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Der erinnerte Soldat: Roman
Der erinnerte Soldat: Roman
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eBook894 Seiten15 Stunden

Der erinnerte Soldat: Roman

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Über dieses E-Book

Flandern 1922. Noen Merckem hat infolge seiner Erlebnisse als Soldat im Krieg sein Gedächtnis verloren und lebt in einer Einrichtung für psychisch Kranke. Nach einer Zeitungsannonce besuchen ihn immer wieder Frauen, die auch lange nach Kriegsende noch nicht die Hoffnung aufgegeben haben, ihren geliebten Mann oder Sohn wiederzufinden. Eines Tages taucht eine Frau aus Kortrijk auf, Julienne, die in Noen ihren Ehemann erkennt, den Fotografen Amand Coppens, und ihn gegen ärztlichen Rat mit nach Hause nimmt. Doch die wundersame Wiedervereinigung nach acht Jahren gestaltet sich nicht so, wie Julienne es ihren neidischen Freundinnen glauben machen will. Erst allmählich nähern sich die beiden einander an, und anhand der Erzählungen Juliennes fügt sich Amands Biografie – nur wie kann er sicher sein, dass Julienne die Wahrheit sagt?

Der erinnerte Soldat ist eine außergewöhnliche Liebesgeschichte und ein fesselnder Roman über die Macht der Erinnerung und der Fantasie. Anjet Daanje lässt uns eintauchen in die Psyche eines kriegstraumatisierten Mannes, der mit den Erinnerungen an seine Vergangenheit auch seine Identität verloren hat. Als Amand an den Worten Juliennes Zweifel kommen, beginnt für den Leser ein packendes Verwirrspiel, wie es nur ganz große Literatur zu spielen weiß.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. März 2024
ISBN9783751880183
Der erinnerte Soldat: Roman
Autor

Anjet Daanje

Anjet Daanje, 1965 in Wijster geboren, studierte Mathematik an der Universität Utrecht. Sie schreibt Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher. Die Filme, für die sie das Skript verfasste, wurden mit insgesamt 17 internationalen Filmpreisen ausgezeichnet, darunter ein Goldener Bär. Daanje erhielt zahlreiche Literaturstipendien und -preise. Der erinnerte Soldat stand auf der Longlist des Libris Literatuurprijs und gewann den F. Bordewijk-prijs. Ihr jüngster, hochgelobter und mit vielen Preisen ausgezeichneter Roman Het lied van ooievaar en dromedaris wird ebenfalls in der Friedenauer Presse erscheinen.

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    Buchvorschau

    Der erinnerte Soldat - Anjet Daanje

    1

    Vielleicht ist es das letzte Mal, dass er als der Mann, der Noen Merckem genannt wird, durch diesen ihm vertrauten Flur läuft, die Tür dort zu seiner Linken mit den freundlich wirkenden Fensterchen könnte das Ende seines Daseins einläuten, da fühlt er sich plötzlich, als würde er mit schlotternden Knien zum Schafott geschleift, und die Hoffnung, die ihn begleitet hat, die Überzeugung, dass alles neu und unvorstellbar viel besser und endlich normal werde, dass er nur durch diese gewöhnliche Tür hindurch müsse und ein ganz anderer Mensch sein würde, wenn er wieder herauskäme, ein Mann mit einer Familie und einem Zuhause und einem Leben außerhalb dieser Mauern, das alles zerrinnt ihm auf einmal. Und er bleibt auf diesen sonnenbefleckten Fliesen stehen, Bruder Reginald wendet sich ihm zu und erkennt die Ratlosigkeit, die sich auf seinem Gesicht breitmacht, und sagt leise, dass Gott ihn nie schwerer prüfen werde, als er es ertragen könne, und nickt ermutigend dazu, doch Noen schweigt, denn sehr viele trostreiche Beispiele für Gottes Auffassung von Erträglichkeit hat er in den vier Jahren, die er jetzt hier ist, nicht erlebt.

    Und sein Herz wummert in seinem Hals, als er auf dem Stuhl im Sprechzimmer von Doktor de Moor sitzt und auf die bunten Fliesen des Fußbodens starrt, auf das sich wiederholende Muster und dessen Berechenbarkeit, und er versucht, die Tür aus seinem Kopf zu verbannen, die aus ein paar Metern Entfernung herüberschielt und reglos abwartet und bald aufgehen und sie hereinlassen wird. Die Gärten, er hockt in den Gärten auf den Knien beim Unkrautjäten, und es regnet ein bisschen, die Salatköpfe, die Endivien, der Kohl, die Bohnen, alles ist mit dicken Wassertropfen bedeckt, und er sieht, wie sie langsam herabrollen, ihrem Tod in der schwarzen Erde entgegen. Und gerade, als die Stille im Garten ihre näher heranrückende Ankunft unmöglich gemacht hat, undenkbar wie ein Hirngespinst, das tagelang seine Gedanken beherrschte und beim Aufwachen plötzlich die Macht über ihn verloren zu haben scheint, genau da hört er ihre Stimme auf dem Flur. Sie spricht mit Doktor de Moor, und sie nähern sich der Tür, eine schrille und unangenehme Stimme hat sie, sie bemerkt wohl nicht, dass hier alles so wenig Geräusche wie möglich von sich geben sollte, die Menschen und die Schritte und die Dinge und sogar die Albträume, als würde man für eine beklemmend lange Zeit den Kopf unter die Bettdecke stecken, so fühlt es sich manchmal an, und wenn es stürmt und seine Mitbewohner unruhig und verängstigt sind, schleicht sich Noen in den Garten, um dem Wind zu lauschen, der rund um das Gebäude heult, und sich für einen Augenblick als lebendiger Teil der Welt zu fühlen.

    Und sie redet von ihrem Mann, den sie Kamiel nennt, sie habe seinen Tod nie für möglich gehalten, sagt sie, sie habe es zwar versucht, aber dann habe sie immer wieder von ihm geträumt wie damals, als er noch bei ihr war, und morgens sei es ihr dann so vorgekommen, als hätte er sie nachts aufgesucht, um ihr Mut zuzusprechen. Und sie bleibt vor der Tür stehen, er erkennt durch das Fenstergitter ihre Silhouette, einen zarten Frauenkopf, einen Hut mit üppigen Blumen und breiter Krempe, und sein Atem jachtert durch die Kehle, und sie, sie muss genauso nervös sein wie er, meint er an ihrer Stimme zu vernehmen, und schon empfindet er ein herzliches Mitleid mit ihr, und bei dem Gedanken an ihre Angst verringert sich die seine. Jetzt wird die Klinke auf der anderen Seite der Tür heruntergedrückt, und Bruder Reginald bedeutet ihm, dass er aufstehen soll, die Tür öffnet sich, und Doktor de Moor tritt einen Schritt zur Seite und lässt sie vorangehen.

    Und sie ist hübsch, er hat sich zwar schon eine unbestimmte Vorstellung von seiner Frau gemacht, wie von einer Figur im Traum, mehr Empfindung als handfeste Konturen, aber sie war nie so etwas wie diese hier mit dem dunklen, in kunstvoll gewellten Strähnen hochgesteckten Haar, elegant und schlank und geschmackvoll gekleidet. Und sie wagt es nicht, zu ihm aufzublicken, und als sie über die Schwelle tritt, ist er sich bewusst, dass ihr Blick auf seinen schweren Anstaltsschuhen ruht, die Hosenbeine hinaufkriecht und auf Höhe seiner Knie hängen bleibt, bis Doktor de Moor geräuschlos die Tür hinter sich schließt und sie mit dem Mut der Verzweiflung befindet, dass jetzt der rechte Moment gekommen sei. Sie hebt den Blick und schaut ihm zögernd ins Gesicht, sie hat große dunkelbraune Augen, die Farbe von feuchter Erde, und sie muss es sein, etwas anderes ist gar nicht vorstellbar, er würde sie lieben können, aufrichtig und hingebungsvoll, eine Last fällt von seinen Schultern, und er lächelt sie vorsichtig an.

