihres Blutes in den Schläfen? Das gleiche Pochen, das sie in jener Nacht spürte, in der sie Rudolf verlor und in der sie den Entschluss fasste, der ihr ferneres Leben bestimmen sollte. Noch nie hat sie mit ähnlicher Deutlichkeit gespürt, dass es allein die Entscheidung jener Nacht war, die die Summe ihrer möglichen Wege auf einen einzigen reduzierte, auf den, der sie jetzt hierherführt, an den Ort, wo sie ein kurzes, zweites Glück genoss, ein geborgtes Glück.

    Sie hatte den Tod stets als etwas durchaus Normales empfunden, als etwas, das zum Leben gehört wie die Geburt, und sie hat nie versucht, den Gedanken an das Unvermeidliche zu verdrängen. Vielleicht, weil es ihre Aufgabe war, das Leben zu erhalten, vermochte sie an das unausbleibliche Ende der Existenz ohne Bitterkeit zu denken, vielleicht aber auch, weil der Tod für den, der ständig mit ihm umzugehen gezwungen ist, einen Teil seiner Schrecken verliert.

    Aber wenn dieser doch so natürliche Prozess unvermittelt an das eigene Sein rührt, wenn er den Nächsten betrifft, den Gefährten, dann zählen weder Gewöhnung noch rationale Überlegungen.

    Damals, als Professor Kalder ihr mitteilte, Rudolfs Herzfehler habe sich als unheilbar erwiesen, da hat sie das Entsetzen sogar physisch gefühlt, es war ein Schmerz, der, vom Nacken ausgehend, ihren Körper überflutete wie eine glühende Welle. Sie hätte sich vor Kalder auf die Knie werfen mögen und schreien und bitten. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, ging sie zu Rudolf und setzte sich an sein Bett. Und erst als sie ihm gegenübersaß, begann sie zu überlegen, wie sie ihm beibringen könne, dass er eine Transplantation zu erwarten habe.

    Rudolf war blass und gefasst. Er wusste nicht um die Risiken der Operation. An jenem Tag sah sie ihn zum letzten Mal lächeln.

    »Such mir ein schönes Herz aus, Frau Doktor«, sagte er leise. Seit er in der Klinik lag, hatte er sich angewöhnt, sie Frau Doktor zu nennen. Es schmerzte zwar, wenn er das sagte, aber sie verwehrte es ihm nicht. Sie glaubte zu spüren, dass ihn der Gedanke, sein Leben liege in ihren Händen, Beruhigung verschaffte. Er schien überzeugt, ihre Liebe vermöge alle Schrecken von ihm abzuwenden.

    »Ein junges Herz, Frau Doktor«, fuhr er fort. »Das jüngste, das du finden kannst. Es muss ein Herz sein, das nach dir brennen kann.«

    Und sie nickte und bemühte sich, auf seinen scherzhaften Ton einzugehen. »Ich werde sehen, dass ich ein möglichst kleines auswähle, eins, in dem für niemandem außer mir Platz ist.« Sie nahm seine Hände in die ihren, fühlte, wie sie zitterten, und sie wusste, dass es nicht nur Schwäche war. Die Organbank besaß vier Herzen zur Auswahl, aber zwei von ihnen erwiesen sich bereits nach der ersten Überprüfung der Strukturangaben als ungeeignet. Sie saß die ganze Nacht über im Labor und prüfte die Unterlagen der beiden anderen, doch sie konnte sich für keins entscheiden.

    Am Morgen kam Kalder. Eine Weile lang blieb er hinter ihr stehen und sah ihr über die Schulter. Schließlich räusperte er sich. »Sie machen das sehr sorgfältig, Doktor«, sagte er, und sie glaubte in seiner Stimme eine Spur nachsichtigen Tadels zu bemerken.

    Sie spürte Zorn in sich aufsteigen, vielleicht gerade, weil er recht hatte. Sie stand auf und reichte ihm eine der beiden Karten. »Nehmen Sie dieses, Professor!«, sagte sie, und sie blickte ihn nicht an; er hätte ihr angesehen, dass sie ihn in diesem Moment hasste.

    Vier Tage nach der Operation starb Rudolf. Durch die Immunreaktion seines Körpers wurde das fremde Organ abgestoßen. Er starb mit zusammengebissenen Zähnen, voll Zorn gegen eine Wissenschaft, die nicht vermochte, das Grundmodell der Zelle mit ausreichender Sicherheit zu bestimmen.

