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Der letzte Jaguar
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eBook302 Seiten4 Stunden

Der letzte Jaguar

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Über dieses E-Book

Auf der Suche nach seiner Identität reist Ayo nach seinem Abitur von Deutschland aus ins bolivianische Amazonasbecken, wo eine Vielzahl undurchschaubarer Konflikte um Land und Kultur seine Werte und Normen auf den Kopf stellen. Dazu kommt noch der mysteriöse Tod seines Großvaters. Ob die Legende des Arawak-Volkes wohl wahr ist? Die Suche nach Klarheit verwickelt ihn in ein undurchdringliches Geflecht aus Umweltzerstörung und Korruption. Wenn er der Legende auf den Grund gehen könnte und ihn doch nur einmal sehen könnte, Abu, den Jaguar, bevor die großen Waldbrände ihn für immer auslöschten...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Apr. 2022
ISBN9783347621589
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    Buchvorschau

    Der letzte Jaguar - Kristina von Stosch

    KAPITEL 1

    5: 35 Uhr morgens. Meine Beine waren taub, schließlich hatte ich vergeblich versucht, meine 1,90m zwischen den Sitz und die Rückenlehne des Platzes 25F zu klemmen, auf dem ich den ganzen Weg zwischen Madrid und Santa Cruz verharren musste. Alles kribbelte, auch meine Gedanken kribbelten, mein Abenteuer hatte endlich begonnen, meine Suche, die schon so lange in mir gesteckt hatte, jetzt durfte sie sich endlich entfalten. Wie hätte ich auch ahnen sollen, dass alles ganz anders verlaufen würde, so anders wie es verschiedener gar nicht hätte sein können.

    »Hier entlang, junger Mann, zur Einreise Bolivien, Passagiere nach Panama dort entlang,« war die erste bolivianische Stimme, die mir die Ankunft bestätigte. Erst jetzt merkte ich, dass sich die Reihen der boardenden Fluggäste für den Copa-Flug nach Panama mit der herausströmenden Masse meiner Air-Europa-Maschine vermischte und Mäander ähnliche Ausgüsse an den Kurven hinterließ, wo sich die gestrandeten Fluggäste wieder einzureihen versuchten. Die nächste Stromschnelle befand sich einen Stock tiefer, an der 5 Beamte wortlose Stempel in die Pässe klopften, weitere zwei irgendein sinnloses Formular einsammelten -ich hatte noch nie verstanden, warum man im Zeitalter der Technologie immer noch seitenweise handschriftliche Formulare ausfüllen musste- und letztendlich ergoss sich der Strom samt Geröllmasse meterhoher Kofferberge auf das doch recht beschauliche Flughafengebäude von Viru Viru.

    Viru Viru, so nannte sich der Flughafen, das hatte mir gleich gefallen, das klang nach Abenteuer, nach Neuanfang, das klang wie eine fremde Sprache, das klang wie der Ruf eines seltenen Paradiesvogels. Ich wollte das Abenteuer meiner Suche sofort zu mir holen, es beschleunigen und freute mich schon auf eine Reihe wunderbarer Begegnungen, die meinen Weg lenken sollten. So hatte ich es mir vorgestellt. Durch meinen südländischen Teint und die grünen Mandelaugen konnte ich meine Zukunft schon blühen sehen.

    Es roch nach dem Schmetterlingshaus des Zoos, in den mich immer meine Großeltern geführt hatten. Schon als Kind hatte es mich fasziniert, wie diese federleichten Geschöpfe durch die Luft flatterten und ich hatte mir sie als musikalische Noten vorgestellt. So sähe bestimmt Musik aus, wenn man sie sehen könnte. Die Luft war heiß, feucht und schon jetzt vernahm ich ein durchdringendes Summen der Grillen. Mein Großvater hatte mir nicht zu viel versprochen, selbst eine Straussenfamilie begrüßte mich in der Ausfahrt des Flughafens, das Empfangskomitee war perfekt, meine Stimmung auch.

