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Flucht aus Babylon
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eBook368 Seiten4 Stunden

Flucht aus Babylon

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Über dieses E-Book

Der dreissigjährige Eddie Springer hat in seinem Leben noch nichts erreicht, ausser in möglichst viele Fettnäpfchen zu treten. Die einzige Konstante in seinem Leben ist sein Arbeitgeber, der ihm seit der Lehrzeit in regelmässigen Abständen kräftig in den Hintern tritt. Eines Morgens hat Eddie die glorreiche Idee, mit einem Weltrekord im Dauerfernsehen endlich durchzustarten. Aber statt Berühmtheit zu erlangen, wird er von seinem Chef auf die Strasse gesetzt. Zusammen mit »Puppe«, seiner besseren Hälfte, entschliesst Eddie sich daraufhin zu einer Weltreise, auf der er Kraft für ein neues, besseres Leben schöpfen will. Sie starten in Mexiko und finden sich in einer surrealen Welt wieder, die mit verqueren Desperados, korrupten Gesetzeshütern und gruseligen Hotels nur so gespickt ist. Das alles wäre ja noch recht amüsant, doch dann wird Eddie plötzlich ernsthaft krank...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum2. Juli 2015
ISBN9783738671728
Flucht aus Babylon
Autor

Stefan Kämpfen

Stefan Kämpfen wurde 1976 in Luzern, Schweiz, geboren. Bereits als Kind liebte er es, mit der deutschen Sprache zu experimentieren, was ihn später dazu veranlasste, sich zum Werbetexter und Fachjournalisten ausbilden zu lassen. Kämpfen schreibt/schrieb als Journalist für die Luzerner Rundschau, Zentralplus, die Wochenzeitung WoZ sowie für die Reise-Magazine »Hin & Weg« und »Reise & Preise«. Vom Autor wurden bisher die Romane »Flucht aus Babylon« und »Machos, Macheten & Mojitos« veröffentlicht. Wenn der passionierte Schreiberling nicht gerade an Texten feilt, erkundet er fremde Länder und Kulturen auf allen Kontinenten. Egal ob er mit dem Helikopter über die Berge von Kaua'i fliegt, auf einem Kutter zu den Galapagos-Inseln segelt, mit dem Heissluftballon über die Pagoden von Bagan schwebt oder mit Weissen Haien in Südafrika taucht, - es gibt fast nichts, was der Globetrotter nicht ausprobiert hätte. Die gemachten Erfahrungen in mittlerweile rund 60 besuchten Staaten nehmen auch in seinen Geschichten eine gewichtige Rolle ein. Mehr Informationen über das Buch und den Autoren unter www.stefan-kaempfen.jimdo.com

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    Buchvorschau

    Flucht aus Babylon - Stefan Kämpfen

    Stefan Kämpfen wurde 1976 in Luzern, Schweiz, geboren. Schon als Kind fiel ihm auf, dass man nicht nur mit Spielsachen, sondern auch mit Sprache experimentieren kann. Fortan nützte er jede freie Minute, um sein Umfeld mit Berichten über Stars und Sternchen aus der Welt des Sports in selbst gebastelten Magazinen zu unterhalten. Geprägt wurde er vom Verschlingen Dutzender Jugendkrimis, die ihn motivierten, bereits früh selbst kriminalistische Kurzgeschichten zu schreiben. Auch als Erwachsener blieb er seiner Liebe zur Sprache treu, ließ sich in Deutschland mit Bestnote zum Werbetexter ausbilden und schreibt als Journalist für eine renommierte Schweizer Wochenzeitung. Wenn er nicht gerade an Texten feilt, erkundet der passionierte Globetrotter fremde Länder und Kulturen. Die gemachten Erfahrungen in mittlerweile fast 60 besuchten Staaten nehmen auch in seinen Geschichten eine gewichtige Rolle ein.

    Mehr über den Autor und seine Bücher:

    www.stefan-kaempfen.jimdo.com

    Für:

    Gabriella, Sergio, Theo (†)

    Inhalt

    Prolog

    The Rocky Horror Picture Show

    La Cucaracha

    Eier legende Wollmilchsau

    Der Spießrutenlauf

    Kultur, Kaffee und K.o.

    Der doppelte Kater

    Weltrekordversuch

    Die Rückkehr eines Teufels

    Der ganz normale Wahnsinn

    Viele, viele bunte Smarties …

    Nur Fliegen ist schöner …!

