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FreakOut: Eine Wahnsinnsgeschichte
FreakOut: Eine Wahnsinnsgeschichte
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eBook248 Seiten3 Stunden

FreakOut: Eine Wahnsinnsgeschichte

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Über dieses E-Book

Eine Journalistin quartiert sich in Sankt Georg ein. Ihr Auftrag: eine Reportage über das Institut zu schreiben, das hoffnungslose psychiatrische Grenzfälle betreut. Vera wird einer Gruppe von Patienten zugewiesen, deren Alltag sie zwei Wochen lang teilen soll – und nach anfänglicher Skepsis und zunächst eher widerwillig freundet sie sich schließlich mit der magersüchtigen Ylvi und den anderen „Freaks“ an.
Doch je wohler sich Vera in Sankt Georg fühlt, desto verstörender werden die Begegnungen mit dem rätselhaften roten Drachen: Er erscheint ihr immer und immer wieder – so lange, bis sie zu ahnen beginnt, dass es noch einen Grund geben muss, warum sie hier ist.

„Ein Roman, der einen auch lange nach dem Lesen nicht loslässt. Der es versteht, dunkle Kammern im Inneren des Lesers zu öffnen, von denen man glaubt – und hofft –, dass sie gar nicht da sind.“
Tanya Carpenter, Literaturportal LITERRA
SpracheDeutsch
Herausgeberred.sign Medien
Erscheinungsdatum5. Sept. 2014
ISBN9783944561301
FreakOut: Eine Wahnsinnsgeschichte
Autor

Barbara Imgrund

Barbara Imgrund, aufgewachsen in Kaufbeuren im Allgäu, studierte Neuere deutsche Literatur, Mediävistik und Komparatistik in München. Während des Studiums ließ sich die Tochter eines Arztes zur Schwesternhelferin ausbilden und arbeitete auf der Krebs- und Aidsstation eines Münchner Krankenhauses. Anschließend war sie einige Jahre als Lektorin in verschiedenen Münchener Verlagen tätig, bevor sie sich als Autorin, Übersetzerin, Lektorin und Schreibcoach selbstständig machte. Barbara Imgrund lebt und arbeitet in Heidelberg.

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    Buchvorschau

    FreakOut - Barbara Imgrund

    Barbara Imgrund

    FreakOut

    Eine Wahnsinnsgeschichte

    Coverfoto: @amplejs3 – Fotolia • Drachengrafik: Riverstudio – iStockphoto

    Barbara Imgrund

    FreakOut – Eine Wahnsinnsgeschichte

    Stuttgart 2014

    ISBN 978-3-944561-30-1

    Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    © Barbara Imgrund

    © 2014 red.sign media, Stuttgart

    www.redsign-media.de

    Für Mali,

    die wie der rote Drache

    gerade zum richtigen

    Zeitpunkt

    kam

    Wahrlich, keiner ist weise,

    Der nicht das Dunkel kennt,

    Das unentrinnbar und leise

    Von allen ihn trennt.

    Hermann Hesse

    Prolog

    Eine Geschichte ist eine Geschichte ist eine Geschichte.

    Zuerst ist sie nur ein Gedanke, klein und unscheinbar und noch gar nicht des Erzählens wert. Doch dann, wenn es Zeit dazu ist, wachsen ihm Flügel, er weiß selbst nicht wie, und ehe man sich’s versieht, erhebt er sich in die Lüfte und wird ein großer bunter Schmetterling, der sich im Wind wiegt und Stürmen trotzt. Suchend gleitet er über ferne Meere, Länder und Himmel, um irgendwo noch einen Schmetterling zu finden und noch einen Gedanken, der zu ihm passt. Denn zusammen werden sie der Beginn dieser Geschichte sein. Und ein wenig später sind es schon drei und vier, die miteinander flattern, und alsbald noch viel mehr, bis sich Flügel an Flügel reiht und eine Geschichte aus Schmetterlingen geboren ist mit einem Anfang und einem Ende und allem, was dazwischen liegt.