    Meine kleine AirBNB-Bude hatte ich mir größer vorgestellt, bestimmt hatten sie das Internetfoto mit einem Froschauge fotografiert, damit es größer wirkte. Ich drehte mich im Kreis und entdeckte das unglaublich klobige Bett, es war sogar dieselbe Bettwäsche bezogen wie auf dem Foto im Netz. Ein Laken mit großen Blumen in braun-grün-Tönen, darauf ein zweites Laken, das wohl zum zudecken gedacht war und 3 Kopfkissen, von denen ich sofort eins auf mein Sofa legte. Das Sofa hätte aus der Entrümpelung meiner Tante stammen können in Kombination mit dem dunklen schweren Couchtisch, auf den ich mein Tablet nicht abstellen konnte, ohne Stilbruch zu begehen. Dahinter thronte erhaben ein 55 Zoll – Flachbildschirm und schräg dahinter eine White Westinghouse Klimaanlage, die mir von nun an das Summen der Grillen ersetzte.

    Das Badezimmer hatte einen riesigen Spiegel und eine Dusche, aus der Spaghetti ähnliche Drähte in allen Farben das Duscherlebnis erheitern sollten. Den Mut zu warmem Wasser durch freie Drähte direkt über meinem Kopf brachte ich in der ganzen Zeit nie auf und höre mich noch immer lautstark argumentieren, wie lächerlich es doch sei, bei 35°C eine warme Dusche zu benutzen während ich mich innerlich schon wieder auf eine warme Dusche freute.

    Das letzte, was mir einfiel, war noch das Klopfen der Vermieterin. Amelia hatte mir eine gefüllte Teigtasche gebracht und einen Saft aus getrockneten Pfirsichen. Mit einem »genieß unser schönes Santa Cruz, die schönste Stadt der Welt« verabschiedete sie sich auch schon wieder und ging in ihr Zimmer, wo lautstark ein Fernseher eine kolumbianische Vorabendserie verkündete.

    Es war, als würden Erinnerungen meiner ganz frühen Kindheit plötzlich aus meinen Gehirnlöchern klettern und sich einen Weg an die Oberfläche bahnen. Wilde Bilder schwirrten in mir herum und ich konnte nicht mehr sagen, ob es Erzählungen waren, denen durch meine kindliche Fantasie Leben eingehaucht worden waren oder vielleicht waren es auch wahre Erlebnisse gewesen. Ich sah einen dichten, grünen Wald, hörte Stimmen auf Spanisch und auch in einer weiteren Sprache. Verschiedene Leute hielten mir eine frisch geerntete Erdnuss hin und erzählten mir Geschichten, meine Geschichten, Geschichten meines Ichs, die mich von da an nie wieder losgelassen hatten.

    Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie ich eingeschlafen war, wann und warum. Ich purzelte aus Raum und Zeit als ich von einer Auto-Alarmanlage aus dem Schlaf gerissen wurde. Ich hatte nicht viel geschlafen, oder doch? Auf jeden Fall hatte ich Hunger, war immer noch platt und mein Körper gewöhnte sich nur langsam daran, wieder seine volle Länge ausstrecken zu dürfen. Ich setzte mich mit meiner Empanada an den Couchtisch, fuhr meinen Laptop hoch und wunderte mich über die wunderbare Wifi-Verbindung, so schnell funktionierte das in Deutschland nicht.

    Außer zwei Schulfreunden hatte sich niemand gemeldet, sollten mich meine Freunde schon wenige Monate nach dem Abitur vergessen haben? Bestimmt waren sie alle beschäftigt mit ihrem sozialen Jahr, mit ihrem Studium, mit ihren Reisen, und mit der unweigerlichen Krise, die sich nach Stillstand der von selbst fortlaufenden Zeit und der sich automatisch fortsetzenden Ereignisse im Schulleben einstellte. Nimmst du jetzt Französisch oder Spanisch? waren die einzig lebenswichtigen Entscheidungen, die ich bis dahin zur Planung meiner Zukunft hatte beisteuern müssen. Und diese Frage fiel mir besonders leicht, denn ich hatte das große Glück, spanisch schon durch die Muttermilch, besser gesagt durch meinen Vater, aufgenommen zu haben.