    Von Koks und Kalaschnikows

    Don Quijote versus Fata Morgana

    Mulegé

    Walgesänge

    Grenzgänger

    Hotel California

    Ein folgenschwerer Abstecher

    Danksagung

    It’s a long road out of Eden

    Die verhängnisvollsten Wochen meines Lebens

    Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.

    – Rainer Maria Rilke –

    Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere

    Pläne zu machen.

    – John Lennon –

    Die wahre Lebensweisheit besteht darin, im Alltäglichen das

    Wunderbare zu sehen.

    – Pearl S. Buck –

    Prolog

    Den einzig klaren Gedanken, den ich noch fassen kann, während mich mehrere kräftige Hände in ein wartendes Taxi bugsieren, gilt der Hoffnung, nicht in dieser scheußlichen Kloakenstadt zu sterben. Mein Organismus versucht, die kaum erträglichen Schmerzen mit eiligst ins System gestreuten Endorphin-Bomben zu vernebeln - leider ohne Erfolg.

    Mein Magen fühlt sich an, als hätte ich ein riesengroßes Wollknäuel mit Tausend kleinen Nadeln geschluckt, die sich jetzt über die Blutbahnen im gesamten Körper verteilen. Ich fühle das brodelnde, pulsierende Epizentrum gleich hinter meinem Bauchnabel, das in den nächsten Minuten zu explodieren droht. Im Geiste wiederhole ich ein stummes Gebet, während der in den Reggae-Farben Rot, Gold und Grün gehaltene Busbahnhof von Belize City aus meinem Blickfeld verschwindet.

    Das Taxi rumpelt an offenen Abwasserkanälen vorbei, direkt ins Herz des dunklen Sündenpfuhls, dessen Fassadenkonturen sich alles andere als verheißungsvoll in den nächtlichen Himmel erheben. Mein Schicksal liegt einzig und allein in den fürsorglichen Fingern von Julia, die sich vom Taxifahrer aus El Salvador ein günstiges, zentral gelegenes Hotel aufschwatzen lässt. Obwohl sich das vorgeschlagene Objekt mit dem Namen Downtown als übler Bretterverschlag entpuppt und stark an einen abgetakelten, alten Puff erinnert, nehmen wir das Angebot dankend an.

    Schließlich haben wir keine Zeit zu verlieren: Ein Menschenleben steht auf dem Spiel! Mit keuchendem, schwerem Atem erklimme ich die ersten Stufen einer eierschalenfarbenen Holzveranda, die mit allerhand unästhetischen Eisenrohren und Wellglas bestückt ist. Ich bekunde größte Mühe, den sich scheinbar in tiefster Narkose befindenden Hund und die überall aufgestellten Vasen mit den überquellenden, fleischigen, giftgrünen Blättern zu überwinden.

    Das Glockenspiel an der federleichten Eingangstüre scheucht eine gebürtige Chinesin, die sich uns als Miss Kenny vorstellt und die als eine Art Concierge fungiert, aus dem benachbarten Lebensmittelladen. Sie erkennt meine prekäre Situation sofort und nimmt mir den bleischweren, mit dunklen Schweißflecken gesprenkelten Rucksack ab, den ich vorher mit lautem Getöse hinter mir über die Veranda gezogen habe.

    »Sie haben Glück, wil haben noch zwei Zimmel flei.« Mit einem Nicken ihres mondrunden Kopfes deutet sie uns an, die beiden Räume zu begutachten, die sich gleich zu Beginn eines langen Ganges gegenüberstehen. Das Zimmer zu unserer Linken ist ein dunkles Kabäuschen, das einem muffigen Kellerverlies ähnelt. Die etwa hundezwingergroße Kammer wird von einem roh gezimmerten, in die Höhe gebauten Doppelbett dominiert. Der Gang in der Breite eines Fahrradlenkers bietet gerade mal genug Platz, um uns beide und unsere Rucksäcke unterzubringen.

    Das zweite Zimmer in Form eines Quadrats erfreut die desillusionierten Betrachter mit einer vernarbten Holzkommode, einem windschiefen Stuhl und einem breiten Bettrahmen ohne Matratze. Der Lattenrost beherbergt zwei ganze und eine gebrochene Leiste. Miss Kenny bemerkt unsere fassungslosen Blicke und versichert beflissen, sofort eine bequeme Matratze sowie das dazugehörende Bettzeug zu organisieren, sollten wir die Güte haben, uns für dieses Kleinod zu entscheiden. Wenig später liege ich, alle viere von mir gestreckt, auf dem neu arrangierten Bett wie eine aufgebahrte Leiche auf einem Katafalk. Die individuell gestaltete Pritsche mussten wir selber beziehen.