    Doch dieser schillernde Tanz aus Gedanken und Schmetterlingen ist nicht das einzige Wunder, das die Geschichte vermag. Nun will sie erzählt werden, damit sich ihr Schicksal erfüllen kann. Denn dies ist ja ihr einziger Zweck: erzählt zu werden und selbst zu erzählen. Wie dies geschieht, ist ihr indes vollkommen einerlei. Es gibt hundert verschiedene Arten, das zu tun, und längst hat sie sich daran gewöhnt, dass sie sich kein einziges Mal gleich anhört. Tatsächlich erkennt sie sich zuweilen fast nicht wieder, weil hier ein Schmetterling davongeflogen ist und dort sich ein fremder hinzugesellt hat und alle nun kunterbunt durcheinander schaukeln. Aber darum ist sie doch nicht weniger sie selbst. Richtig oder Falsch kümmern sie kaum; genau genommen gibt es ja weder das eine noch das andere. Als das, was sie ist: eine Geschichte aus vielen, vielen Schmetterlingen, ist sie stets wahr. Es kommt nur auf den Blickwinkel an. Er ist der Schlüssel zum Schloss. Und er öffnet die Tür.

    1

    Der Blick schweift über Wiesen und bewaldete Hügel, streift den See, der glatt wie ein Tuch daliegt, und schwenkt hinüber zu den beiden weißen Gebäuden. Verheißungsvoll leuchten sie noch einmal in der Abendsonne auf, als stünde das irgendwo im Anstaltsprospekt. Friedlich ist es hier und still.

    Beim Näherkommen zeigt sich der hohe Zaun, der das Gelände bis hinunter zum See umgibt, durchbrochen nur durch ein Tor. Es ist aus Schmiedeeisen und schlicht, doch es verrät Geschmack. Als es sich wenig später hinter der Besucherin schließt, ist ihr für einen Moment nicht ganz wohl dabei. Dann fällt ihr Blick auf das bunte Hochglanzpapier, das sie in Händen hält. Willkommen in Sankt Georg.

    Sie starrte auf den Monitor, auf dem der schwarze Balken nach dem letzten Punkt blinkte. Erwartungsvoll. Er wollte mehr. Alle wollten sie mehr. Immer. Und sie hatten ja Recht: Da schlummerte noch so viel Weiß unbeschrieben in den Tiefen des Laptops. Eine Wüste von Weiß. Selbst wenn sie ab jetzt nichts anderes mehr tat, als nur noch zu schreiben, für den Rest ihrer Tage, ein ganzes Leben lang – sie würde doch niemals ans Ende des Weiß gelangen. Es wäre noch immer da. Hinter jedem Wort, hinter jeder Zeile. Bis in alle Ewigkeit.

    Das Poltern eines Gegenstandes, der in dem Zimmer über ihr zu Boden fiel, riss sie aus ihren Gedanken; gleich darauf war es wieder still. Sie schüttelte den Kopf, auch um den kleinen nagenden Schmerz darin loszuwerden, fragte sich ebenso verwundert wie beiläufig, ob der Geist des Hauses schon jetzt, nach kaum einer Stunde, auf sie abfärbte, und vertiefte sich wieder in die wenigen Sätze, die sie vor ein paar Augenblicken geschrieben hatte.

    Ich weiß nicht. Das kann ich besser. Es wirkt so blutleer. Wie schon mal gelesen. Solche Artikel überblättert man doch gleich. Dabei haben sie früher meinen Stil so gelobt: nichts zu viel und nichts zu wenig. Aber das hier ... Ich habe nur eine Ausrede – mir fehlt die Übung in letzter Zeit. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie man gute Texte schreibt. Manchmal ist es schwierig, sich diese Dinge ins Gedächtnis zu rufen. Diese und andere. Aber das wird schon werden. Ganz bestimmt. Ich bin doch eben erst angekommen. Und gesehen habe ich schließlich auch noch nicht viel. Nun, zwei Wochen sind lang, und sie haben gerade erst begonnen ...

    Ja, jetzt bin ich hier. Also gut. Noch einmal von vorn.

    Alles hatte damit angefangen, dass ihr ein Dämon im regennassen Fenster erschienen war. Es war einer von der unfreundlichen Sorte, dessen Fratze an der Scheibe zerfloss und rote Schlieren auf dem Glas hinterließ. Noch lange, nachdem er verschwunden war, hallte sein böses Fauchen in ihrem Kopf wider. Zuerst dachte sie an Überarbeitung. Dann, als die Erscheinung immer häufiger wiederkehrte und sich dort im Fenster häuslich einzurichten schien, wurde sie unruhig. Und zuletzt, nach dem 87. Mal, wie sie aus ihrem Tagebuch wusste, ließ sie sich einweisen.