    Aber sie starrt nur, und eine tiefe Ernüchterung senkt sich auf ihre schönen Züge herab, so gewaltig, dass alle Schönheit aus ihr herausfließt, ihre dunklen Augen füllen sich mit Tränen, und sie schüttelt den Kopf, nicht wie bei einer Verleugnung, sondern unbeherrscht, als wollte sie sich selbst bestrafen, weil sie seit Wochen dummen, naiven Gedanken nachgehangen hat, Gedanken, die sie jetzt weit von sich weisen möchte. Und sie wendet sich an Doktor de Moor und beginnt, von ihrem Kamiel zu erzählen, beschwörend, als hoffte sie, dass er, wenn sie es gleich noch einmal wagt, ihn anzusehen, sich in ihren Mann verwandelt haben wird, und ihre schrille Stimme erfüllt das ganze Sprechzimmer, ihr Kamiel, sagt sie, war ein Held, der fürs Vaterland gekämpft hat, er hat sich für seine Kameraden aufgeopfert, er hat sein letztes Essen mit ihnen geteilt, er hat Verwundete unter Gefahr für das eigene Leben in den Schützengraben zurückgeschleppt, das haben sie ihr geschrieben, nachdem er als vermisst gemeldet worden war, sagt sie. Und sie spricht es nicht aus, aber es klingt durch jedes ihrer Worte hindurch, dieser Mann, dieser Simpel, der da in seiner armseligen Anstaltskleidung vor ihr steht, würde nie den Ansprüchen genügen können, die sie an ihren Kamiel stellt, er wird seit Dezember 1917 vermisst, und sie hat fast fünf Jahre Zeit gehabt, ihn für sich zu vervollkommnen, er ist ihr Kunstwerk, ihr Zufluchtsort, und sie ist empört, dass Doktor de Moor sie mit seiner Anzeige glauben gemacht hat, dass ihr Kamiel überhaupt diese Gestalt eines Irren mit Gedächtnisverlust annehmen könnte.

    Und Doktor de Moor hört ihr geduldig zu, sein Blick ist fest auf sie gerichtet, er scheint ihre Worte wohlwollend abzuwägen, wie er es auch in Gesprächen mit seinen Patienten zu tun pflegt, aber Noen weiß aus Erfahrung, dass er bereits nach dem ersten Satz seine Diagnose fertig hat und nach dem zweiten seinen Gedanken freien Lauf lässt und nichts mehr zu ihm durchdringt, außer dem, was seine Diagnose untermauert.

    Und auch Noen kann ihr nicht zuhören, das Gefühl, dass er diesen Schmerz bei ihr ausgelöst hat, diese unermessliche Enttäuschung, die sie minutenlang wegzureden versucht und die ihr bis ans Lebensende in Erinnerung bleiben wird, diese Enttäuschung drängt sich ihm mit einem beklemmenden Gefühl auf, nichts hat er getan, nur hier gesessen und auf sie gewartet, aber er ist ein Niemand, er existiert gar nicht, und trotzdem ist es augenscheinlich möglich, dass er der Falsche ist, und er sagt ihr, dass es ihm leidtue, und ihr Wortschwall kommt betroffen ins Stocken, und sie wendet sich halb zu ihm um, aber sie ist dem nicht gewachsen, ihr Blick streift nur sein linkes Ohr und macht dann einen hastigen Schwenk nach rechts, als wäre er die Materialisierung ihres allerschlimmsten Albtraums, und er schweigt und neigt den Kopf und starrt auf das Fliesenmuster und versucht, sie und ihr Leid zu vergessen.

    Und es dauert lange, bis sie geht, Doktor de Moor unternimmt mehrere Anläufe, das Gespräch höflich abzubrechen, aber sie redet einfach immer weiter, und nicht ein einziges Mal wendet sie sich an Noen, für den sie gekommen ist, sie fürchtet sich vor ihm, aber gleichzeitig wagt sie es nicht, den Gedanken fallen zu lassen, er könnte doch ihr Kamiel sein, und sich dem Tag ohne die Illusion von vor einer Stunde auszuliefern, und sie redet noch immer ohne Punkt und Komma. Und endlich sagt Doktor de Moor, dass die nächste Frau jetzt auf ihn warte, da verstummt sie erschrocken, die nächste Frau, und für einen Moment glaubt Noen, dass sie in Tränen ausbrechen werde, ihr Gesicht verzieht sich zu einer gequälten Grimasse, und er kann ihren Kummer nicht mitansehen, er setzt sich auf den Stuhl und stützt den Kopf in die Hände, und erst als er hört, wie sich die Tür schließt, wagt er es, den Blick zu heben, und sie ist weg, und es ist, als hätte sie seine Sehnsüchte mit sich genommen, der stille Garten im Regen ist verschwunden, die Welt außerhalb der Mauern, die nächste Frau, und er wartet.

    Und die nächste Frau ist eine Frau, wie er sie von den Sonntagen kennt, sie besuchen seine Zimmergenossen und lassen sich durch die Anstalt nicht aus dem Konzept bringen, solide, praktische Frauen sind es, die aufräumen und das Gejammer ihres Mannes überhören oder mit einem tröstlichen Spruch abschmettern. Und sie steht auf der Schwelle, sie sucht ihn sofort mit ihren Augen, und ihre Blicke prallen aufeinander wie unbeholfene Fremde in einem zu kleinen Raum, sie ist älter als er, Mitte vierzig, schätzt er, und sie ist dürr und unansehnlich, aber ihr Gesicht hat etwas Rührendes, etwas, das ihn trifft, als würde sie sich ganz schrecklich Mühe geben, ihre Gefühle zu verbergen, und doch kann er die schlaflosen Nächte und die allzu begierige Hoffnung von ihren Augen ablesen, und er befürchtet, dass er sich genau deshalb einst in sie verliebt hat, in ihre fruchtlose Selbstbeherrschung, und dass dies die Frau ist, von der er seit Wochen zu träumen versucht.

    Und ein ängstliches Zögern huscht über ihr Gesicht, als wollte sie sich ihre Zweifel und die daraus resultierende Enttäuschung nicht eingestehen, und ihr Blick schweift über seine Stirn und sein Kinn und dann die Brust hinab, über die Hände, die Beine, und Noen seinerseits mustert sie in banger Erwartung, ihre schlichte Kleidung und die gebräunte Haut und die Arbeitshände, und als sich ihre Blicke zufällig kreuzen, ist es, als betrachtete sie ein Tier, so schamlos schaut sie ihm in die Augen, ohne einen Gedanken an seine Gefühle oder seinen Willen zu verschwenden. Und sie fragt Doktor de Moor, ob er guten Tag, mein liebes Knüffelchen, sagen könne, und sie spricht jedes Wort mit Nachdruck aus, als stünde es für sich selbst, wobei sie versucht, ihren volkstümlichen Akzent zu verbergen, und schon wieder rührt sie ihn, und er wiederholt die Worte so nüchtern wie möglich, als würde er einen Vers aufsagen, aber gleich bei der ersten Silbe ändert sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht, und es kommt eine seltsame Art von Intimität zwischen ihnen auf, derweil beiden klar ist, dass dieses Gefühl auf einer Täuschung beruht, doch können sie es nicht so ohne Weiteres abtun, und für einen Moment glaubt er zu wissen, wie es ist, verheiratet zu sein, die Häuslichkeit, die Selbstverständlichkeit des anderen, der immer da ist, und sie lässt den Gedanken zu, lässt ihn wirklich zu, dass er ihr Mann ist, und sie erinnert sich wieder an all das, was sie vergessen musste, um am Leben zu bleiben, und ihr Gesicht öffnet sich so hilflos wie das eines Kindes, und er sagt noch einmal zu ihr guten Tag, mein liebes Knüffelchen, und sie lächelt ihn an, aber er sieht Tränen in ihren Augen aufsteigen, auch er könnte jetzt weinen, vor Rührung und weil ihm die vier Jahre in der Anstalt plötzlich so tödlich leer vorkommen.

    Und Doktor de Moor befiehlt ihm in strengem Ton, er solle ein paar Schritte zurücktreten, und er fragt sie, ob sie ein Merkmal ihres Mannes benennen könne, und beide wachen aus ihrer Selbsttäuschung auf und wagen es nicht, einander beschämt anzusehen, und sie überlegt und sagt dann, ihr Mann habe ein Muttermal auf der Rückseite seines Oberschenkels, so groß, sagt sie, und sie deutet mit den Fingern anderthalb Zentimeter an, und Doktor de Moor wendet sich an Noen und fragt, ob er ihr seinen Oberschenkel zeigen könne. Noen rührt sich nicht, und Doktor de Moor wiederholt seine Bitte, Noen neigt den Kopf, und Doktor de Moor sagt, wenn er jetzt nicht mitmache, sähe er sich gezwungen, die Hilfe zweier Brüder in Anspruch zu nehmen, und wie werden Sie sich dann fühlen, sagt er, wenn Sie in Gegenwart einer Dame von zwei Brüdern ausgezogen werden.

    Und Noen legt seine Jacke ab, und während er die Hosenträger von den Schultern zieht, wirft er einen Blick auf sie, was sie noch viel mehr als ihn geniert, und mit niedergeschlagenen Augen lässt er die Hose herunter, und auf Drängen von Doktor de Moor rollt er sogar die Beine seiner Unterhose auf, und auch wenn sie es nicht will, muss sie doch hinschauen, und er hört ihre Röcke rascheln, als sie sich hinter ihm niederkniet, und er weiß, dass sie seine Oberschenkel mustert und dort kein Muttermal finden wird, und je länger die Situation andauert, desto lächerlicher und unglaubwürdiger wird ihre aufkeimende Intimität von eben.