    Die restliche Energie, die meinen verschwitzten, von Krämpfen heimgesuchten Körper durchströmt, brauche ich, um mit dem Schicksal zu hadern, das mir in der Stunde der Agonie einen solch unwürdigen Ort zum Sterben bereithält. Derweil versucht Julia mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die ominöse Krankheit, die mich so unvermittelt und heftig wie ein ausgerückter Bienenschwarm überfallen hat, in den Griff zu kriegen. Doch Aspirin, Wadenwickel und gutes Zureden helfen nicht weiter.

    »Was hast du dir da nur eingefangen?«, murmelt sie in sich hinein. »Ist das die viel zitierte Rache des Montezuma?« Ich kann nicht antworten, da sich in diesem Moment ätzende, übel riechende Magensäfte daran machen, meine Speiseröhre zu fluten. Mit zittrigen Händen halte ich mir den Mund zu, um nicht zu einem menschgewordenen, orgiastisch spritzenden Springbrunnen zu mutieren.

    Verzweifelt versuche ich, das zittrige Bündel, das einst ein gesunder Körper war, in die Senkrechte zu bringen, was mir nur mithilfe Julias kräftiger Arme gelingt. Ein paar Sekunden lang bleibe ich wie ein neugeborenes Fohlen auf meinen stelzenartigen Beinen stehen und setze mich dann mit der Geschmeidigkeit eines Marionetten-Pinocchios in Bewegung.

    »Warte! Ich komm mit!«, ruft mir Julia hinterher, doch ich stolpere bereits wie ein wahnwitziger Nachtwandler durch den Flur und lehne meinen sackartigen Körper an die Tür der nahegelegenen Toilette. Ein ungefiltertes Duftgemisch aus Chlor, Industriereiniger und Pisse kreucht meine Nasenwände empor, was eindeutig inkontinenzfördernd ist. Mit einem lauten Schwall erbreche ich die scheußliche Bakterienbrühe in die Kloschüssel. Aus den Augenwinkeln erspähe ich eine daumengroße Kakerlake, die sich angesichts dieses bestialischen Gestanks in einen kleinen Spalt in der Täfelung verzieht.

    In diesem Moment wünsche ich mir, mich in eine solche Schabe verwandeln zu können, denn die sind so robust, dass sie schon seit über 300 Millionen Jahren existieren und sogar Atombombentests überleben. Wenn das mit mir in diesem Stil weiterging, würde ich mich bald aus der Vogelperspektive im Bad stehen sehen, so gekrümmt und hässlich wie Gollum aus Herr der Ringe, und mich entweder vor lauter Schreck oder vor lauter Lachen gleich selbst ins Jenseits befördern. Die letzten 24 Stunden haben mich um Jahrzehnte altern lassen: Zurück in unserem Kämmerchen muss Julia mir wie einem Greis in die Schlafklamotten helfen.

    Du bist noch zu jung für den Sterbeflanell, höhnt eine Stimme in meinem Kopf. Da das Erbrechen keine fühlbare Linderung gebracht hat, versuche ich, unter den besorgten Augen Julias, der vertrackten Situation mit einer von mir selbst verschriebenen Lese- und Schlaftherapie zu entkommen. Doch der Frieden ist nur von kurzer Dauer. Just in dieser Nacht beschließen die sonst nicht gerade an Arbeitswut leidenden Straßenarbeiter von Belize City, zwei Blocks weiter einen neuen Abschnitt der Hauptstraße mit ihren Teerwalzen und Bulldozern zu bearbeiten. Kurz nach 1 Uhr verstummen die Maschinen und was übrig bleibt, sind Einschlafschwierigkeiten und rote Kissenabdrücke an den Ohren.

    Später in der Nacht rotten sich ganze Horden von Straßenkötern hinter unserem Gebäude zusammen und bellen sich die Hundeseele aus ihrem Leib. Die traumatische Bellorgie dauert bis in die frühen Morgenstunden und wird bei aufgehender Sonne von der Kakofonie schreiender Kinder in Schuluniform abgelöst, die sich mit brachialer Gewalt Zugang zur nahegelegenen Schule verschaffen. Tiefe, dunkle Augenringe haben sich in der Nacht um meine andauernd schreckgeweiteten Augen gebildet. Unfähig, mich zu bewegen und zu müde um einzuschlafen, starre ich gedankenleer einem neuen albtraumhaften Tag entgegen.