    Aber jetzt standen wir da, das Glücksrad drehte sich nicht von selbst weiter, man musste schon selber daran drehen. So verfingen sich manche Entscheidungen in einem Spinnennetz und strauchelten wie ein Nachtfalter, um endlich einen Ausweg zu finden. Oder sie blieben erst einmal willig hängen, da sich unsere ungewisse Zukunft, trotz Greta Thunbergs Druck, nicht sehr rosig abzeichnete. Als ich meinen Freunden vor einigen Monaten von den Plänen meiner Suche berichtet hatte, hatten sie nur nett gelächelt, während sie sich vorstellten, wie in meinem Curriculum die Lebensphase ‚Bolivien‘ aussehen würde: »große erfolglose Suche meines Ichs«.

    Ich erfüllte meine Rituale per Email (Mama, ich bin gut angekommen, bin müde, melde mich wieder) und WhatsApp (Hi Paul, schlechte Verbindung, cool hier, ich melde mich irgendwann mit besserem Internet) und startete mal wieder den Stolz meines Lebens: ArcGis, Version 10.8.1. Ich empfand es gleich von Anfang an als meine Glückszahl, da ich genau an diesem Datum geboren war, am 10. August 2001. Ich startete das Kartographie-Programm und öffnete wieder einmal die Karte, die ich schon so häufig angeschaut hatte. Das Satellitenbild aus dem bolivianischen Amazonasbecken, meine Welt, meine Kindwelt, meine neue Welt, mein Abenteuer. Gleich morgen sollte es losgehen, auf zur großen Suche.

    KAPITEL 2

    Jung und energetisch, so kannte ich mich eigentlich, aber das mit dem Jetlag hatte ich wirklich unterschätzt. Nach vielen Runden in der Stadt, Telefonkarte, Geld abheben, ein paar Sachen für die Reise kaufen, war es mit einer Dosis kolumbianischer Vorabendserie ein Leichtes, wieder zurück in meine Traumwelt zu finden, aber auch ein Leichtes, um 3 Uhr morgens wach zu liegen und dem Summen der Klimaanlage zu lauschen. Ohne Brüste kein Paradies, das war also das Niveau lateinamerikanischer Filmkultur. Ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit ein paar bolivianische Filme zu kaufen und anzuschauen. Sollte ich nicht noch wenigstens einen weiteren Tag in der Stadt verbringen? Ich hatte meine kleine Wohnung ja vorsichtshalber für eine Woche gemietet, obwohl ich überhaupt nicht wusste, wie lange ich bleiben sollte. Woher kam nur dieser Trieb, sofort loszufahren, sofort in Aktion zu treten? Es trieb mich ungebremst an, eine Kraft, die es mir nicht erlaubte inne zu halten. Ein Drang, der schon lange meinen Körper lenken wollte und endlich die Oberhand gewann. Ja, morgen sollte es losgehen.

    Ich sprach mit Amelia, die mich kaum aus ihrer Unterkunft ausziehen lassen wollte, schulterte meinen Rucksack und merkte aber schnell, dass es keine gute Idee war, zu Fuß zu gehen. Diese Stadt war wirklich nicht zum Laufen geeignet. Die Bürgersteige quollen über aufgrund der vielen Waren. Es gab alte Kleidung, noch ältere Schuhe und uralte Damen, die kleine Häufchen vor sich aufgebaut hatten. So gab es Kartoffelhaufen, Limonenhaufen, Karottenhaufen, stinkende Haufen, einige Dinge erkannte ich wieder von irgendeiner Besuchsreise, die wir vor vielen Jahren mit der Familie gemacht hatten, andere waren mir völlig fremd. Ich übte mich im Parcours, in dem ich einen Weg zwischen Bürgersteig und den auf der Strasse rasenden motorisierten Rädern einschlug, gleichzeitig über die Schlaglöcher sprang, die vielseitigen Häufchen umrundete und die Balance auf den dreckigen Plastiktüten zu behalten versuchte. Ich wusste nicht mehr, ob die ständigen nassen Tropfen von den Klimaanlagen der Häuser kamen oder von meiner Stirn, dazu panierte mich der heiße Wind mit feinen Sandkörnern. Hinter mir vernahm ich eine Melodie, die konstant zwei Tonleitern rauf und wieder runter tanzte und einen Mann mit sich führte, der ein Getränk mit ganzen Maiskörnern in einer Riesenkugel anpries. Somó war für mich eine so süße Kindheitserfahrung, dass sie noch heute fest in meinen Erinnerungen klebte. Diese Melodie wurde arrhythmisch von Bassklängen begleitet, die von verschiedensten motorisierten Gefährten ausgestoßen wurden. Bei diesem Laustärkepegel hätte mir meine Mutter gesagt, ich solle nicht zu dicht am Lautsprecher sitzen. Ja, zu Fuß gehen war wirklich eine Herausforderung.