    Und auch Doktor de Moor bückt sich und begutachtet seine Beine, und nach einem Moment erhebt sie sich, und Doktor de Moor sagt ihr, dass es ihm leidtue, und sie schweigt, und kurz bevor sie eilig zur Tür hinausläuft, sieht er die Enttäuschung auf ihrem Gesicht, noch tiefer und schmerzhafter als bei der ersten Frau, sie verabschiedet sich höflich von Doktor de Moor, verschwendet aber keinen Blick, kein Wort auf den Mann, der ihr Ehemann hätte sein können und der ihr einen solchen Kummer bereitet hat, dass sie es in der nächsten Zeit nicht wagen wird, an ihre Fantasien von seiner Rückkehr zu glauben, Wochen, Monate werden vergehen, bevor sie solche Gedanken wieder zulassen wird.

    Und Noen fühlt sich so schuldig und elend deswegen, er hatte gehofft, endlich zu erfahren, wer er ist, aber er weiß nur, wer er nicht ist. Der Mann, den er sich in den letzten vier Jahren sorgfältig aus dem Nichts aufgebaut hat, all die Handlungen, die normalerweise seinen Montagnachmittag ausmachen und an denen er sich festhalten kann wie am Geländer einer wackligen Treppe, sie haben Stück für Stück ihre Bedeutung verloren, und tief in seinem Inneren, dunkel und losgelöst von der Welt, zieht Panik herauf, und die Angst vor dieser alles vernichtenden Panik drängt in Wellen heran und ist fast so unerträglich wie die Panik selbst.

    Und er sagt Doktor de Moor, dass er es nicht könne, und Doktor de Moor sagt, er solle in den Schlafsaal gehen, um sich ein wenig auszuruhen, und in einer Stunde, sagt er, könne er die dritte Frau treffen, nein, sagt Noen, das schaffe ich nicht, und er hört die Verzweiflung in seiner Stimme, als wäre es die Stimme eines Fremden. Und er spürt den Blick von Doktor de Moor auf seinem Gesicht ruhen, einen kühlen, prüfenden Blick, und anscheinend sieht er schlecht aus, denn Doktor de Moor sagt leise, dass es in Ordnung gehe, morgen, sagt er, morgen können Sie die nächsten Frauen sehen, und er setzt hinzu, dass es nur noch zwei seien, eine Frau, die sich für seine Mutter halte, und eine, die in ihm ihren Ehegatten vermute, und wer weiß, wer weiß, vielleicht hat eine von beiden ja recht, sagt er, und er berichtet in beruhigendem Tonfall von den Dutzenden Frauen, die auf die Anzeige reagiert haben und gebeten wurden, in einem Brief die vermisste Person, nach der sie suchen, zu beschreiben, und dann sind die meisten von ihnen schon herausgefallen, sagt er, und bei denen, die übrig blieben, haben sie in den Militärarchiven nach Daten der vermissten Männer geforscht, und deshalb, sagt er, bestehe eine gute Chance, dass eine der beiden Frauen, die er noch treffen werde, ihn wirklich kenne, und überlegen Sie sich doch nur mal, wie das Ihr Leben verändern wird, sagt er und lächelt ihn an. Und Noen sehnt sich unsagbar nach dem Gemüsegarten und dem Gewächshaus und nach seinem Bett zwischen dem von Maurice und Basiel im Schlafsaal und nach den Stimmen der Mädchen aus der Küche, die abends über den Hof schallen, und nach der ruhigen Vorhersehbarkeit von all dem.

    Und er hackt das Unkraut zwischen zwei Reihen Kartoffelpflanzen, und er versucht, sich auf die Bewegungen seiner Arme zu konzentrieren und auf die Sonne, die warm auf seinen Rücken scheint, aber Jules, der hinter ihm geht und das Unkraut einsammelt und in einen Korb wirft, redet mit Nachdruck davon, dass seine Frau eine Hure sei, weil sie ihn mit Gott weiß wem betrogen habe, während er an der Front war, und das immer noch tue, weshalb sie auch nie zu Besuch komme, behauptet er, und Noen weiß, dass es sinnlos ist, ihn daran zu erinnern, dass seine Frau schon seit Jahren tot ist.

    Und am Ende des Feldes, an die Wand des Bezahlpavillons gelehnt, stehen Cyriel und Ferdinand und Eugeen und rauchen, und zweifellos sprechen sie über den Krieg, Cyriel über den Deutschen, der vor seinen Augen von Schrapnells geköpft wurde, und Ferdinand über seinen gefallenen Bruder, und Eugeen ist überzeugt, dass der Krieg noch immer andauert und dass es hier von deutschen Spionen wimmelt, aber keiner der drei hört, was der andere sagt, sie verweben unter dem Deckmantel eines Gesprächs drei Monologe, und als Bruder Honoré vorbeikommt, wechseln sie schnell das Thema, denn nach Meinung von Doktor de Moor zögert das Reden über den Krieg die Heilung hinaus und ist deshalb nicht erlaubt.

    Und in der Reihe neben Noen hackt André, und den ganzen Tag, buchstäblich den ganzen Tag, murmelt er das Vaterunser, um seine Schuld einzulösen, aber er kann niemandem klarmachen, worin diese ungeheure Schuld besteht und was er falsch gemacht hat, und Maurice sitzt mitten auf dem Kartoffelacker auf der Erde und nickt immer wieder ein, weil er nachts wegen der Albträume wach liegt, von denen er Noen einmal anvertraut hat, dass sie aus schrecklichen Fronterinnerungen bestehen, aber das Schlimmste ist, dass sie ihn so aufgeilen, dass er einen Samenerguss davon kriegt, und dann steht er mitten in der Nacht auf und wäscht unterm Wasserhahn sein Laken, und schließlich sind da noch Alfred mit seinen gelähmten Gliedmaßen, den einen Tag ist es das linke Bein, am nächsten der rechte Arm, und Constant mit seinen nervösen Tics und seinem Stottern.

    Noen sieht alles, was sich um ihn herum abspielt, mit Befremden, als wäre er monatelang weg gewesen und könnte sich nicht an seine Umgebung gewöhnen, und das Bild der beiden enttäuschten Frauen schwirrt noch immer in seinem Kopf herum, losgelöst von der Realität, als hätte er es sich ausgedacht, und obwohl er seine Saalgenossen oft beruhigt und ihren sich endlos wiederholenden Geschichten zuhört, fragt ihn jetzt niemand, wie seine Begegnungen mit den Frauen verlaufen sind, als könnte ihm außerhalb ihrer Erfahrungswelt nichts passieren. Und er versucht, die Männer und ihr seltsames Verhalten wieder als selbstverständlich zu begreifen, sich in sein Leben zu fügen, aber es wirbelt in seinem Kopf, er stellt die Hacke an die Wand und geht weg, Bruder Honoré vertraut ihm und lässt ihn gehen, und er sitzt in dem stickig warmen Gewächshaus zwischen den Tomatenpflanzen und den Weinstöcken, und es ist endlich still.

    Alle sind neidisch auf seine Amnesie, nie von Erinnerungen gequält, keine Albträume, sogar die Mönche beneiden ihn, für sie ist Austauschbarkeit von Äußerlichkeit und Charakter das Höchst-Erreichbare und eben die Weltentsagung, durch die sie Gott näherkommen, und aus ihrer Sicht ist ihm in den Schoß geworfen worden, wofür sie ein Leben lang leiden müssen, und auch diese Frauen waren glücklich mit seinem mangelnden Erinnerungsvermögen, jeder füllt ihn nach Belieben aus wie ein Ausmalbild, und er kann nichts dagegen machen. Und er erzählt sich von der einzigen Zeit, auf die er sich besinnen kann, den Jahren hier in der Anstalt, von seinen Gewissheiten, seinen Zweifeln, seinen Verdiensten, von dem Mann, der er wohl sein muss, was früher auch gewesen sein mag, was auch immer noch kommen mag.

    Aber während des Abendessens im Refektorium spürt er noch stets dasselbe einsame Befremden, Octave, der nach dem Essen würgt, weil alles, was er in den Mund nimmt, ihn an die verwesende Leiche eines Kameraden erinnert, die vor seinen Augen auseinanderspritzte, als er versehentlich darauf getreten war, und Bruder Deodatus, der Eugeen gewaltsam den Mund aufreißt, und Bruder Thomas, der ihm einen Bissen hineinstopft, weil Eugeen überzeugt ist, dass deutsche Spione versuchen, ihn zu vergiften, und mit vereinten Kräften ringen die Brüder mit ihm, während er versucht, das Essen wieder auszuspucken, und bei jedem Bissen geht das so, und Constant, der heute derart unter seinen Tics leidet, dass die Hälfte seiner Suppe auf den Boden spritzt, und obwohl Noen schon Hunderte Male so mit ihnen am Tisch gesessen hat, hält er es heute Abend nicht aus, und er lässt sein Essen stehen.