    Wieder Innehalten. Wieder Kopfschütteln. Sie überflog den Absatz, aber auch jetzt war sie nicht zufrieden. So wurde das nichts. Sie konnte doch nicht über etwas schreiben, von dem sie nichts wusste. Das hatte sie noch nie getan. Wirklich nicht. Bei ihrer Journalistenehre.

    Ich sollte es einfach für heute gut sein lassen. Es wird mir schon etwas einfallen, wenn ich erst ein paar von den Patienten kenne. Und mit dem Arzt gesprochen habe. Morgen früh treffe ich ihn. Wie heißt er doch gleich? Moment, wo ist denn der Brief? Da … Doktor Morus. Komischer Name. Nur einen Buchstaben entfernt von Morbus: Krankheit. Vielleicht muss man ja so heißen, wenn man es mit lauter Irren zu tun hat.

    Meine Güte, was denke ich hier eigentlich? Und was tue ich hier eigentlich?

    Sie stand auf, ging zu ihrer Handtasche, die auf dem Bett neben dem halb ausgepackten Koffer lag, und wühlte darin nach den Zigaretten. Nach einigem Suchen fand sie ganz zuunterst das zerknüllte Päckchen, in dem auch das Feuerzeug steckte. Sie seufzte erleichtert. Während sie ans Fenster ging, fingerte sie eine Zigarette heraus, steckte sie zwischen die Lippen und ließ das Feuerzeug aufschnappen. Draußen eine regentriefende, dämmernde Welt. Wunderbar trostlos, ganz so, wie es sich für den Tag der Anreise gehörte.

    Dann, kurz vor dem Anstecken, fiel es ihr wieder ein: Rauchverbot. In allen Räumen. Außerdem kein Alkohol. Und – natürlich! – keine Drogen.

    Sie lachte leise, klappte das Feuerzeug zu und nahm die Zigarette wieder aus dem Mund. Halb so schlimm. Dann eben nicht. Sie war keine Sklavin des blauen Dunstes. Aber es wirkte doch eine Spur zu ärgerlich, als sie Zigarette und Feuerzeug wieder ins Päckchen zurückstieß.

    Das fängt ja gut an. Willkommen in Sankt Georg. Willkommen in der Klapsmühle.

    2

    Am anderen Morgen wurde ihre Tür eingetreten. So hörte es sich wenigstens an. Aber es war nur der Weckdienst, der reihum anklopfte. „Guten Morgen, brüllte es von draußen geradewegs in ihr pochendes Hirn. „Aufstehen! Frühstück!

    Sie ächzte und vergrub das Gesicht im Kissen. Ihr Herz schlug wie wild.

    Sind die denn verrückt geworden?

    Dann erinnerte sie sich wieder.

    Natürlich. Sonst wären sie ja nicht hier.

    Sie hob den Kopf und lauschte der Parole nach, die sich den Gang hinunter entfernte. Aus den anderen Zimmern hörte sie nichts. Wahrscheinlich kämpfte man dort ebenso gegen den lähmenden Schrecken, wie sie es tat.

    Sie blieb noch einen Augenblick liegen, um zu sich zu kommen. Dies war wieder ein Kopfschmerzmorgen, links in der Schläfe, wo die Narbe saß. Ganz oben im Hals konnte sie ihren Herzschlag spüren. Jetzt nur nicht zu schnell aufstehen. Langsam wühlte sie sich aus dem Bettzeug und setzte sich auf. Ihr Blick wanderte zum Fenster hinüber. Keine Rollläden, keine Jalousien, nur cremeweiße Vorhänge, die jeden Fetzen Tageslicht hereinließen. Ob das therapeutische Zwecke hatte? Damit nur ja keine Trübsal aufkam? Depressionsverhütung? Immerhin dienten sie als Sichtschutz. Das zweite Gebäude stand nahe genug, dass man in ihr Fenster sehen konnte. Wer weiß, am Ende gab es unter all den Freaks hier auch ein paar Voyeure?