    Einen Block entfernt erspähte ich eine Frau mit einer Orangenpresse und einem Berg Orangen, oh ja, ein rettender Orangensaft. Ich leitete meinen Körper zu diesem Wagen und genoss wenig später die gesunde Erfrischung.

    Am Busterminal roch es nach frittierten Hähnchen. Ich schaute auf mein Handy, es war 11 Uhr morgens, meine liebste Frühstückszeit, aber Knusperhühnchen musste es nicht sein heute. Erst einmal der Bus. Ich wusste, dass mich eine sehr lange Fahrt Richtung Norden erwartete, ich wusste auch, dass es nicht leicht sein würde, Transportmittel zu finden, bis dahin, bis zum Ort meines Ursprungs und Ziels, zum Ort meiner Suche, so dass ich meinen ersten Zwischenstopp erst einmal in Concepción plante. Die Kleinstadt war nur 6 Busstunden entfernt, eine gute Dosis für den ersten Tag. Ich kaufte ein Ticket für den blauen Kastenbus, der aussah, als wäre er aus einem mexikanischen Spielfilm des letzten Jahrhunderts gepurzelt. Es waren dieselben Busse, in denen mich schon damals, vor etwa 13 Jahren meine Eltern mitgenommen hatten. So zumindest zeigten es die Fotos.

    Ich sah, dass im Bus noch nicht alle Tickets verkauft waren und erkannte schnell, dass er noch nicht so schnell abfahren würde, es war also doch noch Zeit zum Frühstücken, wunderbar. Ich entschied mich für eine Käse-Teigtasche mit Puderzucker und einen Kaffee. Die Teigtasche war fantastisch, den Kaffee musste ich mit 3 Löffeln Zucker versüßen, um den Instant-Pulver-Geschmack zu übertünchen. Die anderen Gäste taten das genauso. Warum trank ein Kaffee-Land Instant-Pulver aus Brasilien? Ich erinnerte mich daran, dass ich erst letztlich gelesen hatte, dass Bolivien mit seinem Yungas-Arabica-Kaffee einen internationalen Preis gewonnen hatte, trotzdem trankt man instant Robusta. Seltsame Welt.

    »Señor Ayo Vogelhorst, der Bus fährt jetzt los«. Erst als der junge Mann mich antippte, merkte ich, dass er mich meinte. Bei bolivianischer Aussprache war mein Name nicht wiederzuerkennen. Auch in Deutschland fanden Leute meinen Namen seltsam und verwechselten ihn mit Hajo. Ständig musste ich erklären, dass mein Name wirklich nur aus den drei Buchstaben a-y-o bestand. Aus meinem Nachnamen Vogelhorst wurde hier Bochelchos und damit kaum noch als mein Name zu erkennen. Gleichzeitig war ich froh, nicht Hajo zu heißen, denn die spanische Aussprache würde mich hier in Ajo, also Knoblauch verwandeln. Mein Name war mir sehr wichtig, in ihm trug ich einen bedeutenden Teil meiner Selbst, hier verbargen sich mein Ursprung und meine Identität. Ich wusste, dass mein Name eine große Bedeutung hatte, diese tiefer zu verstehen, war Teil meiner Suche.