    The Rocky Horror Picture Show

    Auf unserem Planeten scheint die totale Langeweile ausgebrochen zu sein: überall grauer Alltagstrott und ewiges Spießertum. Zumindest haucht das gerade die Mittagsmoderatorin mit ihrer erotischen Stimme aus meinem roten zerbeulten Transistor-Radio in mein Ohr. Der Leiter der russischen Gesundheitsbehörde rät seinen trinkfreudigen Landsleuten, während der gesetzlichen Ferien nicht im Übermaß dem Alkohol zu frönen, da jenes Lieblingshobby der Zaren aus dem fernen Osten jedes Jahr 80 000 Todesopfer fordert.

    Bei über 2 Millionen Alkoholkranken scheint hier der Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Ein verschärfter Wodka-Entzug ist für einen hundsnormalen Russen ungefähr vergleichbar mit den Leiden eines Italieners, der gezwungen ist, auf seine geliebte Pasta zu verzichten - undenkbar! Wie auch immer, heute überschlagen sich die spannenden Räubergeschichten. Thema des Tages: die Schlafprobleme des Otto Normalverbrauchers. Frage des Tages: Ist Schnarchen wirklich gefährlich? Vor lauter Enthusiasmus ringe ich mir ein müdes Gähnen ab. Nicht die üblichen Nachrichten von zerstörerischen Verschiebungen der Kontinentalplatten, die verheerende Erdbeben in Indonesien auslösen, von Tsunamis, die über Sri Lanka rollen, von Ausbrüchen isländischer Vulkane, deren Namen kein vernünftiger Mensch aussprechen kann, kein Erdrutsch in Guatemala, keine Drogentoten in Kolumbien, keine Ölpest im Golf von Mexiko. Ja, sogar zwischen den Israelis und den Palästinensern wurde ausnahmsweise kein Geschirr zerschlagen.

    Was ist nur los mit der Menschheit? Nicht mal einen Tunneldurchschlag haben die zu verzeichnen, obwohl das in letzter Zeit geradezu in Mode gekommen ist. Es müssen ja nicht gleich fünfzig Minenarbeiter verschüttet und wieder gerettet werden, aber an die heilige Barbara, die Schutzpatronin der Mineure, habe ich mich mittlerweile gewöhnt.

    Da kommen sie aus ihren dunklen Löchern gekrochen, die Heinzelmännchen der Unterwelt, die Maulwürfe der Finsternis, und werden für ein paar Minuten zu Stars über Tage. Während sie sich den Mörtelstaub von ihren gepeinigten Schultern schlagen, leuchten ihre Goldzähne im Blitzlichtgewitter der wartenden Journalistenbrut. Für diesen einen Moment der Aufmerksamkeit haben sie jahrelang, manchmal sogar jahrzehntelang im Granitfelsen gescharrt. Respekt! Inzwischen ist die Moderatorin bei der obligaten Quizfrage angelangt, die da lautet: »Welches europäische Land hat die höchste Rücklaufquote bei Glasverpackungen?« Interessant! Antwort: »Dänemark.« Aha, wieder was Essenzielles gelernt heute.

    Ich warte darauf, dass die Nachrichtenredaktion mich noch mit weiteren Bombenmeldungen im Mark erschüttert, wie zum Beispiel diese, dass sich der Bundespräsident heute beim Rasieren beinahe in die Backe geschnitten hat. Stattdessen ertönt die audiotechnische Unterstreichung dieses faden Tages mit entsprechender Musik: Madonna trällert ihr Frozen genauso lustlos über den Äther wie wenig später Céline Dion ihren Titanic-Song.

    Musik ist das Spiegelbild der Gesellschaft, deshalb spielen sie auf den gängigen Radiokanälen nur noch dieses für alle Ohren bestimmte, für alle Altersklassen taugliche, absolut einfältige und gleich tönende 08/15-Einheitsgedudel, das zum Ziel hat, die Hörnerven des mündigen Bürgers abzustumpfen und ihn für die wirklich guten Klänge unempfindlich zu machen. Die auf Geldmache ausgerichtete Gehirnwäsche scheint bei den meisten zu funktionieren.

    Doch nicht mit mir! Zum Trotz stelle ich auf den hiesigen Jugendkanal um, der – von den brüchigen Mädchen- und Bubenstimmen einmal abgesehen – meist eine willkommene Abwechslung bietet. Ich werde auch heute nicht enttäuscht, denn eben hat das vierzehnjährige Mädchen mit piepsiger Stimme erklärt, dass wir unserem vermutlich letzten Sommer-Wochenende entgegensteuern. Heute sollen es noch einmal knackige 32 Grad werden, bevor der Herbst sein bleiernes graues Nebelkleid über die Landschaft hüllt.