    Zwei Tage später starb auf der Kinderstation der Klinik ein kleines blondes Mädchen, weil die Niere nicht hielt, die man ihm implantiert hatte. Es starb mit einem Lächeln auf dem gelblich verfärbten Gesicht, es wusste nichts von der Bedingungslosigkeit des Todes.

    In der Nacht danach lief sie stundenlang durch den dunklen Park neben der Klinik. Und in jenen Stunden fasste sie den alles verändernden Entschluss. Das fiel ihr damals durchaus nicht schwer, denn mit Rudolf glaubte sie alles verloren zu haben, wofür es sich zu leben lohnte. Sie konnte nicht wissen, dass es Lenn gab.

    Fast ein Jahr verging, ehe man sich in der Klinik Gedanken über die ungewöhnlich starke Senkung der Abstoßungsrate zu machen begann. Und selbstverständlich begnügte sich Professor Kalder nicht mit der Feststellung dieser erfreulichen Tatsache an sich. Er wollte die dafür ausschlaggebenden Gründe in Erfahrung bringen. Und er wusste offensichtlich genau, wo er anzusetzen hatte.

    Er lag in seinem Sessel, die Beine, eins über das andere geschlagen, weit von sich gestreckt. Wie stets war er mit einem lindgrünen Kittel bekleidet, der mit einer Unzahl von Taschen besetzt war. »Nehmen Sie Platz!«, sagte er und deutete auf einen Stuhl in der Nähe des Fensters. Kalder trug Haftschalen von blassblauer Farbe, die seinem Gesicht einen Ausdruck kindlichen Staunens, aber auch einen Zug unnahbarer Kälte gaben.

    Sie hatte sich kaum gesetzt, als er sich erhob, mit zwei schnellen Schritten an sie herantrat und ihre linke Hand ergriff. Sie war überrumpelt und vermochte nicht die geringste Gegenwehr zu leisten, als er ihr den Ärmel ihres Kittels mit einer einzigen Bewegung bis über den Ellenbogen hinaufstreifte. Die Implantate leuchteten auf der hellen Haut ihres Armes wie rote Narben. Bei dem oberen hatte sich bereits ein eitriger Ring gebildet, der deutlich sichtbar durch die Abdeckfolie schimmerte.

    »Ich dachte es mir«, sagte Kalder leise, und sie wunderte sich, dass er sich noch immer beherrschte. Es schien ihr sogar, als betrachte er die beiden Gewebestücke mit Interesse. Er wendete ihren Arm hin und her, wie man einen Fieberstreifen wendet, wenn die Beleuchtung zu schwach ist.

    »Sie testen also die Organverträglichkeit am eigenen Körper!«, stellte er fest, noch immer mit unbewegter Stimme. »Sie finden es offensichtlich keineswegs ungewöhnlich, dass Sie Ihre Haut zu Markte tragen.«

    Das war, gelinde ausgedrückt, ungerecht. Denn gerade das tat sie nicht. Sie stellte sich nicht um des eigenen Vorteils willen zur Verfügung.

    Er musste wohl den Schatten auf ihrem Gesicht gesehen

    haben. Er streifte ihren Ärmel herunter, hielt aber ihre Hand weiterhin fest. »Verzeihen Sie mir!«, sagte er. »Es sollte nicht so grob klingen. Aber Tatsache ist doch wohl, dass Sie Ihre eigenen Abwehrkräfte als Messmittel benutzen.«

    Sie nickte. »Das stimmt allerdings.«

    Er holte tief Luft. »Ich nehme an, Sie wissen, welche Folgen das für Sie haben kann.«

    Wieder nickte sie. Sie fürchtete diese Folgen nicht. Damals noch nicht.

    Er ließ unvermittelt ihre Hand los, richtete sich auf und musterte sie eingehend. Sein Gesicht war ungewöhnlich ernst, trotz der blauen Haftschalen. »Ich verbiete Ihnen das!«, sagte er heftig. »Und ich hoffe für Sie, dass Sie sich an dieses Verbot halten werden.«

    »Aber...«, sie versuchte zu protestieren. Schließlich hatte sie ihren Entschluss nicht ohne langes Abwägen gefasst. Es war ihr Entschluss, ihrer ganz allein. Zumindest anhören hätte er sie können.