    Der Mann neben mir im Bus war mir gleich sympathisch. Mittelgroß, braune Haare mit grauem Haaransatz, flache Stirn, eine gesunde Körperfülle und sehr wache, interessierte Augen. Seine Jeans, kariertes Hemd und Timberland-Stiefel ließen vermuten, dass er sich nicht nur auf asphaltierten Straßen und in 4-Sterne-Hotels aufhielt, gleichzeitig wirkte er ungsstatistik Boliviens gut repräsentiert. Vorne saßen 3 Kinder zusammen auf einer Bank, daneben eine füllige Frau, wahrscheinlich die Mutter. Gleich dahinter ein älterer Mann mit Strohhut und erstaunlich wenig Zähnen, dafür hatte er ein Grinsen, dass aussah, als hätte es sich in den Falten des Gesichtes für immer eingenistet. In der Mitte sassen in paar Frauen mit mittellangen Röcken, umso längeren Zöpfen und Strohhüten, dazu Autoreifensandalen. Ein paar Männer mit pastellfarbenen braunen Hauttönen aller Abstufungen und Stoffhosen, die am unteren Rand etwas hochgekrempelt waren. Ich fragte mich, wie ich wohl auf die Leute wirkte, denn, obwohl ich in Haar- und Hautfarbe nicht so unterschiedlich war, verrieten doch meine Augen und spätestens meine Kleidung und Verhalten, dass ich in dieser Gegend nicht täglich verkehrte. Ich stellte mir eine Verwandtschaft mit den anderen Busgästen vor, suchte nach Ähnlichkeiten, scannte sie und tat mich doch schwer, die Vertrautheit in mir zu wecken.

    Wie sollte ich meine Suche nur angehen? So langsam begann ich doch zu zweifeln. Mal wieder einfach vorgeprescht, ohne nachzudenken, das hatte ich doch schon so oft gemacht, es war noch nie gut gegangen. Ich ertappte mich, wie ich mir wünschte, es könnten mich Worte einer zufälligen Person in die richtige Richtung meiner Suche lenken, ich wünschte mir kleine Wunder wie sie in den Büchern von Paulo Coelho vorkamen. So einfach und zauberhaft wollte ich es auch haben.

    Ich schloss die Augen und für einen Moment spürte ich die Dimension meiner Suche, für den Bruchteil einer Sekunde wich der jugendliche Leicht- und Frohsinn einer neuen Dimension, einer veränderten Version von mir selbst, in die ich nicht einsteigen wollte. Meine Schulfreunde hatten mich belächelt, so, wie ein Vater lächeln würde, wenn seine 5-jährige Tochter berichten würde, sie gehe mal kurz nach Afrika und sei zum Abendessen wieder zurück. Ein Lächeln, das zugleich freundlich war und zugleich zu verstehen gab, dass das Vorhaben sich niemals aus der Traumwelt in die Wirklichkeit bewegen würde. Ich muss ihm nur einmal in die Augen schauen, dann weiß ich Bescheid, ich bin ganz sicher, erklärte ich ihnen in einem fort, aber wie sollten sie es auch verstehen. Es war ein Drang, der sich auch in mir so anfühlte, als wäre er aus einer anderen Dimension in mich hineingelangt und benutze mich als Wirt. Aber was konnte schon passieren? Ich musste es versuchen.

    »Señor, reisen sie nach Concepción?« durchbrach es die Schallmauer meiner Gedankenwelt. Mein Nachbar lächelte mich freundlich an. Ich musste die Worte erst einmal sortieren und aus den Abgründen meiner Gedankenwelt an die Oberfläche tauchen. Mir kam die Frage ein wenig sonderbar vor, schließlich waren wir alle in einem Bus nach Concepción.

    »Si, also, no, nicht genau, also nicht endgültig, ich fahre danach noch weiter«.

    Ich bastelte schon an einer Antwort auf die wohl obligatorisch folgende Frage wohin denn?, als er mir eine Tüte mit gesalzenen Kochbananenchips hinreichte. »Chipilo? Du bist nicht von hier, oder?«

    Schon wieder so eine komplizierte Frage, mit so viel Philosophie war ich erst einmal überfordert, woher ich kam und wohin ich ging, war mir in dieser Lebensphase überhaupt alles andere als klar.

    »Deutschland, ja, also mein Vater ist Halbbolivianer, meine Mutter ist Deutsche.«

    »Ah, Hohenheim?«

    »Wie bitte?«

    Ich brauchte eine Weile, bis ich das Wort als deutsches Wort erkannte.

    »Ich war einmal in Stuttgart-Hohenheim«.

