Kinderjahre im Schatten des Dritten Reichs
Von Hanna Esslinger
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Über dieses E-Book
In diesem Text beschreibt eindrucksvoll eine inzwischen erblindete Frau, wie sie als Kind die Kriegs- und Nachkriegszeit in einem kritisch eingestellten Elternhaus erlebt hat. Sie schildert das Leben in einem schwäbischen protestantischen Pfarrhaus mit Eltern, die gegen das Nazisystem opponierten. Neben erschütternden Szenen kommen immer wieder auch heitere Episoden zur Sprache, zum Beispiel wie sich das Kind die NS-Propaganda zu erklären versucht: Können Menschen umfallen wie Bäume im Wald oder wie Ähren auf dem Feld?
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Buchvorschau
Kinderjahre im Schatten des Dritten Reichs - Hanna Esslinger
Vorbemerkungen
Je älter ich werde, umso stärker drängen sich Erinnerungen an meine Kinderjahre ins Bewusstsein. Besonders lebendig werden mir bestimmte Szenen und Situationen aus den Jahren von etwa 1939 bis zum Ende der Nachkriegszeit und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949.
Dass ich diese Jahre so intensiv erlebt habe, ging nicht nur mir so, auch andere, damals Erwachsene, empfanden dies später genauso und begründeten es damit, dass alle damals mehr oder weniger lebensbedroht waren und sehr existenzielle Erfahrungen machten, wie beispielsweise Hunger und Kälte, wie sie es auch im Ersten Weltkrieg erlebt hatten, wenn sie alt genug waren.
Mir waren diese Gefühle als Kleinkind nicht so deutlich bewusst. Gefühlt habe ich sie sehr intensiv, später wurden sie vergessen, oder mehr noch, verdrängt. Doch jetzt im Alter drängen sie wieder ins Bewusstsein, und zwar nicht nur als Bilder, wie Fotos aus früheren Jahren, sondern verknüpft mit all den damals erlebten Ängsten und Gefühlen.
Warum fällt es mir so schwer, etwas von dem damals so intensiv Erlebten niederzuschreiben, habe ich doch in all den Berufsjahren viel über und für andere Menschen geschrieben? Sicher liegt es nicht nur daran, dass ich seit meiner Erblindung nicht mehr mit der Hand Buchstaben aufs Papier bringen kann, was für mich früher ein sehr lustvoller Vorgang war. Ist es die Scheu, schriftlich etwas festzuhalten, worauf ich später festgelegt werden kann? Dazu kommt das Wissen, dass Erinnerungen nicht etwas Einmaliges sind, die auf der Festplatte des Gedächtnisses ein für allemal feststehen, sondern immer wieder dem Prozess des Überschreibens durch innere Bearbeitungsvorgänge unterworfen werden. Doch ich will versuchen, diese Schreibbarrieren zu überwinden, und mich daran machen, das festzuhalten, was ich heute als alte Frau behalten habe. Ich versuche höchst subjektiv einer jüngeren Generation, die das sogenannte „Tausendjährige Reich" nicht erlebt hat, zu erzählen, wie ich es damals als Kind empfunden habe und wie es auf mich gewirkt hat.
Ich bediene mich anfangs dabei eines Hilfsmittels, das im Aussterben begriffen ist, nämlich der Sprechkassette, und übertrage es anschließend in den Computer, da für mich der elektronische „Datenweg" noch nicht so selbstverständlich ist wie ein Diktiergerät, dessen ich mich über Jahrzehnte bedient habe.
Da diese Methode recht mühsam und zeitaufwendig ist, gehe ich dann doch dazu über, den Text aus dem Kopf in den Computer zu übertragen.
Schon daran wird mir deutlich, wie viel sich verändert hat seit den Jahren meiner Kindheit. Ich lernte das Schreiben mit dem Griffel auf der Schiefertafel. Das Telefon war für mich ein Gerät, das in Vaters Arbeitszimmer stand und von uns Kindern nicht berührt werden durfte. Es war damals ein Kommunikationsmittel, das nur wenigen Menschen, und diesen mehr aus beruflichen Gründen, zur Verfügung stand, wie beispielsweise der Polizei, dem Doktor und dem Pfarrer. Ferngespräche mussten im Fernsprechamt angemeldet werden und wurden dort von Hand von einem sogenannten „Fräulein vom Amt vermittelt, das nach einer mehr oder weniger langen Wartezeit mit dem Satz zurückrief: „Ich verbinde Sie mit dem gewünschten Teilnehmer.
Leben wir heute in dem sogenannten „elektronischen Zeitalter", so erlebte ich einen technisch-industriell bestimmten Krieg, an dessen Ende der Einsatz der Atombombe stand.