    Er aber wischte ihren Protest mit einer einzigen Handbewegung weg. »Das ist eine Weisung!«, sagte er laut. »Und Sie haben sich daran zu halten!« Abermals fasste er nach ihrer Hand und setzte zu einer Erklärung an. Sein Gesichtsausdruck entsprach dem eines Vaters, der sich anschickt, seinem ungezogenen Kind eine Moralpauke zu halten.

    Mit einem Ruck machte sie sich los und stand auf. »Ich kann noch recht gut hören!«, sagte sie zornig. »Zumindest meine Ohren haben noch nicht gelitten.« Und dann ging sie mit festen Schritten zur Tür, überzeugt, dass sie sich nicht an seine Weisung halten würde.

    Kalder aber vertrat ihr den Weg. Sie blickte ihn nicht an, sie betrachtete seine Hand, die auf der Türklinke lag, eine schmale, gepflegte Hand, deren Knöchel jetzt weiß hervortraten. »Wie oft haben Sie das getan?«, fragte er, und seine Stimme hatte alle Schärfe verloren.

    Sie zuckte die Schultern, sie wusste es wirklich nicht, sie wusste nur, dass sie wieder und wieder geholfen hatte und dass diese Hilfe das einzige in ihrem jetzigen Leben war, was sie noch glücklich machen konnte.

    »Ich habe angeordnet, Sie zu untersuchen«, sagte er. »Begeben Sie sich bitte unverzüglich auf Station A-1.«

    Seine Stimme klang sachlich, fast schon unpersönlich, aber als sie aufblickte, sah sie zu ihrer Verwunderung, dass seine Augen mit einem Ausdruck auf ihr ruhten, in dem außer Missfallen auch eine deutliche Spur von Anerkennung war.

    Sie spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte, mit allem hatte sie gerechnet, sie war fest überzeugt gewesen, Kalder werde ein heftiges Donnerwetter auf sie niederprasseln lassen, dass es aber zu einer Untersuchung ihres Gesundheitszustands kommen würde, hatte sie nicht einmal in Erwägung gezogen. Obwohl sie selbst bereits damals wusste, dass die Tests nicht spurlos an ihr vorübergegangen waren. In jener Zeit litt sie häufig unter Kopfschmerzen, und beim Kämmen ging ihr das Haar büschelweise aus.

    Nach der Untersuchung las ihr der leitende Arzt von A-1 eine lange Liste all dessen vor, was man als besorgniserregend herausgefunden hatte. Sie hat sich kaum etwas von alldem gemerkt. Es war von Funktionseinschränkungen der Leber und der Nieren die Rede, von gewissen Veränderungen der Blutzusammensetzung und der Gelenkflüssigkeit. Und man gab der Überzeugung Ausdruck, all diese negativen Erscheinungen seien ausschließlich auf die wiederholten Implantationen fremden Gewebes zurückzuführen, es handele sich also um eine künstlich provozierte Überempfindlichkeit.

    Sie schiebt eine Haarsträhne zurück, tastet vorsichtig über die rechte Wange und lächelt in der Dunkelheit. Von Haarausfall oder Akne hat kein einziges Wort auf dem Diagnoseblatt gestanden.

    Wie eine Lache aus Öl liegt der Fluss vor ihr, still und dunkel, nur hin und wieder blinkt das Wasser im matten Licht der Sterne auf, wenn ein Fisch an die Oberfläche taucht.

    Sie geht auf die Brücke zu, auf diese altertümliche Konstruktion aus Brettern und Birkenstämmen, die eine so seltsame Anziehungskraft auf Lenn ausübte. Minutenlang konnte er stumm über das Geländer gebeugt stehen und in das ruhig gleitende Wasser blicken, in dem sich im Sommer die Sonne und im Winter die schneebedeckten Kiefern spiegelten.

    Drüben, jenseits des Flusses, duckt sich die schwarze Silhouette der Hütte. Nicht mehr als zweihundert Meter werden es noch bis dorthin sein. Sie glaubt die drei Fenster im Obergeschoß sogar von hier aus erkennen zu können, obwohl sie weiß, dass das selbst bei Tageslicht kaum möglich ist. Mehr noch, ihr ist, als bewege sich hinter dem mittleren ein vager Lichtschimmer, als müsse jeden Moment Lenns Schatten in dem kaum sichtbaren Rechteck erscheinen. Sie lächelt über die eigenen, abstrusen Gedanken, die ihr vorgaukeln, was nicht ist, was nicht sein kann. Nie mehr. Es ist die Erinnerung, sonst nichts.