    Und er sitzt auf dem Fußboden im Flur mit dem Rücken an der Wand und hört Schritte, die sich nähern, es ist Basiel, er setzt sich neben ihn und nimmt seinen Stift und sein Notizbuch aus der Tasche und schreibt etwas auf und zeigt es Noen, wie ist es gegangen, fragt er, und Noen merkt, dass ihm das Reden über die Begegnungen mit den Frauen widerstrebt, denn wenn er Worte dafür sucht und sie laut ausspricht, wird die Unzumutbarkeit der Enttäuschung nur noch größer, als würde er ihnen ein weiteres Mal und diesmal absichtlich Schmerz zufügen, weshalb er Basiel mit ein paar Sätzen abspeist, und Basiel schreibt in sein Büchlein, dass er froh wäre, wenn Noen noch ein bisschen hier bliebe, und Noen nickt, ich auch, sagt er, und sie lächeln sich an und bleiben schweigend zusammen auf dem kühlen Fliesenboden sitzen, denn das ist das Schöne an Basiels Gesellschaft, wenn er bei ihm ist, vergisst Noen manchmal seine Anwesenheit und fühlt sich trotzdem nicht allein, und Doktor de Moor glaubt, dass sich Basiel nicht zu sprechen weigert, weil er nicht könnte, sondern weil er es unbewusst nicht will, er hat die Schrecken des Krieges unschädlich gemacht, indem er sie verschweigt wie Noen sie vergessen hat.

    Und abends spielen sie alle im Freizeitraum Karten, und nach sechs Runden ist Alfred der große Verlierer, weshalb er nachts aufbleiben muss, um die anderen aus ihren Albträumen zu wecken, und Basiel spielt Klavier, was er gut kann, und weil alle Geräusche den ganzen Tag lang so dezent sind, bahnen sich jetzt die Töne einen Weg zu ihren Herzen, sie hören alle gerührt zu, und Ferdinand und Octave weinen, und Noen vergisst die Frauen, denen er Verdruss bereitet hat, und die beiden, denen er morgen Verdruss bereiten wird, und er sackt in sein Leben wie in eine flaumige Matratze, und erst als er sich im Schlafsaal auszieht, fällt ihm wieder ein, was diesen Tag vom vorhergehenden unterscheidet, und durch diese Unterbrechung seiner Sorgen erscheinen ihm die Begegnungen mit den Frauen umso makabrer und unüberwindbar.

    Und Constant lenkt Bruder Konrad ab, indem er absichtlich eine volle Wasserkanne umstößt, und unterdessen binden Noen und Jules und Basiel André unbeobachtet mit ihren Socken an den Bettpfosten fest, weil der befürchtet, dass er nachts in einem Anfall geistiger Verwirrung Selbstmord begehen könnte, aber das Festbinden hat Doktor de Moor verboten, weil er davon überzeugt ist, dass André sich nicht das Leben nehmen wird, doch André hat so viel Angst vor sich selbst, dass er sie sonst alle mit seinem Heulen und Gebrabbel wachhält und in den Unruhepavillon verlegt wird. Und Bruder Konrad bläst die Lampen aus, er lässt die Tür offen und setzt sich auf einen Stuhl im Flur und liest, und Noen dreht sich auf die Seite und schließt die Augen, diese hübsche Frau geistert ihm im Kopf herum, und er denkt an sie, wie auch sie jetzt im Bett liegen wird, und sie weint, denkt er, sie weint seinetwegen, und er versucht sich vorzustellen, wie sich sein Leben verändert hätte, wenn er ihr Mann gewesen wäre, wenn sie ihn erkannt und ihm wieder Leben eingehaucht hätte.

    Und jemand rüttelt ihn unsanft, er schreckt hoch, Alfred steht im Dunkeln neben seinem Bett und flüstert, dass er sich dauernd hin- und herwerfe und mit den Armen um sich schlage, Noen bedankt sich, und sie hören, wie Bruder Konrad im Flur seinen Stuhl verrückt, da rennt Alfred schnell zu seinem Bett zurück und springt hinein. Und Noen liegt auf dem Rücken, und diese Frauen, natürlich kommt alles wegen dieser Frauen, er hat sonst fast nie Albträume, im letzten Jahr kein einziges Mal, und wenn sie ihn dann doch heimsuchen, erinnert er sich nie daran, was er geträumt hat, und auch jetzt will ihm nicht ein einziges Bild einfallen, er hat nur ein schreckliches Gefühl der Verlassenheit und der Selbstverachtung von diesem Traum zurückbehalten, und da liegt er nun und wartet darauf, dass es weggeht, aber es lässt sich nicht vertreiben.

    Und die Nacht kriecht vorüber, schwarz und zeitlos, und das Licht von Bruder Konrads Lampe, das durch den Türspalt hereinfällt, wirft unheimliche Schatten auf den Fußboden, und in der Ferne hallt das Geschrei der verzweifelten Männer aus dem Unruhepavillon und den Isolierzellen durch die dunklen, leeren Gänge, und normalerweise ist das ein Geräusch, das nun einmal da ist wie das Singen der Vögel oder das Klirren des Bestecks, aber jetzt vermischt es sich mit dem schrecklichen Gefühl aus seinem Traum. Und Constant und Jules werden rechtzeitig von Alfred geweckt, bevor Bruder Konrad ihre Angstträume bemerkt und eine Verlegung in den Unruhepavillon in Erwägung ziehen könnte, und neue, immer dieselben, sich wiederholende Albträume erfüllen den Schlafsaal mit all dem Seufzen, dem Sichherumwälzen, dem Schnarchen.

    Und dann endlich, endlich wird es zögerlich hell, und noch immer lässt das geistesabwesende Empfinden von Selbstverachtung nicht nach, es begleitet ihn wie ein Schatten, als er aufsteht und sich ankleidet, und bei der Messe, und als er in der Kirchenbank sitzt, murmelt er mechanisch die lateinischen Sätze mit, aber die Worte sind ohne Bedeutung wie eine sanfte Musik, und die erhabene Stille breitet schützend ihre Flügel über ihn aus, doch dieses Empfinden geht nicht weg, es ändert nur die Form, sodass er nicht mehr davon überwältigt wird und es aus gewissem Abstand betrachten kann.

    Und zu der Zeit, als Bruder Thaddeus ihn abholen kommt, um ihn ins Sprechzimmer von Doktor de Moor zu führen, ist er sich ganz sicher, und er sagt ihm, dass er diese beiden Frauen nicht treffen will, aber Bruder Thaddeus entgegnet, er solle sich erst mal hinsetzen, dann werde er Doktor de Moor Bescheid geben. Und kurz darauf betritt Doktor de Moor eiligen Schrittes das Sprechzimmer, und Noen wiederholt seinen Entschluss, was Doktor de Moor als egoistische Anwandlung bezeichnet, die armen Frauen, sagt er, er habe sie jetzt schon einen ganzen Tag warten lassen, und nun wolle er sie auch noch unverrichteter Dinge nach Hause schicken. Und Noen versucht ihm zu erklären, wie schrecklich leer er sich fühlt und dass er befürchtet, der Mann, zu dem er sich in den letzten vier Jahren mühsam entwickelt hat, werde ihm entgleiten, und Doktor de Moor sagt ungerührt, dass Verantwortung tragen zu lernen Teil des Heilungsprozesses sei, ein Herr lasse seine Termine nicht sausen, nur weil es ihm gerade nicht in den Kram passe, sagt er, und es gehe auch nur noch um eine Frau, die zweite sei vom gestrigen Aufschub so konsterniert gewesen, dass sie nach Hause gefahren ist, eine einzige Frau und zehn Minuten seines Lebens, damit wenigstens diese eine Gewissheit erhalte und nachts wieder ruhig schlafen könne. Und Noen sagt, dass er den beiden Frauen gestern nur wehgetan habe, es wäre besser gewesen, wenn sie ihn nie gesehen hätten, er treffe seine Entscheidung nicht allein für sich, sondern auch für diese fremde Frau, und Doktor de Moor sagt ihm ganz ruhig, dass es nicht an ihm sei, über ihr Schicksal zu entscheiden, mehr noch, eigentlich sei er nicht einmal in der Lage, über sein eigenes zu bestimmen, das müsse Doktor de Moor für ihn tun, und wenn er nicht mitarbeiten wolle, dann muss ich Sie eben dazu zwingen, sagt er.

    Und in der Zwischenzeit ist Bruder Thaddeus gegangen und mit Bruder Thomas zurückgekehrt, und der hat eine cremefarbene Jacke mit langen Ärmeln in der Hand, und Noen weiß, was jetzt passieren wird, und flüchtet zur Tür, aber Bruder Thomas packt ihn fest um die Taille, und Noen wehrt sich gegen die beiden Brüder, aber er hat keine Chance gegen sie, in nur wenigen Minuten haben sie ihn in die Jacke gezwängt, und Bruder Thaddeus schnallt die Riemen so fest, dass seine Arme über der Brust gekreuzt sind und die Hände fast auf dem Rücken landen.