    »Ach so, ja, was, also kennen Sie das? Kennen Sie Deutschland, waren Sie einmal in Hohenheim?«

    Mein Nachbar entpuppte sich als Experte in tropischer Landwirtschaft, die es ja hier in voller Fülle gab, das Wissen dazu allerdings unter anderem in Stuttgart, wo die Tropen nur im Schmetterlingshaus des zoologischen Gartens zu finden waren. Noch so eine einleuchtende Wirklichkeit.

    Inzwischen waren wir endlich aus dem städtischen Gebiet herausgefahren, über den Rio Grande, der grosse Fluss, der wie mir mein Nachbar erklärte, erstaunlich wenig Wasser führte zu dieser Jahreszeit. Es war September, bald schon war Ende der Trockenzeit, es würde aber noch etwa 2 Monate brauchen, bis der Wasserlauf wieder an Strömung gewinnen würde. Wir holperten einige Stunden weiter und unterhielten uns über belanglose Dinge. Als wir schon durch Cuatro Cañadas gefahren waren, zeigte der sympathische ‘Timberland ‘ hinaus (ich wusste immer noch nicht seinen Namen) und sagte »hier, das Event HB4«. Es klang wie eine chemische Formel.

    »HB4 ist eine neue gentechnisch veränderte Sojabohne, die dieses Jahr hier eingeführt wurde. Noch nicht einmal zugelassen in Europa, dafür in China.«

    »Event?« Darunter stellte ich mir eher eine coole Abendveranstaltung vor, Musik, Bier, viele Leute.

    »Ich dachte, es gäbe schon länger Gensoja hier,« wollte ich meine Unkenntnis überspielen.

    »Ja, schon seit vielen Jahren. Erst gab es nur das RoundupReady-Soja von Monsanto. Darauf kannst du so viel Glyphosat spritzen, wie du möchtest und kriegst die Pflanze nicht klein. Toll, was?«

    Er schielte zu mir herüber und wollte offenbar testen, wie ich zu diesem Thema stand.

    »Aber was denkst du, was passiert mit dem Wasser, wenn die hier den ganzen Wald klein machen und Soja pflanzen?«

    »Naja, verschmutzt halt.« Antwortete ich brav.

    »Naja…verschmutzt halt…und verschwindet halt, das ganze Ökosystem trocknet aus, wo soll sich die Feuchtigkeit halten? Aber dafür gibt es jetzt eben das Event HB4, eine Sojabohne, die an die Trockenheit angepasst ist,« führte er sein Thema weiter aus. Ich war erstaunt, was er bei den Schwaben so alles gelernt hatte. Oder lernte man das in Leverkusen? Wie war das mit Bayer und Monsanto? Darüber hatte ich doch mal ein Referat gehalten.

    »Moment Mal, also erst wird alles abgeholzt und mit Glyphosat vergiftet, danach, wenn kein Wasser mehr da ist, bringt man eine neue Sorte, oder wie hast du es genannt, Event, und baut Soja im Trockenen an? Ist ja ganz einfach.«

    »Ja, genauso funktioniert die Welt bzw. genauso funktioniert sie nicht.«

    Ich hätte ihn gerne gefragt, was er sonst so tut, ob er eine Familie hat, ob er morgens lange schläft und welche Musik er mag, ob er nach Hause fährt oder von zu Hause weg, eben ganz normale, fröhliche Fragen, wie man sie in Bussen so stellt, um Nachbarn kennen zu lernen. Aber irgendwie war mir nicht mehr nach Fragen zu Mute. Ich schaute aus dem Fenster und sah ein paar Kühe die Straße überqueren, direkt dahinter reihten sich etwa 10 Lastwägen aneinander, wie Waggons einer Eisenbahn, alle beladen mit Getreide. Sie waren auf dem Weg zum nächsten Silo.