    Früher, wenn sie sich jenseits des Steges befand, unterhalb des kleinen Hügels, auf dem die Hütte steht, dann hat sie Lenn sehen können. Sein Schatten füllte das kleine, helle Rechteck des Fensters fast vollständig aus, er stand und blickte hinaus in die Nacht, und wenn er sie kommen sah, dann trat er zurück ins Zimmer, stieg die knarrenden Stufen hinab und empfing sie auf dem untersten Treppenabsatz mit ausgebreiteten Armen.

    Sie hatten nie die Absicht gehabt, sich in dieser Hütte vor der Welt zu verbergen, aber dieser abgeschiedene Ort steigerte auf ungewöhnliche Weise das Gefühl zusammenzugehören. Die Hütte reduzierte die Welt auf zwei Menschen, die sich liebten. Nichts existierte außer ihnen.

    Wenn ihr damals, als Kalder ihr die Fortführung der Tests untersagte, jemand prophezeit hätte, in ihrem Leben werde es noch einmal einen Mann geben, dem sie das gleiche tiefe Gefühl entgegenbringen werde, wie sie es für Rudolf empfunden hatte, sie hätte ihn ausgelacht. Sie war sicher, dass das nie geschehen könnte.

    Bis sie dann eines Tages Lenn brachten. Als sie ihn liegen sah, war das wie ein Schock für sie. Nicht wegen seiner Verletzungen, sie hatte schon weit Schlimmeres gesehen, diesmal war es etwas anderes, eine ebenso unerklärliche wie heftige Anziehung, die von ihm ausging und die sie augenblicklich in ihren Bann schlug.

    Sie grübelte tagelang über dieses für sie äußerst bestürzende Gefühl, aber sie fand nicht den geringsten rationalen Grund dafür. Sie wusste nur, dass Lenn nicht sterben durfte. Nicht auch noch Lenn.

    Professor Kalder musste alles geahnt haben. Als sie ihm die Karten mit den Daten der beiden Nieren brachte, sah er sie lange an und berührte mit den Fingerspitzen ihre rechte Wange. Und dabei trat ein Ausdruck in sein Gesicht, der es weich wie das eines Kindes wirken ließ.

    »Versprechen Sie mir, dass es das letzte Mal war«, bat er. Und sie nickte lachend. »Sie können sich darauf verlassen, Professor!«

    Kalder sah sie sehr nachdenklich an, und als er das Zimmer verließ, blickte er sich in der Tür noch einmal um. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, Doktor!«, sagte er. »Sie haben es wirklich verdient.«

    Vier Wochen später traf sie sich mit Lenn zum ersten Mal in der Hütte. Lenn wurde am Vormittag aus der Klinik entlassen, und sie fuhr ihm mit dem Nachtzug nach, weil ihr Dienst erst am Abend beendet war. Als sie damals durch die nächtlich stillen Straßen dieses kleinen Ortes ging, da ergriff eine solch ungewöhnlich wohltuende Spannung von ihr Besitz, dass sie Lenn bat, die zeitlich versetzte Anreise zu einer Art Ritual zu erheben. Und Lenn lachte und nahm sie in die Arme, wie er es stets zu tun pflegte, wenn er ihre Beweggründe nicht begreifen konnte.

    Lenn hat nie erfahren, auf welche Art und Weise seine neue Niere ausgewählt worden ist, und er wird es auch nie erfahren.

    Selbstverständlich hat sie sich geirrt, die Hütte liegt dunkel und still. Nur aus dem Fenster im Souterrain quält sich trüber Lichtschimmer. Sie liebt dieses Dämmerlicht, es verwischt die Konturen und verbirgt die Gesichter. Sie mag das Erschrecken in den fremden Augen nicht mehr sehen. Obwohl sie sich längst damit abgefunden hat.

    Lenn ist eigentlich nie erschrocken. Vielleicht, weil die Veränderungen nicht von heute auf morgen vor sich gingen, auch die äußeren nicht. Vielleicht aber auch, weil Lenn sich zu beherrschen weiß. Manchmal glaubte sie seinen besorgten Blick zu spüren, und sie meinte auch zu bemerken, dass er ihr Gesicht länger musterte, als er das früher tat. Vor allem, wenn er sich unbeobachtet wähnte.