    Setzen Sie sich da auf den Stuhl, sagt Doktor de Moor, und am eisigen Ton seiner Stimme hört Noen, was jetzt aus ihm geworden ist, ein Irrer, und so haben sie ihn früher auch schon behandelt, aber nie, wenn er klar denken und erklären konnte, was in ihm vorging, und jetzt kocht eine Wut in ihm hoch, die er nur herauslassen kann, indem er wie ein gefährlicher Geisteskranker brüllend durch das Sprechzimmer stürmt und seinen Kopf gegen die Wand schlägt.

    Und er sitzt auf dem Stuhl und holt ein paarmal tief Luft, aber auch das geht eigentlich nicht, weil Bruder Thaddeus die Riemen so fest geschnallt hat, und er neigt den Kopf und versucht, im regelmäßigen Muster des Fliesenbodens zu verschwinden. Und er hört die schweren Schritte von Doktor de Moor und die schnelleren, leichteren einer Frau, die sich auf dem Flur nähern, und die Tür öffnet sich, doch er schaut nicht hoch, auch nicht, als die Tür hinter ihnen geschlossen wird.

    Und Doktor de Moor sagt zu ihr, er ist heute böse, und die Art, wie er es hervorbringt, klingt, als wäre Noen ein ungezogenes Kind, doch die Frau fragt, wollen Sie mich denn nicht treffen, und sie hat eine tiefe, schleppende Stimme, als ödete das Leben sie an, und diese Selbstverständlichkeit, mit der sie sich nicht an Doktor de Moor wendet, sondern an ihn, den Mann, dessentwegen sie gekommen ist, der sie einen Tag hat warten lassen, und nicht einmal das nimmt sie ihm übel.

    Und sein Blick springt über das cremerote Fliesenmuster zu ihr und arbeitet sich vorsichtig in sie hinein, ihre Schuhe sind alt, aber gründlich geputzt, ihr dunkelbraunes Sonntagskleid ist einfach, und auch ihr Mantel ist nicht schick, sie atmet schnell und das Blut pocht ihr sichtbar im Hals, und ach, sagt sie, was seltsam animalisch klingt, als wäre das ein Laut, der ihrem Körper ohne ihr Zutun entwichen ist, und er schaut ihr ins Gesicht, und noch nie hat er so viel strahlendes, aufrichtiges Glück gesehen, es ist wie Weinen und Lachen und Träumen zugleich, und sie hat alles und jeden um sich herum vergessen, sie weiß nur, dass er da ist, und er hatte keine Vorstellung davon, dass ein Mensch einen anderen so anschauen kann, und er lächelt sie vollkommen überwältigt an. Und sie will zu ihm gehen, aber da stellt sich ihr Doktor de Moor in den Weg und sagt, dass sie dem Patienten besser nicht zu nahe kommen soll, aber das ist Amand, sagt sie völlig entgeistert, und Doktor de Moor bittet sie, ganz ruhig Platz zu nehmen, und sie setzt sich auf den Stuhl am Schreibtisch gegenüber von Doktor de Moor, der mit ihr die Daten ihres Mannes durchgeht, Amand Stephaan Coppens, 35 Jahre alt, 1 Meter 63 groß, vermisst seit dem 18. Dezember 1917 in der Nähe von Diksmuide, ja, sagt sie abwesend, stimmt alles, und währenddessen schaut sie ihn an, als könnte sie ihren Augen nicht trauen, aber Doktor de Moor erinnert sie daran, dass der Mann, der hier vor ihr sitzt, erst am 22. Dezember hinter der Front bei Merckem aufgegriffen wurde, und sie entgegnet, dass er dann wohl einige Tage umhergeirrt sein muss, Merckem ist ja nicht weit von Diksmuide weg, sagt sie.

    Und sie schaut ihn an und er sie, und er versucht, sich an sie zu erinnern, an ihre schwerfällige Stimme und die kastanienbraunen Locken, die sie heute Morgen vor dem Spiegel in einen Knoten zu zwingen versucht hat, und an ihre blassen braunen Augen, ihre bleiche, unebene Haut und die mollige, etwas gedrungene Figur, und vielleicht liegt es daran, dass sie so gewöhnlich ist, nicht hübsch, nicht hässlich, nicht grobschlächtig, nicht elegant, nicht dick, nicht schlank, eine Frau, an der man zehnmal vorbeigehen würde, ohne dass sie einem auffiele, aber er kann sich an überhaupt nichts erinnern, seine Gedanken bleiben an ihrem strahlenden, staunenden Lächeln hängen, als befürchtete er, auch ihr wehzutun, und wie unvorstellbar groß wäre ihre Enttäuschung, größer als ihr Glück jemals sein könnte.

    Und Doktor de Moor fragt sie, ob sie ein besonderes Merkmal ihres Mannes benennen könne, und sie schaut Noen an, und die Frage dringt nicht zu ihr durch, weshalb Doktor de Moor sie wiederholen muss, und ihr Blick weicht nachdenklich ein wenig unter dem seinen zurück, und nach einem Moment sagt sie, dass er mit neunzehn von einem Pferd getreten worden sei, es gibt da eine Narbe über seiner Schläfe, sagt sie, gleich unter dem Haaransatz, und er erkennt an ihrem Blick, dass sie in Gedanken schon ihre Hand ausstreckt und sein Haar wegstreicht und die Narbe berührt. Und er hat sich über ihrer Freude selbst ganz vergessen und wird sich plötzlich seiner unbequemen Haltung in der Zwangsjacke bewusst und dass er die Arme nicht bewegen kann, und es ist erniedrigend, die ganze Liebe, die über ihn ausgeschüttet wird, während er nur so dasitzt, und sie erhebt sich von ihrem Stuhl, aber Doktor de Moor kommt ihr zuvor und geht mit hastigem Schritt auf Noen zu, sie folgt ihm zögernd mit einem gewissen Abstand, und Noen behält sie im Blick und lächelt ihr beruhigend zu, denn er weiß, dass genau an der Stelle, die sie angegeben hat, eine Narbe ist, er hat bisher geglaubt, es sei eine Kriegsverletzung, seine einzige Legitimation für eine heldenhafte Erklärung seines Gedächtnisverlustes, und Doktor de Moor beugt sich herab und streicht Noen mit einer Handbewegung, die fast zärtlich ist, das Haar beiseite, erst an der einen, dann an der anderen Schläfe, und er erblickt die Narbe, tatsächlich, Sie haben recht, sagt er überrascht zu ihr, und obwohl Noen nicht weiß, ob er wirklich ihr Mann sein möchte, spürt er einen Triumph, als hätten sie Doktor de Moor gemeinsam ein Schnippchen geschlagen.

    Und Doktor de Moor setzt sich wieder hin und fragt sie, ob sie ihm ein Foto ihres Mannes zeigen könne, aber ja, sie hat ein Foto dabei, sie holt es aus der Tasche, während sie sagt, dass es das einzige sei, das sie von ihm besitze, denn Amand ist Fotograf, und er hat immer hinter der Kamera gestanden, nicht davor, das hier ist unser Hochzeitsfoto, sagt sie und reicht es Doktor de Moor, und als sie sieht, wie er den Mann auf dem Bild sorgfältig mit Noen vergleicht, erklärt sie, dass es ein altes Foto sei, von vor dreizehn Jahren, und Doktor de Moor schaut es noch einmal an, nickt dann bedächtig und gibt es ihr zurück.

    Und sie bemerkt, dass Noen sich nach vorne beugt, um auch einen Blick auf das Foto zu erhaschen, und sie geht zögernd auf ihn zu, und Doktor de Moor hält sie nicht zurück, sie steht jetzt direkt vor ihm, aber er kann seine festgeschnallten Hände nicht gebrauchen, weshalb sie ihm das kleine Foto ungeschickt vor die Nase hält, dicht vor seine Augen, und er sieht sie und ihn da zusammen stehen in Schwarz-Weiß, steif nebeneinander, die Hände zu fest ineinandergekrallt, als würden sie befürchten, das Foto brächte sonst nicht zum Ausdruck, dass sie zueinandergehören, er hat einen dunklen Anzug an und hält seinen Hut in der Hand, sie trägt ein einfaches, adrettes Kleid, beide haben an der linken Seite, knapp unterhalb der Schulter, eine weiße Blume angesteckt, und sie schauen streng und ein wenig misstrauisch in die Kamera, sie wirkt jung und naiv, und er ebenfalls, er ist dicker als jetzt und hat einen Schnurrbart, sein Haar ist länger und fällt ihm weit in die Stirn, und es ist unvorstellbar seltsam, diesen Mann zu sehen und zu wissen, dass er selbst das ist.

    Und er wendet den Kopf von dem Foto ab und blickt sie an, noch nie hat er eine Frau so aus der Nähe gesehen, sie ist überwältigend lebensecht, und vor allem drängt sich ihm ihr Anderssein auf, als ob er die Mädchen aus der Küche, die er abends vom Fenster des Aufenthaltsraums nach Hause gehen sieht, und die Frauen, die sonntags seine Saalgenossen besuchen, und sogar die beiden Frauen von gestern, als ob er sie alle nur als eine Verlängerung seines Ichs ansähe, aber sie ist auf eine erschreckende Weise unabhängig von ihm.