    Aber wann hatten wir eigentlich in diesem Zwergenland hinter den sieben Bergen den letzten Sommer? War es an einem Dienstag? Normalerweise herrscht in unseren Breitengraden zehn Monate lang ein Klima zwischen leichtem Nieselregen und Dauerfrost. In den verbleibenden zwei Monaten versucht der Sommer mit mäßigem Erfolg die Schneeschmelze voranzutreiben. Also mache ich heute das, was alle meine Landsleute an sonnigen Tagen wie diesem tun: ab ins Schwimm- oder Seebad!

    Der für mich eigentlich geltende Vorsatz, an sonnigen Sommertagen auf keinen Fall motorisiert irgendwohin zu fahren, entpuppt sich spätestens jetzt als böse Vorahnung. Die spärlichen Parkplätze rund um das Strandbad Seerose sind zum Bersten voll. Nicht mal ein Bierdeckel hätte rund um das schmucke Anwesen Platz. Auch der kleine Parkplatz mit den gierigen Parkuhren in der Nähe ist total ausgebucht.

    Die Sonnenanbeter und Wärmefanatiker kommen wie die Eidechsen alle gleichzeitig aus ihren Löchern. Vorbei an Joggern, Rollerbladern, Fahrradfahrern, Spaziergängern und leicht bekleideten Jugendlichen dränge ich meinen schwarzen Mazda auf einen kleinen asphaltierten Fleck zwischen Fahrrad- und Motorradparkzone. Die gelbe Parkverbotslinie ignoriere ich. Vielleicht habe ich ja einmal Glück, und die raffgierigen Polizisten verschonen mich mit dem Knöllchen zur Aufbesserung der Steuererträge.

    Man wird in unserem Land das Gefühl nie ganz los, dass der uniformierte Freund und Helfer lieber im ertragsreichen Bußgeldsegment operiert, statt sich die Finger beim Aufdecken von Drogenkartellen, beim Zerschlagen von Waffenringen oder beim Kampf gegen die zunehmende Gewalt auf den Straßen zu verbrennen. Und das, obwohl die Polizei eigentlich bei der Umsetzung des jährlich festgelegten Mindestbetrags an Bußen sehr gut von ihren Radarfallen unterstützt wird, die dekorativ all jene Fahrbahnen zieren, die mindestens die Größe eines einspurigen Feldweges haben.

    Aber jetzt nochmals nach Hause fahren und das Ganze in dieser Affenhitze mit dem Fahrrad wiederholen?

    Und das mit meinen Plattfüßen und Hühneraugen? Nein, danke! Meine düsteren Gedanken verfliegen sofort, als ich durch die hölzerne Eingangspforte des Seebads schlendere. Wie immer lasse ich mir dabei Zeit und warte den richtigen Moment ab, um mich an der Kasse vorbeizuschleichen.

    Eine kurze Unachtsamkeit der neu angestellten Thailänderin genügt, und schon bin ich links an ihr vorbeigehuscht und in Richtung Damenumkleidekabinen unterwegs. Der asphaltierte Weg ist mit beigen Leintüchern abgedeckt und bietet damit perfekten Sichtschutz. Diese ausgeklügelte Eintrittsstrategie habe ich mir an einem lauen Sommernachmittag eigens für die Seerose ausgedacht. Nicht, dass ich den Betreibern den kleinen Obolus nicht gönne, aber man sollte in der heutigen Zeit auf seinen Geldbeutel achten. Schließlich wetze ich die finanzielle Scharte mit meiner omnipräsenten Anwesenheit im Strandbad und mit meinem vorbildlichen Konsumverhalten an der gegenüberliegenden Bar wieder aus.

    Ich platziere mich, strategisch geschickt, auf der plattgetretenen Wiese nahe des Mäuerchens, das den Durchgang zur großen Wiese flankiert. Hier habe ich den optimalen Überblick für meine Lieblingsbeschäftigung während der brütend heißen Sommertage, nämlich das Leutebeobachten. Überhaupt liebe ich dieses Old-School-Strandbad mit dem immer etwas muffig riechenden Seemannshaus aus altem, verschimmeltem Holz, das ein kleines Restaurant und eine große Terrasse beherbergt.

    Auf der anderen Seite des Hauptgebäudes steht die kleine Bar mit dem wohlklingenden Namen La Cucaracha, auf deren sandigem Untergrund ein verfilzter Billardtisch und die dazu passenden Tische und Korbstühle stehen. Ihr Anblick erinnert mich immer ein wenig an Ferien am Meer. Besonders bei einem kühlen Blonden an der Minitheke – einem umgebauten Schiffsbug – und den dazu passenden Klängen von Jack Johnson oder Bob Marley beschleicht mich immer ein sentimentales Fernweh-Feeling.