    Noch immer Herzklopfen, jetzt aber schon ruhiger. Ihr Blick wanderte durch das kleine Zimmer. Nun, da die Herbstsonne wieder schien und sanft durch die Vorhänge hereinfloss, sah alles schon viel freundlicher aus. Man musste sich nur die Gitter vor den Fenstern wegdenken. Das Ganze hatte Geschmack, das war nicht zu leugnen. Klapse de luxe für die ganz hoffnungslosen Fälle. Die Austherapierten. Parkett am Boden, in der Mitte des Raums ein flauschiger Läufer, darüber zartes Orange an der Wand (das sich im Badezimmer bis in die Fliesen hinein fortsetzte). Sicherlich hatte man diesen Ton nach den neuesten farbpsychologischen Erkenntnissen ausgewählt. Dazu runde Türknäufe, keine Klinken, auch keine Schlösser. Kommt nur alle herein, wer braucht schon so etwas wie Privatsphäre? Scharfe Ecken und Kanten ebenfalls Fehlanzeige. Stuhl, Tisch und Bett – alles aus lackiertem Buchenholz – waren am Boden festgeschraubt. Am Kopfende des Bettes in die Wand eingelassen ein Knopf, mit dem man Hilfe herbeirufen konnte. Wenn man sie denn wollte. Schwere Zeiten für Selbstmörder.

    Ihr fiel die Spirale an ihrem Notizblock ein. In die lederne Schreibmappe hatten sie bei der Inspektion an der Pforte nicht gesehen. Vergessen, wie die Zigaretten und das Feuerzeug. Anfängerfehler, dachte sie verächtlich. Aber wer weiß, wozu sie das Ding noch brauchen konnte. Vielleicht würde sie ja einmal ausbrechen und die Gitterstäbe durchfeilen müssen? Sie grinste flüchtig, hielt sich aber weiter am Bettrand fest.

    Ich sollte es sportlich nehmen. Nun bin ich schon mal hier. Die Reportage hätte ja auch jemand anders schreiben können. Aber sie haben eben mich geschickt. Und deshalb werde ich mich nicht darum drücken. Außerdem muss es hier doch jede Menge zu erzählen geben. Das Abendessen gestern war immerhin schon recht viel versprechend.

    Das Hämmern in ihrem Hals war nun so schwach geworden, dass ihr nicht mehr schwindelte. Auch das Brennen in der Schläfe klang allmählich zu einem dumpfen Druck ab. Sie stand langsam auf. Gut, das gelang, das Zimmer drehte sich nicht mehr. Dann ging sie zum Fenster hinüber. Sie brauchte noch mehr Licht, Licht, Licht, sonst konnte sie nicht denken. Als sie die Vorhänge beiseite zog, schwappte die Sonne vollends herein. Es war eine warme Woge, die sie überflutete, und im ersten Augenblick fürchtete sie ein wenig, dass sie darin ertrinken könnte. Geblendet schloss sie die Augen und atmete tief in das Gelb hinein.

    Während sie den Morgen an sich abperlen ließ, dachte sie an den gestrigen Abend. Sie versuchte sich zu erinnern. Zugegeben, das fiel manchmal ein wenig schwer. Aber eigentlich nur bei den Dingen, die weiter zurücklagen als gestern oder vorgestern oder letzte Woche. Journalistenkrankheit.

    Die Patienten. Die Irren: Beim Abendessen hatte sie sie zum ersten Mal gesehen. In Sankt Georg war alles streng geregelt, auch die Mahlzeiten. Das wusste sie aus der Hausordnung, die man ihr bei der Ankunft ausgehändigt hatte. Vielleicht fühlten sich hier ja alle wohler mit so einem Blatt Papier, das ihnen sagte, dass abends um zweiundzwanzig Uhr das Licht in den Zimmern gelöscht werden musste, dass Besuche von auswärts nur nach Anmeldung und auch dann nur am Sonntag erlaubt und spitze, scharfe oder anderweitig gefährliche Gegenstände ausnahmslos untersagt waren.

    Ob man sich auch an Verboten und Vorschriften festhalten kann, wenn innen drin alles zusammenbricht? Oder warum sind sie hier so wild darauf? Und wieso stehen dann nicht auch hochhackige Schuhe auf dem Index?