    Und sie wird unter seinem Blick verlegen und sagt, ich bin Julienne, erkennst du mich denn nicht, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn duzt, und der vertrauliche Ton in ihrer Stimme, sie sieht nicht den Geisteskranken in der Zwangsjacke, den Doktor de Moor aus ihm hat machen wollen, sie sieht den Mann, mit dem sie jahrelang zusammen gewesen ist, und seine Kehle schnürt sich zusammen, er schluckt seine Rührung herunter und sagt ihr, dass er nicht wisse, ob er sie wiedererkenne, und während er redet, wird beiden klar, dass sie seine Stimme zum ersten Mal hört, und ihr Blick bekommt etwas Verschwommenes, als ob sie an ihm vorbei in die Ferne schaut, und er sagt ihren Namen, Julienne, und der rollt ganz ungewohnt von seiner Zunge, und sie legt ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter, und er erhebt sich von dem Stuhl, doch weil er seine Arme nicht bewegen kann, kommt er ins Taumeln, und er spürt, wie sie seine Schulter packt, und sie stehen einander gegenüber, und dann macht sie einen Schritt auf ihn zu und nimmt ihn in den Arm, erst zögernd, und als sie spürt, wie seine Anspannung sich löst, fester, und die breite, schlaffe Krempe ihres Hutes kitzelt seine Wange, während ihr lauwarmer Atem seinen Nacken streift, und mit der rechten Hand streichelt sie über seinen eingeschnürten linken Arm nach unten, über den Oberarm und den Ellbogen, und dann ertastet sie seine rechte Hand und nimmt sie sanft in ihre, und ihre linke Hand legt sich auf seinen Nacken, zwischen Kragen und Haaransatz, ihre Hände sind warm und auf rührende Weise verschwitzt, und Ruhe senkt sich auf ihn herab wie eine Flaumfeder, und sie spürt, dass er sich in ihren Armen entspannt, sie hebt ihren Kopf von seiner Schulter und blickt ihm ganz aus der Nähe in die Augen, sie lächelt ihm aus dem Schatten ihres Hutes zu, und die Vertraulichkeit ihrer Nähe, die unbefangene Intimität, überwältigt ihn, und es ist, als läge sein früheres Leben für den unteilbaren Bruchteil einer Sekunde zum Greifen nah.

    Und sie lässt ihn los, sie stehen einander wieder unbeholfen gegenüber, da wendet sie sich an Doktor de Moor, der eifrig auf seine Papiere starrt, als wäre er nicht gerade Zeuge von etwas geworden, das sich nur in der Abgeschlossenheit ihres eigenen Hauses abspielen sollte, und bittet ihn, ob man Amand nicht die Zwangsjacke abnehmen könne, ich bin sicher, er wird uns nichts Böses tun, sagt sie, und Doktor de Moor nickt stumm zu Bruder Thaddeus hinüber, und Noen kehrt Bruder Thaddeus den Rücken zu, der die Schnallen löst und ihm die Zwangsjacke auszieht, Noen bewegt seine steifen Arme und Schultern und möchte, dass sie ihn noch einmal umarmt, er will seine Arme um sie schlagen und mit seinen Händen über ihren zarten Frauenrücken streichen.

    Aber sie hat schon wieder auf dem Stuhl Doktor de Moor gegenüber Platz genommen, und sie reden über die Kleidung, die er getragen hat, als er in der Nähe von Merckem von den Soldaten einer Feldküche aufgegriffen wurde, eine Kombination aus Teilen einer flämischen, einer französischen und einer deutschen Uniform und ohne jegliches Erkennungszeichen, so steht es in seiner Akte, und Doktor de Moor sagt, dass die Soldaten während des Krieges ihre Kleidung überall zusammengerafft haben, vor allem im Winter, und sie nickt, als wüsste sie das seit Jahren, und sie wirft einen Blick auf Noen, dann fragt sie Doktor de Moor verschämt nach seiner Unterwäsche, da habe ich seine Initialen reingestickt, als er mobilisiert wurde, sagt sie. Und Doktor de Moor schaut in seine Akte, aber nein, er trug teils deutsche, teils französische Armeeunterwäsche, und sie fragt, ob er seine silberne Uhr bei sich hatte, und nein, auch keine Uhr, dann fragt sie, ob Briefe von ihr in seiner Tasche steckten, und Doktor de Moor sagt, keine Briefe, aber er war auch völlig verwirrt und nicht ansprechbar, und das Einzige, was der Arzt im Feldlazarett von seinen Worten verstanden hat, war, dass er zu seinen Kameraden zurückwollte und dass da etwas mit einem Brief war, und ein Jahr lang, im Feldlazarett in De Panne und im Hospital in Châteaugiron und sogar noch, als er nach dem Krieg hierher in die Guislain-Anstalt in Gent überstellt wurde, hat er fortwährend von diesem Brief gesprochen.

    Und sie ist gerührt und sagt zu Doktor de Moor, dass sie auch jahrelang auf einen Brief von ihm gewartet habe, und sogar vorgestern noch, behauptet sie und schaut Noen ungläubig an, als wäre der Gedanke an all dieses Abwarten mit seiner Existenz unvereinbar, sogar vorgestern noch, sagt sie, habe ich auf einen Brief von dir gehofft. Und es ist seltsam, die ganze Zeit hat er gedacht, er sei losgelöst von dieser Welt, keine Vergangenheit, keine Zukunft, nie Besuch, aber die ganze Zeit ist sie dagewesen und hat auf ihn gewartet, jeden Tag, an dem er aufgestanden und zur Messe gegangen ist und im Garten gearbeitet und sich ihrer wieder nicht erinnert hat, hat er ihr wehgetan. Und sie sieht, dass ihre Worte ihn traurig stimmen, deshalb sagt sie ihm, dass sie nach Hause gehen sollten, dann wird alles anders, meint sie, und er spürt plötzlich einen Kloß im Hals, er hat also ein Haus, einen Platz, wo er hingehört, an den er zurückkehren kann, nach dem es ihn verlangen sollte, und auch ihre Augen füllen sich mit Tränen, und sie schauen einander an, und sie fragt ihn leise, kommst du mit nach Hause, und er nickt heftig und wortlos.

    Und Doktor de Moor sagt, Sie dürfen ihm keine Versprechungen machen, die Sie nicht halten können, Frau Coppens, und sie wiederholt, dass alles anders werde, und es klingt wie eine Beschwörung, und Doktor de Moor versucht ihr zu erläutern, dass sie ihn nicht so einfach mitnehmen könne, er ist mein Mann, sagt sie, er gehört nicht hierher, und Doktor de Moor sagt, sie habe keine Ahnung, wovon sie spreche. Und sie sieht Noen an und sagt ihm, dass der Staat ihn ihr vor acht Jahren weggenommen habe, um mit seinem Körper und dem von Millionen anderer Männer einen Krieg zu führen, um den niemand gebeten habe, damals war ich jung und gutgläubig, sagt sie, aber dieses Mal wird es anders sein. Und Doktor de Moor schweigt, er steht auf und sagt, dass er sich mit dem Superior und Direktor beraten müsse, Sie können hier nebenan warten, sagt er, aber sie bleibt sitzen, und er drängt sie nicht, er wechselt einen Blick mit Bruder Thaddeus und verlässt den Raum, wobei er die Tür geräuschlos, doch nachdrücklich hinter sich schließt.

    Und es ist still im Sprechzimmer, als hätte die Anwesenheit von Doktor de Moor ihrem Beisammensein Form gegeben, ohne ihn wissen sie nicht, was sie einander sagen sollen, und sie wagen es kaum, sich anzusehen, er hasst diese Verlegenheit bei sich selbst, bei ihr aber findet er sie ergreifend, und er fängt an, auf gut Glück von seinem Leben in der Anstalt zu erzählen, von der straffen Tageseinteilung und der Arbeit im Garten, und er erkennt ihre Erleichterung, sie sehen sich an, und er lächelt ihr beruhigend zu, und vielleicht mag er sie so schüchtern noch lieber, und er fragt sie, ob sie die Gärten sehen möchte, aber ja, sagt sie, das möchte sie sehr gerne.

    Und Bruder Thaddeus begleitet sie durch die Flure, alle drei schweigen sie, und in der Ferne hören sie einen Mann im Unruhepavillon herzzerreißend schreien, er erkennt das Mitleid auf ihrem Gesicht, und er schämt sich für die Anstalt, als wäre das Gebäude sein Körper und der abstoßende Laut seine Stimme, und Bruder Thaddeus hält ihnen die Außentür auf, und sie durchqueren gemeinsam die Galerie, das Sonnenlicht fällt in feierlichen Bögen zu ihren Füßen, und dann stehen sie im Hof im vollen, warmen Licht, und am Rosenbeet schaut sich Noen um und sieht, dass Bruder Thaddeus noch immer in der Tür steht und sie im Auge behält, auch sie sieht es und tritt näher an ihn heran, als wollte sie demonstrieren, dass sie sich nicht bange machen lasse.