    Das Beste an der Seerose ist allerdings das gänzliche Fehlen von kinderfreundlichen Rutschbahnen und Sprungtürmen. Als einziges Extra schwimmt ein von Taubenscheiße übersätes Rundfloß im Wasser. Das bedeutet: kein Schulklassen-Mob, kaum herumschreiende Jugendliche und vor allem keine hyperventilierenden Eltern. Nein!

    Wer die Seerose anvisiert, will vor allem eins: Ruhe. Es sind zu einem großen Teil nervlich Gebeutelte, an den Rand Gedrängte, unkonventionelle Lebenskünstler, Andersartige, philosophische Proleten und ruhelose Sinnsucher dieses Lebens, die hier ihresgleichen suchen. Genau das mag ich so an diesem Überbleibsel vergangener Tage, der letzten Bastion der Kreativen, die so gar nicht in das von sesselpupsenden Theoretikern entworfene Weltbild des Aalglatten, Sterilen und immer Gleichen passt, das jederzeit von jedermann ersetzt werden kann!

    Ich beginne mit dem Studium der Badegäste und ihrer Sitzgewohnheiten. Zu den schlausten Taktikern zählen die Senioren, die mit ihren bunten, viel zu eng sitzenden Einteilern und ihren schwabbeligen Gliedmaßen gleich scharenweise einkehren. Sie können sich die mühselige Suche nach ihrem Wohlfühlplatz an der Sonne schenken, da sie ihre orangenhautüberzogenen Hinterteile sowieso seit Jahrzehnten immer am gleichen Ort absetzen. Oftmals sichern sie sich ihre Lieblingsplätzchen bereits dann, wenn noch morgendlicher Tau auf der Wiese liegt und der erste Hahn seinen Blues in die Welt hinausträgt.

    Sie breiten stapelweise Klatschmagazine und Zeitungen auf der Fläche eines Flugzeugträgers aus und stellen behände einen Wall von überdimensionierten Klappsesseln und Liegestühlen auf, der sie vor dem gemeinen Fußvolk schützen soll.

    Schnell ist auch ein bedauernswerter Trottel gefunden, der für sie den tonnenschweren Betonsockel für den Sonnenschirm in bester Lage platziert. Es wird so lange emsig parliert und schwadroniert, bis sich neue Gäste einfinden. In erstaunlicher Geschwindigkeit fallen sie dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, beinahe synchron in einen scheinbaren Tiefschlaf und ließen sich auch dann nicht stören, wenn die Erde auseinanderklaffen oder ein Feuerblizzard ausbrechen würde. Da haben es die zwanghaft Unzufriedenen bedeutend schwerer. Zuerst wird meist aus einer versteckten Ecke, die nur von einer Seite aus zugänglich ist, die Gesamtlage des Rasens gepeilt.

    Wie Radarsonden vermessen ihre Augen das Gebiet Zentimeter für Zentimeter, um sich dann mit dem Partner über die geeignete Sitzfläche zu beraten.

    Wichtige Koordinaten sind Sonnenlaufbahn, Baumlagen, Boden ebenheit, Müllvorkommen, Alter und Essverhalten der Badegäste, Anzahl Enten- und Schwanenfedern pro Quadratmeter sowie Windstärke und Windrichtung. Nachdem sie sich dann geeinigt haben, beginnen sie sich wie in Trance und möglichst unauffällig in Bewegung zu setzen. Die lästigen Mitstreiter immer aus den Augenwinkeln beobachtend legen sie die letzten Meter zum anvisierten Platz förmlich im Stechschritt zurück.

    Kaum ist ihr Überlebenscamp mit dem extragroßen Beduinenzelt aufgestellt, grübelt es weiter in ihren sonnengegerbten Köpfchen: Haben wir vorher die laute Gruppe rauchender Jugendlicher übersehen? Weshalb lächelt die schrullige Nachbarin in ihrem aufgemotzten Liegestuhl so dümmlich? Muss der asoziale Typ mit der überweiten Badehose genau an meinem Kopfende seine behaarten Käseflossen in mein Gesicht strecken? Kann die überdrehte Tussi unter dem Baum nicht NOCH lauter telefonieren?