    Selbst ihr hatte man den Füllfederhalter an der Pforte abgenommen. Es war zwar schwer vorstellbar, welchen Schaden ein kleines Schreibutensil anrichten konnte, aber sie hatte sich gefügt und es der Hausdame übergeben; wie den Gürtel übrigens auch. Gegen Quittung natürlich. Den Laptop hatte man ihr immerhin gelassen, mit extrakurzem Kabel natürlich. Damit sich keiner von den Freaks strangulieren konnte. Man hatte ihr zu verstehen gegeben, dass es keinen Sonderstatus für sie geben werde; natürlich, denn sie durfte ja niemanden gefährden. Und so war sie auch zum Abendessen gegangen, wie es die Hausordnung befahl: Denn zu den Mahlzeiten hatten alle, Personal wie Patienten, im Speisesaal zu erscheinen. Ob sie nun hungrig waren oder nicht.

    Wahrscheinlich ein getarnter Zählappell. Damit sie wissen, dass noch alle da sind. Und am Leben.

    Sie hatte sich auf mancherlei gefasst gemacht: auf Menschen mit sonderbarem Aussehen und sonderbarem Verhalten, obwohl sie selbst nicht so genau wusste, was sie sich darunter vorstellen sollte. Doch zumindest auf den ersten Blick wurde sie enttäuscht. Niemand tat ihr den Gefallen und warf mit Tellern um sich, führte befremdliche Reden, ahmte Vogelstimmen nach oder wackelte irren Blickes mit dem Kopf. An den fünf großen runden Esstischen, die locker im Saal verteilt waren, saßen durchweg Menschen, die sich offenbar benehmen konnten. Und was sie mindestens ebenso erstaunte: Patienten und weißbekittelte Ärzte Seite an Seite.

    Die Hausdame, eine in unscheinbares Braun gekleidete, dunkelblonde Frau um die Fünfzig, die man allenthalben nur Theresa nannte, hatte sie zu ihrem Tisch geführt. Im Widerspruch zu der Tatkraft, mit der sie auftrat, stand ihr eigenartig sanftes Gesicht, von dem man sich nur schwer losreißen konnte. Man fühlte sich irgendwie zu Hause darin, auch wenn man nicht wusste warum. Als Theresa voranging, drehte sie sich halb zu ihr um und lächelte ihr aufmunternd zu. „Damit Sie gleich Ihre Gruppe kennen lernen. Leider hat Doktor Morus heute Abend keinen Essensdienst. Sie treffen ihn morgen."

    Soso. Essensdienst.

    Theresa ignorierte ihren Blick und wandte sich an die Gesellschaft, die am Tisch saß. Es waren zwei Männer und drei Frauen. „Herrschaften, ich möchte euch ein neues Gruppenmitglied vorstellen. Ich hoffe, ihr kümmert euch gut um sie und helft ihr beim Eingewöhnen. Sie machte eine kleine Pause. „Cedric?

    Wie auf ein Zauberwort hin schienen alle zu erstarren. Ihre Blicke richteten sich auf einen älteren Mann von auffallend geringer Körpergröße, der mit am Tisch saß. Männchen wäre wohl der treffendere Ausdruck gewesen. Er hatte einen nahezu kahlen Schädel, auf dem nur hier und da ein paar aschblonde Stoppeln wuchsen; außerdem wirkte er ein wenig unförmig und ertrank fast in einem viel zu großen, blaukarierten Hemd. Sein Alter ließ sich schwer schätzen – möglicherweise hatte er die Fünfzig bereits überschritten, ebenso gut konnte er aber auch viel jünger sein. Die Arme schlaff an den Seiten, als gehörten sie gar nicht zu ihm, saß er vornübergebeugt da und wiegte sich vor und zurück; es klimperte jedes Mal leise, wenn sein Hemdknopf an den Teller stieß. Mit dem beklecksten Lätzchen, das am Kragen festgesteckt war, sah er wie ein unartiges Kleinkind aus. Er zeigte mit keiner Regung, dass er auch nur ein Wort gehört oder überhaupt etwas außerhalb seiner selbst wahrgenommen hatte, noch, dass er jemals dazu in der Lage gewesen war. Sein Blick verkrallte sich in seinen Teller. Aber eigentlich war er auf irgendetwas tief in seinem Innern gerichtet.