    Und er zeigt ihr die Blumenbeete im Innenhof, und er erzählt ihr von der Pflege der Pflanzen und des Rasens und der Bäume und der Hecken und von den Gärten und dem Bauernhof und der Wäscherei, und sie fragt, ob alle, sie zögert, denn sie will das Wort »Verrückte« nicht in den Mund nehmen, Bewohner, sagt sie, ob alle Bewohner arbeiten. Er erklärt ihr die Hierarchie der Anstalt, ganz oben stehen die Ruhepavillons, ganz unten die unruhigen, wo man im Bett bleiben oder sogar den ganzen Tag im heißen Bad liegen muss, und arbeiten oder nach draußen darf man da schon gar nicht, und dann gibt es noch die Patienten der Bezahlpavillons, die mehr Privilegien haben, sagt er, aber da ist er noch nie gewesen, denn tja, er hat keine Familie, die für ihn zahlt, und auch der Staat kommt für seinen Aufenthalt nicht auf, denn vor dem Gesetz existiert er nicht, und all die Jahre hat die Anstalt die Kosten für ihn aus christlicher Nächstenliebe getragen, sagt er, und sie fragt ihn nach den Brüdern der Liebe, ob denn das gesamte Personal dem Klosterorden angehöre oder nur die Pfleger, und sie erkundigt sich nach seinen Freunden in der Anstalt und den Gärten, und das Gespräch schlängelt sich ganz von selbst dahin.

    Und sonntags kommen die Familien seiner Saalgenossen zu Besuch und zeigen sich am Leben in der Anstalt und an der Gedankenwelt ihres Mannes oder Sohnes oder Vaters, der hier bleiben muss, interessiert, und wie sehr sie sich auch bemühen, Noen kann aus ihren Reaktionen Mitleid und Furcht spüren, und wenn sie nach einem Stündchen wieder in die normale Welt zurückkehren, sind sie erleichtert, aber sie ist anders, er hat das wunderbare Gefühl, dass sie die Außenwelt für eine Weile abgelegt und sich ihm und der Anstalt ohne Vorbehalt ausgeliefert hat, ihr Interesse ist echt, sie bemitleidet ihn nicht und hat auch keine Angst, sie hat nur eines im Blick, dass er ihr Mann ist und dass dies das Leben ist, das er in den letzten vier Jahren geführt hat, während sie auf ihn gewartet und an ihn gedacht hat, und deshalb ist es auch ein bisschen ihr Leben geworden.

    Und er erzählt ihr von seinen Tagen, von seinen Aufgaben im Garten, vom Kartenspielen und Billard im Freizeitraum, und er sieht es mit ihren Augen, und alles füllt sich mit Bedeutung und Schönheit, als hätte er, genau wie sie, vier Jahre lang nur auf den Moment gewartet, in dem er mit ihr zusammenkäme, als hätte sein Leben eine Geschichte und eine Richtung bekommen, und so muss es sich anfühlen, jemand zu sein, nicht nur er hat sich verändert, sondern alles um ihn herum ebenfalls, als hinge die ganze Welt mit ihm zusammen, und er fühlt sich frei, beispiellos frei an ihrer Seite.

    Und er zeigt ihr den Gemüsegarten und das Spalierobst, das an den Außenwänden des Gartens wächst, und sie probiert die roten Beeren und die Aprikosen, und er erzählt ihr, dass er ins Gewächshaus darf, jeder in der Anstalt weiß, dass das ein großes Privileg ist, aber ihr muss er erklären, dass das wegen des Glases nur zuverlässige, ruhige Patienten dürfen, eigentlich nur die Brüder und er, sie ist wie ein Kind, so ohne jede Ahnung von seiner Welt, und er ist verzaubert von ihr, von der Vorstellung, dass sie zu ihm gehört und dass sie seine Frau ist, von der Art, wie sie ihm in die Augen blickt, wie sie ihre Schritte den seinen anpasst, wie sie zuhört und fragt, und dass sie noch mehr von ihm verzaubert ist als er von ihr. Und er nimmt sie mit ins Gewächshaus, zieht seine Jacke aus und breitet sie für sie auf der Erde zwischen den Trauben und den Tomaten und den Zitronen aus, und er setzt sich neben sie, sie schweigen ein Weilchen, und die Stille ist nicht unangenehm, es ist, als ob sie in Gedanken miteinander redeten, und plötzlich lacht sie und sagt, dass sie doch recht hatte, denn all die Jahre hat sie stur daran festgehalten, dass er noch lebe, aber die Leute wollten ihr nicht glauben, einige haben sie für verrückt erklärt, andere hatten Mitleid mit ihr, und alle haben gesagt, sie solle es sich besser aus dem Kopf schlagen, aber ich wusste es, sagt sie, ich wusste einfach, dass du noch lebst und dass ich dich eines Tages finden werde, und sie lacht wieder, ungläubig und fassungslos über ihr eigenes Glück.

    Und in der feuchten Wärme des Gewächshauses erzählt sie ihm, dass sie seit Ende des Krieges in Dutzenden von Krankenhäusern und Anstalten nach ihm gesucht habe, oft hat sie eigentlich von Anfang an gewusst, dass der Patient, den sie besuchen ging, nicht ihr Mann sein konnte, aber sie musste dennoch hingehen, denn stell dir vor, sie hätte sich geirrt, sie hätte aus Achtlosigkeit ihre einzige Chance, ihn wiederzufinden, vertan, und natürlich hat sie sich in den Tagen vor einem solchen Besuch wider besseres Wissen doch Hoffnungen gemacht, nur um bitter enttäuscht zu werden, und selbst wenn sie von Vornherein wusste, dass es so kommen würde, konnte sie sich dem nicht entziehen, und sie hat schwer verstümmelte Männer und Taubstumme und Verwirrte und Verrückte besucht, und da gab es niemanden, der sich um die gekümmert hätte, oft war sie der erste Besucher seit Jahren, und es war so traurig, so traurig. Und in ihren Albträumen war er dann einer von ihnen, da konnte er nicht sprechen oder war verstümmelt, und sie erkannte an seinem Blick, dass er genau wusste, wer sie war, aber aus Angst vor seinem Monstergesicht und seinem entstellten Körper hatte sie so getan, als erkennte sie ihn nicht, und in dem Moment, in dem er begriff, dass sie ihn verlassen wollte und ihr einen hilflosen, gequälten Blick zuwarf, sei sie immer wach geworden, ein schrecklicher Traum war das, und sie träumte ihn immer häufiger, im Vorfeld dieses Besuchs sogar jede Nacht.

    Ich hätte wissen müssen, dass heute ein Wunder geschieht, sagt sie, aber wenn sie es gewusst hätte, wäre es weniger wunderbar gewesen, gestern Abend noch habe sie geschwankt, ob sie wirklich gehen soll, und sich heute Morgen kaum getraut, denn was wäre, wenn auch er sich nicht als Amand entpuppen würde und sich die Hoffnung der letzten Wochen in Nichts aufgelöst hätte, denn der Krieg ist nun so lange her, vielleicht war dies ihre letzte Chance, ihn zu finden, und siehst du, sagt sie, schau uns an, wie wir hier zusammen sitzen, und sie sieht ihn fassungslos an und er sie.

    Und er pflückt ihr eine reife Tomate, und sie weiß, dass es eine Tomate ist, aber sie hat noch nie eine gekostet, ist das lecker, fragt sie misstrauisch, und er sagt, sie könne sie ruhig ausspucken, wenn sie ihr nicht schmecke, schließlich nimmt sie einen Bissen, und sie muss sich erst an den Geschmack gewöhnen, aber dann sagt sie, dass es köstlich schmecke, und sie isst die Tomate ganz auf, der Saft rinnt ihr übers Kinn, und er reicht ihr sein Taschentuch, damit sie sich den Mund abwischen kann, und sie lacht über sich selbst, und wenn es nach ihm ginge, könnten sie stundenlang hierbleiben, zwischen den Tomaten und Trauben und Zitronen.

    Und sie erzählt von zu Hause, sie wohnen in Kortrijk, sagt sie, sie haben ein gemeinsames Fotostudio und zwei Kinder, Gust ist jetzt zehn und Roos sieben, und dass er so eine Frau bekommen hat, ist ein großes Glück, aber die Kinder machen ihm Bauchschmerzen, Kinder, die alles von ihm erwarten, für die er Verantwortung tragen muss, und sie merkt, dass er still geworden ist, habe ich was Falsches gesagt, fragt sie, und er sagt nein, und sie lächeln einander an, ihr Gesicht ist rot vor Hitze, Schweißtropfen perlen von ihrer Stirn und Oberlippe, und er fragt sie, ob sie lieber draußen auf die Bank möchte, aber nein, sagt sie, sie möchte am liebsten mit ihm noch hierbleiben, und sie sitzen schweigend nebeneinander, und beide sind sich der Nähe des anderen und der Intimität ihres Zusammenseins bewusst.