    Ich schaue auf meine versilberte Supermarktuhr: Es ist bereits 16.15 Uhr. Die Sonne verliert allmählich ihre unbarmherzig stechende Kraft. Die Farben werden voller und weicher und das Licht legt sich wie ein goldener Schleier über die frühabendliche Landschaft. Ich lehne im Schneidersitz am Steinmäuerchen und lasse die sättigenden Eindrücke auf mich wirken.

    Die Sonnenstrahlen streicheln die Wasseroberfläche und es scheint, als würden Milliarden von Diamanten auf dem Grund des Sees funkeln. Ich liebe diese Stimmung an Spätsommertagen. Wenn die Schatten länger werden, die Grillen zirpend den angehenden Abend einläuten und alles in scherenschnittartigen Mustern leuchtet, fühle ich mich eins mit der Natur.

    In solchen Momenten weiß ich, dass es im Leben mehr als nur Brot und Käse gibt, und ich liebe das befreiende Gefühl, mich hier nicht vor anderen verstellen zu müssen: kein Gruppenzwang, keine Erwartungshaltung an mich selbst oder an andere.

    Ein eingeölter Waschbrettbauch, ein abgeschlossenes Abitur und eine Samtbadehose von Gucci erregen hier genauso wenig öffentliches Interesse wie ein Buckel und Klumpfüße, gepaart mit einem doppelten Rittberger vom alten hölzernen Steg ins Wasser. Scheinbares Desinteresse und Teilnahmslosigkeit bilden die eigentliche Leichtigkeit des Seins: kein »sehen und gesehen werden«, kein Abschleppzirkus, keine plumpen Anmachsprüche und kein Wett-Rekeln an der Sonne, keine schlecht geratenen Kopien von David Hasselhoff und Pamela Andersson, die eingepfercht in knallengen Badeklamotten und in Super Slow Motion ein um Hilfe schreiendes Kind aus den Fluten retten.

    Hier sieht man mehr Schweißfüße, Leberflecken, Bierbäuche und Speckrollen als einem lieb ist. Und niemand stört sich daran. Auffallend ist einzig die Unterschiedlichkeit zwischen den Generationen bezüglich Bademode und Körperbehaarung.

    Der an mir vorbeistolzierende alte Mann – ein kapitaler Silberrücken – bietet ein hervorragendes Beispiel, um meinen Gedanken weiterzuspinnen. Die älteren Herren, aufgewachsen in der James-Bond-Generation, die Sean Connery oder Roger Moore zum Vorbild hatten, sind ausnahmslos stark behaart. Gewöhnlich tragen sie ihr Fell in einer Art Dauerwelle als Ganzkörperbehaarung gleichwohl auf Bauch und Rücken.

    Die Haarfarbe (in der Regel ein Ton irgendwo zwischen Spanferkelblond und Aschgrau) spielt dabei eine ebenso untergeordnete Rolle wie der Grad der Kräuselung - Hauptsache, es IST gekräuselt. Schließlich wird damit das verlorene Haupthaar ersetzt. Da man die in früheren Zeiten trainierten Muskeln nur noch anhand der Fettkonturen erahnen kann, wird die zweifellos vorhandene männliche Eitelkeit mit einem dunkelbraunen Teint, einer fingerdicken Goldkette und einem String-Tanga, meist in der Farbe Rot und in der Größe eines Feigenblatts, bedient. Dabei dient das Vorzeigeobjekt Oberkörper als tragendes Element. Die zum Oberkörper unzureichend proportionierten kleinen, krummen Beinchen sind nur zur Fortbewegung gedacht und eignen sich höchstens bei geschwollenen Gichtknien als Gesprächsstoff. Was ältere Damen den vierten Frühling spüren lässt, löst bei jüngeren Semestern höchstens eine Gänsehaut aus. Die jungen Girls von heute stehen auf absolut reine, babyzarte und unbehaarte Haut - egal in welcher Körperregion.

    Da kann schon der Hauch eines allmählich bahnbrechenden Flaumes auf der Oberlippe oder der Hühnerbrust eine Grundsatzdiskussion auslösen. Nicht selten werden dabei Langzeitbeziehungen von zwei bis drei Wochen unvermittelt und mitleidlos gekündigt. Ganz eklig finden die weiblichen Kids Achselbehaarung, einen haarigen Hintern oder einen kleinen Haarkranz um die Brustwarzen.

    Liebe Jungmänner, lasst euch gesagt sein: Wenn ihr eines oder gleich mehrere dieser Merkmale vorzuzeigen habt, dann greift unmittelbar zum Kaltwachs oder lasst euch in ein Kloster einweisen!