    Dann öffnete das Männchen namens Cedric den Mund, ohne das Pendeln zu unterbrechen oder auch nur den Blick zu heben. „Vera heißt sie, stieß es tonlos hervor, als wäre es in großer Eile. „Sie heißt Vera ... Vera heißt die Maus ... Vera ... Jajaja … Ihr Name ist ... Vera.

    Ein unmerklicher Ruck ging durch die Tischgesellschaft, ein tiefes Aufatmen, erlöst, wie wenn man sehr lange auf etwas gewartet hätte. Endlich war ein uralter Zauberbann gebrochen, so schien es. In der Runde nickte man sich fast erleichtert zu und wiederholte einer nach dem anderen halblaut Veras Namen. Er flog von Mund zu Mund wie eine Beschwörungsformel, die nur Eingeweihte wissen konnten.

    Dies war sehr seltsam. Sie fühlte, dass sie nicht dazugehörte; auch das leise Brennen in ihrer Schläfe flüsterte davon. Vera presste die Hand dagegen, doch es wollte nicht verstummen. Merkwürdigerweise entschloss sich die Zeit, gerade in diesem Augenblick stehen zu bleiben. Ganz ohne Vorankündigung gefror sie, mitten in der Bewegung, und mit ihr gefroren alle Personen im Raum, alle Stimmen und Geräusche, alle Erinnerungen und Gedanken, alles, was gewesen war, und alles, was jemals sein würde. Das Leben hielt inne, als hätte jemand die Filmvorführung unterbrochen. Sonderbar sah das aus – wie ein bunter Bilderbogen, den eine große Schere entzweischnitt. Fast konnte man meinen, die Welt beginne erst jetzt, dort, wo die Schere angesetzt hatte, und alles, was davor lag, sei nie geschehen. Sei nicht einmal gedacht worden.

    Der Schnitt durch die Zeit ging ganz glatt und schnell. So schnell, dass es niemand außer Vera bemerkte. Als der Moment vorüber war, blickte sie verstohlen zu den anderen Tischen. Aber dort schenkte man ihnen und der verlorenen Zeit keine Beachtung.

    Wo bin ich hier gelandet? Was ist das? Eine Initiation? Irgendein Freakritual? Muss ich jetzt auch durchdrehen? Irgendetwas sagen oder pfeifen oder auf einem Bein stehen? Am besten halte ich mich an diese Theresa. Sie gehört auch nicht zu denen. Wie ich. Wenn sie nichts dabei findet, dann werde ich auch so tun, als wäre alles in Ordnung. Aber woher weiß das Männchen meinen Namen? Und warum nennt es mich eine Maus?

    Theresa zwinkerte ihr vertraulich zu, wobei völlig unklar blieb, was sie damit sagen wollte. Dann wies sie Vera den einzigen leeren Platz am Tisch zu. „Na bitte. Auf Cedric ist Verlass. Er kennt sich aus mit Namen. Vera setzte sich, und Theresa half ihr, den Stuhl zurechtzurücken. „Er muss nur jemanden ansehen, und schon weiß er, wie er heißt. Er hat sich noch nie geirrt.

    „Aber er hat mich doch gar nicht angesehen", wandte Vera ein, während sie die Serviette von ihrem Teller nahm. Die anderen taten so, als ginge sie diese Unterhaltung längst nichts mehr an, und wandten sich wieder ihrer Mahlzeit zu.

    Theresa lächelte wieder. „Vielleicht nicht so, wie Sie es erwartet haben. Sie ging zu Cedric hinüber und stopfte sein Lätzchen zurück in den Kragen, was ihn ein wenig beim Pendeln störte. Aber es war für ihn anscheinend nicht Anlass genug, sich vom Anblick seines Tellers loszureißen. „Glauben Sie mir: Er sieht sehr viel – auf seine Art. Eigentlich alles. Und oft mehr, als einem recht sein kann. Nicht wahr, Cedric? Sie kraulte ihm den Nacken, ohne dass er mit der Wimper zuckte. Allerdings meinte Vera, den Anflug eines winzigen Lächelns um seinen Mund zu bemerken.

    Die Hausdame ließ von Cedric ab. Sofort erlosch sein Lächeln oder das, was Vera dafür gehalten hatte. „Sie werden schon noch selbst darauf kommen. Wenn Sie ihn einmal besser kennen."

    „Ich kann es kaum erwarten", erwiderte Vera mit der größten Begeisterung, die ihr zu

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