    Aber Lenns Toleranz kann für sie kein Grund sein, ihren Entschluss als weniger richtig oder weniger notwendig zu empfinden. Sie hat einfach nicht das Recht, ihn weiterhin an sich zu binden. Sie hat vorgestern, als sie sich zum letzten Mal sahen, sehr wohl bemerkt, dass er sein Gesicht abwandte, als er sie in die Arme schloss.

    Danach hat sie ihm dann den Brief geschrieben, hat ihm erklärt, was zu erklären ihr nötig schien, und ist abgereist. Es war das einzige, was ihr zu tun blieb. Sie hatte keine Wahl.

    Als sie das Souterrain betritt, wenden sich ihr die Gesichter der wenigen Gäste zu. Sie blickt angestrengt geradeaus, und sie geht straff aufgerichtet. Nur ein wenig wendet sie den Kopf zur Seite, um nicht in den großen Spiegel neben der Treppe sehen zu müssen. So nimmt sie die Bewegung auf deren unterstem Absatz zuerst nur aus den Augenwinkeln wahr.

    Dann aber erstarrt sie. Auf der Treppe steht Lenn, und er blickt sie an aus seinen warmen Augen, in denen ein kaum erkennbares Lächeln ist. Und dann breitet er die Arme aus.

      MONT

    Eine Umfrage unter etwa achtzig amerikanischen Biologen ergab, dass die meisten von ihnen mit der Züchtung parahumanoider Arbeitswesen rechnen, die ungefähr vom Jahr 2050 ab für unumgänglich notwendige, lebensgefährliche Tätigkeiten eingesetzt werden könnten.

    Die Belastung klingt langsam ab. Endlich saugt sich die Lunge voll mit den ersten, belebenden Atemzügen. Und mit dem Atem kommt die Erinnerung.

    Bark springt auf und steht einen Moment lang ganz still, jedoch mit zitternden Knien, den Sessel hinter sich. Dann wendet er sich um und blickt auf Mont, der an der Rückwand liegt und sich nicht mehr rührt. Er liegt ein wenig verkrümmt halb auf der Seite und hat die Augen geschlossen. Es kostet Bark Überwindung, auf Monts Hände zu blicken.

    Er tritt zwei Schritte zurück, mehr Platz bietet die Kabine nicht, nach diesen zwei Schritten berührt sein Rücken das Pult. Wie unter einem Zwang senkt er den Blick auf die Pultplatte. Sie weist an ihrer Vorderkante tiefe Dellen auf, und von ihrer ehemals glatten Oberfläche haben sich feine Splitter gelöst. Es sieht aus, als habe sie jemand mit einem kleinen Hammer bearbeitet.

    Bark schaltet das Mikro ein. »Mont ist tot!«, sagt er leise, und als die da draußen nicht augenblicklich reagieren, ruft er laut und schon ungeduldig: »So bringt doch endlich eine Trage!«

    Aus dem Lautsprecher kommen ein langer Atemzug und ein unmutiges Brummen. Ein Unfall, noch dazu einer mit tödlichem Ausgang, zieht im allgemeinen lange Untersuchungen, tausend Fragen und letztlich die Verschärfung der schon ohnehin strengen Sicherheitsvorschriften nach sich. Unfälle haben die missliche Eigenschaft, Staub aufzuwirbeln, und meist handelt es sich dabei um Staub, der sich in vielen Jahren abgelagert hat. Im Allgemeinen.

    Nicht aber, wenn es sich um einen wie Mont handelt.

    Bark ist sicher, dass Monts Tod niemandem aus dem Institut ähnlich nahegeht wie ihm, was nicht allein daran liegt, dass er der einzige war, der einen fast ständigen Kontakt zu Mont hatte. Fast wären sie Freunde geworden.

    Und wieder blickt er auf Monts Hände. Er weiß, dass es nicht leicht sein wird, eine Untersuchung zu erzwingen.

    Die beiden Assistenten kommen herein. Sie stellen die Trage auf den Boden und nähern sich dem Toten mit gesenktem Blick. Sie schauen auf ihn ohne die geringste Anteilnahme, und dann mustern sie Bark, und ihre Mienen zeigen Erstaunen und wohl auch Ablehnung.

    Schließlich geben sie ihr Zögern auf und fassen zu. Einer ergreift Monts Beine in Höhe der Knie und hebt sie an, es sieht aus, als habe er die Absicht, die Leiche auf den Kopf zu stellen. Da erst tritt auch der andere hinzu und hilft, Mont auf das Gestell zu legen. Sie tragen ihn

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