    Stunden später erwache ich spastisch zuckend und mit den Füßen strampelnd aus dem Tiefschlaf. Benommen schaue ich mich um und versuche das grelle Licht der Abendsonne wegzublinzeln. Ich sehe einen Himmel, der sich langsam von Azur- in Kobaltblau verwandelt. Es weht mir ein unfassbar ätzender, beißender Geruch um die Nasenflügel, der so penetrant stinkt wie die ausgeweideten Überreste eines seit Wochen dahinsiechenden Kadavers.

    Der leere Schluckreflex geht in ein Würgen über. Nach einer Weile haben sich meine Geruchssensoren eingestellt und die Geschmacksknospen melden ein eindeutiges Resultat: menschliche Ausscheidungen. Es riecht jedoch nicht etwa nach diesen langen, dicken Würsten, die sich tagsüber langsam im Darm entwickeln und sich dann zu erstaunlicher Größe hochgären. Nein! Es riecht nach fiesem, feuchtem, hochprozentigem Stuhl, der unter Hochdruck in mehreren heftigen Stößen abgefeuert wurde: die berüchtigte Sprinklerfontäne!

    Langsam drehe ich meinen Kopf gegen die Windrichtung zum Pool der negativen Gerüche. Seelenruhig reinigt eine junge Mutter mit Kopftuch den Allerwertesten ihres Babys und wickelt es neu.

    Da verbieten sie Hundehaltern aus Hygienegründen den Zutritt ihrer Vierbeiner ins Seebad, aber diese Nasenfolter darf öffentlich an mir begangen werden! Ich überlege, ob ich mich bei der unverfrorenen Lady lauthals beschweren soll, lasse es dann aber doch sein.

    Stattdessen trotze ich den heftigen Gerüchen und harre in derselben Position, während ich gleichzeitig versuche, einen möglichst entspannten Eindruck zu machen. In einem Reisemagazin habe ich kürzlich den Bericht einer kalifornischen Esoterikerin gelesen, die empfiehlt, bei Stress und seelischer Unruhe einen Baum zu umarmen. Ich entscheide mich aber in dem Moment für Ablenkung in Form eines Spiels auf meinem iPod.

    Eine Runde Trivial Pursuit ist jetzt genau das Richtige für mein empfindliches Nervenkostüm.

    Die erste Frage in der Kategorie Wissenschaft und Technik lautet: »Besteht das Horn eines Nashorns aus a) Haaren, b) Knochen oder c) Knorpel?« Falsche Antwort, nächste Frage: »Welche Farbe hat das Ei eines Emus?« Antwortmöglichkeiten: »a) Rot, b) Weiß oder c) Blau.« Langsam beginnt ganz tief in mir drin ein kleines Wutsüppchen zu köcheln.

    Ich schmeiße den iPod in die Wiese. Haben die echt keine besseren Fragen mehr auf Lager?

    Wie wäre es zum Beispiel mit der hier: »Welcher Gegenstand eignet sich am besten zum Stopfen eines menschlichen Anus? a) ein Korken, b) ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch, c) eine kleine Duftspraypatrone.«

    Lautes, nervöses Zeitungsrascheln unterbricht meine Gedanken und lenkt meine Neugierde in die entgegengesetzte Richtung zu einem vormals freien Platz zu meiner Linken. Ich lasse den neuen Beobachtungsprobanden in Ruhe ankommen und feure meinen unvergleichlichen Superman-Röntgenblick auf ihn hernieder. Seine Bewegungen haben beinahe etwas Traumatisches, so als täten ihm alle Muskeln weh.

    Mit der Andacht und der Geschwindigkeit eines Faultieres rollt er sein plüschiges Badetuch neben mir aus.

    In einer einzigen fließenden Bewegung klappt er seine Beine nach hinten, um sich wie ein fußlahmes Wüstenkamel zusammenzufalten; ein Mann wie ein zusammenbrechendes Kartenhaus. Sein düsteres Äußeres stimmt nicht gerade positiv. Mit seiner Hakennase und dem rabenschwarzen Haar, das in der Nachmittagssonne bläulich schimmert, sieht er aus wie Hexenmeister Gargamel von den Schlümpfen.

    Es fehlt nur noch, dass er Kater Azraël aus seiner Baseballkappe zaubert! Statt ihn mit unflätigen Bemerkungen zu traktieren und ihn mit Schimpf und Schande aus meinem Gesichtsfeld zu vertreiben, erhasche ich kurz die Überschriften auf der Titelseite seiner Tageszeitung. Heute findet das Fußball-Länderspiel Schweiz gegen

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