    Und die Tür des Gewächshauses wird geöffnet, Bruder Thaddeus tritt ein und sagt, er habe es sich schon gedacht, dass sie hier sind, der Superior Segers und Doktor de Moor wollen mit Ihnen sprechen, sagt er zu ihr, und sie steht schnell auf und er auch, er zieht seine Jacke an und sie streicht ihr Kleid glatt, und beide haben das Gefühl, bei etwas erwischt worden zu sein.

    Und im Zimmer von Superior Segers sitzen sie dicht beieinander, wenn sie ihren Fuß bewegt, spürt er, wie ihr Kleid sein Hosenbein streift, und ab und zu schielt sie zu ihm herüber, und ihr Blick bleibt einen Moment an seinem hängen, aber die selbstverständliche Nähe von gerade eben im Gewächshaus will sich nicht wieder einstellen, Doktor de Moor erklärt ihr, wer der Mann wirklich ist, den sie mit nach Hause nehmen will, und mit jedem Wort treibt er sie weiter auseinander.

    Er weiß nichts mehr, sagt Doktor de Moor, nur an die vergangenen vier Jahre, die er hier verbracht hat, erinnert er sich, als er im Dezember 1917 in der Nähe von Merckem aufgegriffen wurde, konnte er nicht einmal sagen, wer er ist, zu welchem Regiment er gehört hat, wie alt er ist, wo er gewohnt hat, ob er verheiratet ist, nichts, und weil er gegen Mittag in das Feldlazarett gebracht wurde, hat ihn der Arzt auf den Namen Noen¹ Merckem getauft, und laut seiner Akte reagierte er nicht, wenn man ihn ansprach, er redete wirr mit sich selbst und war unruhig, aber es gab auch Tage, an denen er reglos auf dem Stuhl saß und vor sich hin starrte, körperlich fehlte ihm nichts, er hatte nur Läuse und Krätze und Fußpilz, und nach einer kurzen Beobachtungsperiode im Feldlazarett von De Panne waren die Ärzte überzeugt, dass es sich nicht um einen Deserteur handelte, der seinen Wahnsinn nur vorspielte, um nicht an die Front zurückgeschickt zu werden, und sie brachten ihn in ein allgemeines Krankenhaus in Frankreich, das auf Nervenkrankheiten spezialisiert ist, und dort in Châteaugiron wurde er zunächst für einige Monate isoliert, und als er danach einigermaßen ansprechbar war, verordneten sie ihm eine Hydrotherapie mit abwechselnd trockenen und feuchten Wickeln, dann eine Badebehandlung, um sein Gehirn zu beruhigen, und er wurde tatsächlich ruhiger, aber erinnerte sich noch immer an nichts, also haben sie es mit Hypnose versucht, doch auch das brachte sein Gedächtnis nicht zurück, und nach Injektionen von Amobarbital, dem Wahrheitsserum, gab er nur Informationen preis, die nicht stimmen konnten, er behauptete nämlich, dass er siebzehn sei und im Krieg gefallen.

    Und dann war der Krieg vorbei, sagt Doktor de Moor, und er landete hier im Guislain-Gesticht, und dank des Einflusses von Ruhe und Regelmäßigkeit und Arbeitstherapie wurde er wieder ein Mensch, ein Mensch ohne Vergangenheit, aber ein Mensch. Und ich will nicht verschweigen, Frau Coppens, sagt Doktor de Moor, dass er auch hier mehrere ernsthafte Rückfälle erlitten hat und in den Unruhepavillon verlegt werden musste, das letzte Mal liegt noch kein Jahr zurück, ich möchte, dass Sie das alles mitbedenken.

    Und Noen traut sich vor lauter Scham nicht, sie anzusehen, der Mann, neben dem sie im Gewächshaus zwischen Tomaten und Trauben und Zitronen gesessen hat, der Mann, der sie auf so wundersame Weise glücklich gemacht hat, existiert nicht, sein Geist ist so deformiert wie der Körper des Mannes aus ihrem schlimmsten Albtraum, sie wird ihn sitzen lassen, ihn verraten, er hat zwar eine Frau, aber genau wie die Frau von Ferdinand und die von André wird sie ihren Mann nur einmal zur Osterkommunion besuchen, und er kann es ihr nicht verdenken.

    Und sie sagt zu Doktor de Moor, dass es Amand guttun werde, zu Hause in einer vertrauten Umgebung zu sein, in ihrer Stimme schwingt keine Furcht und kein Zögern mit, er sieht sie verblüfft an, Doktor de Moor und Superior Segers sind ebenfalls überrascht, und Doktor de Moor erklärt ihr, dass Noen an Neurasthenie leidet, und als sie darauf nicht reagiert, sagt er, im Volksmund nennt man das auch bekloppt, und sie nickt und erklärt, dass sie schon wisse, was das heiße, er ist krank vom Krieg, sagt sie.

    Und Doktor de Moor sagt, sie müsse sich darüber im Klaren sein, dass ein zu schneller Wechsel der Umgebung einen erneuten Rückfall heraufbeschwören könne, und sie schweigt, und Doktor de Moor sagt, dass er grundsätzlich eine Rückführung in sein altes Leben als Therapie für Noen empfehle, aber nicht auf der Stelle, erst kommen Sie ihn ein paar Monate lang besuchen, damit er Sie kennenlernt, dann nehmen Sie ihn einen Tag mit nach Hause, und wenn das gut geht, zwei Tage und dann drei, bis er sich so an sein Zuhause gewöhnt hat, dass es keine Umstellung mehr ist, und dann kann er zu Ihnen ziehen, aber das ist ein Prozess von Monaten, vielleicht von einem Jahr, sagt Doktor de Moor.

    Nein, sagt sie, nein, so will ich das nicht, und sie spricht leise und wagt nicht, Doktor de Moor dabei anzusehen, aber sie bleibt unnachgiebig, und Noen ist stolz auf sie, sie ist seine Frau, seine Frau, und zum ersten Mal begreift er, wie es ist, zu jemandem zu gehören, warum Menschen einander heiraten, wie es ist, eine Frau zu haben, die für einen einsteht, als ginge es um sie selbst, und was es heißt, nie mehr mit irgendetwas allein zu bleiben, solange sie bei ihm ist, würde er sich sicher fühlen.

    Und Doktor de Moor versucht ihr noch einmal zu erklären, was ihr mit ihrem Mann bevorsteht, aber sie sagt, dass sie Amand am besten kenne, und Doktor de Moor erzählt ihr von Noens ruhigem Tagesablauf in der Anstalt und dass ihm diese Ruhe guttue, und Sie leben in einer Stadt, sagt er, und je mehr er in sie dringt und sein medizinisches Fachwissen und seine männliche Überlegenheit gegen sie ins Feld führt, desto halsstarriger wird sie, ich bin die Frau von Amand Coppens, sagt sie, und die ist nie hier eingeliefert worden, und wenn ich jetzt mit ihm zur Tür hinausgehe, können Sie mich nicht aufhalten, und Doktor de Moor sagt, dass er dringend davon abrate, und er kann seine Verärgerung kaum noch verbergen.

    Und Superior Segers schlägt einen Kompromiss vor, sie könne ihn doch im Rahmen eines Probeurlaubs für einen Tag mit nach Hause nehmen, damit sie sehe, wie ihr das gefalle, und danach reden wir weiter, sagt er, und sie schweigt vielsagend dazu, und Superior Segers sagt, was ihn angehe, könne Noen auch eine Woche Probeurlaub bekommen, wenn sie ihn danach von Doktor de Moor untersuchen lasse, und wenn es ihm nicht gut gehe, müsse sie auch bereit sein, an einem schrittweisen Übergang von der Anstalt nach Zuhause mitzuarbeiten.

    Einen Monat Probezeit, sagt sie, und wenn es keine Probleme gibt, dann die endgültige Entlassung, und für Doktor de Moor ist das viel zu lang, und es komme auch zu plötzlich, aber Superior Segers stimmt ihrem Vorschlag unter der Bedingung zu, dass sie ihn nicht heute, sondern erst morgen mitnehme, damit er sich an den Gedanken gewöhnen könne, sagt Superior Segers, und mit einigem Widerstreben willigt sie ein, morgen früh um acht Uhr, sagt sie, während sie ihn fragend ansieht, und er nickt. Und als sie aufgestanden ist und Doktor de Moor und Superior Segers die Hand geschüttelt hat, steht sie verlegen vor ihm und sagt leise, morgen komme ich dich holen, und er sagt, er werde auf sie warten und die Minuten bis zu ihrer Ankunft zählen, und einen Moment lang glaubt er, hofft er, dass sie ihn wieder umarmen werde, aber sie gibt ihm nur die Hand, und die hält er zu lange in der seinen, so lange, dass sie lachen muss, auf Wiedersehen, sagt sie, und auf der Schwelle schaut sie sich noch einmal nach ihm um, und dieser Blick

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