    Ein Schlagloch riss mich sehr sprunghaft aus meinen Tagträumen. Sie war wohl doch nicht ganz so perfekt, die Straße, ich hatte mich schon gewundert. Aus meiner frühen Kindheit hatte ich immer nur staubige und holprige Wege in Erinnerung. Wir kamen durch unzählige weitere Dörfer und ich fragte mich, ob die Straße asphaltiert worden war, um mehr Platz für die Straßenmärkte zu schaffen oder für die Trocknung der Cocablätter. Unzählige Motorräder sausten an uns vorbei, die auch als Taxi dienten. Wenigstens bekam man so immer eine frische Brise, ein sehr praktisches und billiges Transportmittel. Hühner, Reissäcke und Familien mit 5 Kindern fuhren gemächlich auf dem Moped an uns vorüber. Weiter hinten sah ich sogar, wie jemand ein Regal transportierte und fast das Zeltdach des Orangenverkäufers dabei abräumte. Mir kam mein deutscher Radiosender in den Sinn, den ich immer beim Frühstück gehört hatte, der würde folgendes melden: Vorsicht auf der Bundesstraße San Julián – Concepción, es liegen Reifenteile auf der Fahrbahn, Kinder, Falschfahrer, Hühner am Straßenrand, Vorsicht vor der Benzinspur, eine Fahrbahnerneuerung ohne Absperrung, bitte fahren Sie langsam und überholen nicht, wir melden es, wenn die Gefahr vorüber ist oder besser, sie bleiben zu Hause.

    Endlich nahm der Soja-Ausblick sowohl im Feld als auch in Form von Lastwagen-Ladungen ein Ende, es wurde etwas grüner, kurviger und hügeliger. Und holpriger, endlich holprig, ich fühlte mich ja schon ganz unbolivianisch auf den glatten Asphaltstraßen. Wir waren schon über 4 Stunden unterwegs, so lange konnte es nicht mehr sein bis Concepción. Ich freute mich darauf, bald das lauwarme Wasser meiner Trinkflasche gegen ein kühles Etwas tauschen zu können. Mein Busnachbar schaute aus dem Fenster und hatte mein Hochgefühl wohl bemerkt.

    »Jetzt sind wir in der echten Chiquitania, die mit den Jesuiten, das weißt du, oder nicht?«

    Ich lächelte ihn an und stammelte ein »hm ja ähm«, ein weiteres Produkt meines erstsagen-dann-denken-Schemas. Zum Glück hatte er Spaß daran, den Guide zu spielen.

    »Schau doch mal raus, jetzt wird es schön. Hier links ist die Kirche, die Plaza, überall entspannte Leute, Chiquitanos, das liegt bestimmt an der Barockmusik,« schloss er seinen Satz und lachte. »Wer Barockmusik macht, muss doch entspannt sein, oder? In nur 100 Jahren haben die Jesuiten hier die Indigenen Völker missioniert, ihnen ein `ordentliches´ Dorfleben beigebracht, Kirchen gebaut und viel Musik gespielt. Aus Bambusrohren haben sie Geigen gebaut, das muss sich erst mal einer vorstellen, im 18.Jahrhundert.«

    Ja, davon hatte ich gehört, ich hatte mich ja wirklich viel eingelesen in das, was die Welt meiner Vorfahren vielleicht einmal war und gerade zu meiner Welt werden sollte, hatte gelesen, wie alte Notenblätter als Klopapier missbraucht worden waren und ganze Gemeinden Bachmelodien auf der Geige spielten. Aber es schien mir schon ganz schön verrückt, den Urvölkern Barockmusik beizubringen. Und noch verrückter war, dass sie das als ursprüngliche Tradition weiterführten bis heute. Andererseits, was war schon ursprünglich? Ich stellte mir vor, wie Bach und Händel hier mit ihrer weißen Perücke und Pferdekutsche durch die Landschaft kutschierten, um dann zwischen Bananenstauden und Papayabäumen in die Kirche zu stolzierten, sich eben den Staub vom Rock wischten und das Konzert anstimmten. So etwas Absurdes, Barockmusik im Dschungel.

    Jetzt war ich aber doch neugierig. »Das war aber nicht so wirklich nett von den Jesuiten, die Indigenen hierher zu zwingen in ein Dorfleben, oder? Die sind doch bestimmt nicht freiwillig in die Dörfer gekommen. Zwischen jagen, sammeln und frei sein oder Kirchen bauen für die Weißen, unverständliche Lieder singen, unbekannte Instrumente spielen und einen fremden Gott verehren, hätten sie sich sicherlich für Freiheit entschieden, oder nicht?«

    »Du hast Option drei vergessen: von Spaniern ermordet werden. Da fiel die Entscheidung vielleicht doch leichter.« Er schaute kurz aus dem Fenster und nahm seine restlichen Bananenchips.

    »So,

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