Geboren wurde ich in einem kleinen Schwarzwaldstädtchen und wuchs die ersten Lebensjahre in einer vorwiegend agrarisch bestimmten Umwelt auf, geprägt von bäuerlicher Handarbeit und weitgehender Selbstversorgung, die kriegsbedingt länger anhielt, als dies vermutlich in Friedenszeiten der Fall gewesen wäre. Ehe ich mich an die Schilderungen meiner Kindheitserfahrungen und oftmals auch traumatischer Eindrücke mache, will ich den familiären Bezugsrahmen skizzieren, in dem sich meine Kinderjahre abgespielt haben.
Ich kam im Dezember 1936 in Wildberg, einem kleinen Schwarzwaldstädtchen, als ältestes von fünf Kindern zur Welt. Es war die erste Pfarrstelle meines Vaters. Die Eltern bewohnten ein uraltes Pfarrhaus, das nur schwer beheizbar war. In einer kalten Winternacht vor Weihnachten kam ich sechs Wochen zu früh und damit überraschend zur Welt. Der von meiner Mutter am Abend vorbereitete Brotteig stand im Backtrog für den nächsten Morgen bereit und musste dann von meinem Vater am folgenden Tag ausgebacken werden. Zunächst musste er jedoch in der Nacht mit einem starken Kaffee erst einmal den herbeigerufenen Arzt aus der Dorfschenke in einen nüchternen Zustand versetzen, während die alte Hebamme jammernd ausrief: „Es ist halt ein arg grings Kend." So berichtet zumindest die Familiensaga.
Meine Eltern stammen aus sehr unterschiedlichen Elternhäusern. Dies erlebte ich anregend und schwierig zugleich im unmittelbaren Zusammensein mit den jeweiligen Großeltern, aber mittelbar auch durch die Lebenseinstellungen der Eltern.
Kapitel 1
Der Versuch, mich an meine frühen Kinderjahre zu erinnern, kommt mir vor, als müsste ich zunächst wie bei Frau Holle in einen tiefen Brunnen springen. Nach diesem Sprung in den Schacht des Vergessens ist es, als stünde ich vor einem Baum mit reifen Früchten, der geschüttelt werden will. Doch da geht es mir wie dem Mädchen im Märchen, das zögert, ob es dem Ruf des Baumes folgen und seine Früchte pflücken soll. Ich weiß nicht, ob sie schmackhaft oder auch bitter sind. Um dies zu wissen, muss ich sie erst einmal ernten. Ein inneres Gefühl sagt mir, dass es wohl eine Mischung von beidem ist, Gold und Pech.
Dass meine frühesten Erinnerungen kaum bildhaft sind, muss mich nicht verwundern, da ich als schwachsichtiges Kind viel mehr akustische Eindrücke, Geruchswahrnehmungen und haptische Empfindungen gespeichert habe.
Da ist ein Raum, in dem es vielerlei Geräusche gibt, aber ich spüre auch Wärme auf der Haut, die, wenn man immer dichter an sie herangeht, auch schmerzhaft sein kann.
Und dann die guten Gerüche! Hier in der Küche gibt es das, was man in den Mund steckt und was auch schmecken kann, im Unterschied zu so manchen Dingen, die ich mir in den Mund stecke, um auszuprobieren, ob sie weich oder hart sind. Ein großer Mensch, meist Mama oder Papa, entwendet die Gegenstände entweder noch vor dem Mund oder, was mir unangenehmer ist, zieht sie aus dem Mund heraus.
Viel aufregender ist für mich die Welt draußen im Freien. Dort sind die vielfältigen Gerüche, die mit all den Pflanzen im Garten zusammenhängen, wie erst später aus den Geruchserinnerungen deutlich wird, die mich bis heute so stark überfallen können, wie sie es nur in früher Kindheit tun konnten, wo sie als erste Erfahrungen auf ein noch wenig beschriebenes Erinnerungsfeld gefallen sind.
Neben den Gerüchen und Geräuschen in und um das Haus gibt es immer mehr und vielfältigere Eindrücke, je weiter mich die kleinen Füße tragen, manchmal an der Hand der mich umgebenden Erwachsenen. Nach und nach aber auch ganz alleine auf meinen Erkundungswegen, die in einer Kleinstadt, umgeben von Nachbarn, denen ich bekannt bin und die ein wachsames Auge auf mich werfen, ungefährlich sind. Ihre Stimmen sind mir bald auch vertraut und so wage ich mich, angezogen von dem warmen, nach Milch duftenden Geruch, in den Kuhstall nebenan und höre zu, wie munter die Milch in den Melkkübel rinnt.
So bekommen nach und nach diffuse Geräusche ihre sinnliche Zuordnung und aus der Muh wird eine Kuh und von ihr stammt die Milch, die ich morgens und abends so gerne trinke, weil