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Im leeren Himmel
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eBook256 Seiten8 Stunden

Im leeren Himmel

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Über dieses E-Book

Adán lebt in einer Welt der Bücher, als er Aliénor das erste Mal erblickt. Was als flüchtiger Austausch beginnt und nicht von langer Dauer zu sein scheint, führt sie durch eine Kette von Zufällen und Entscheidungen zueinander. Aus der Magie eines Konzertes entfaltet sich eine Zuneigung, die den beiden neue Welten offenbart und sie auf einen gemeinsamen Weg lenkt. Eine Beziehung scheint greifbar, doch eine schier unüberwindliche Mauer hält Aliénor zurück. Adán versucht zu ergründen, welche Bürde sie trägt, die ihrer Liebe im Weg steht. Immer getrieben von dem Wunsch, gemeinsames Glück zu finden, während er darum kämpft, nicht zu zerbrechen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Okt. 2023
ISBN9783347939400
Im leeren Himmel
Autor

Florian Bottke

Florian Bottke, geboren 1987, arbeitet als passionierter Softwareentwickler und lebt seit vielen Jahren in Mecklenburg-Vorpommern. Dort genießt er die wundervolle Landschaft und die freundlichen Menschen der Region. Neben technischen Fachbüchern und Publikationen widmet er sich mit großer Hingabe der Belletristik. Sein Debütroman „Im leeren Himmel“ erschien 2023.

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    Buchvorschau

    Im leeren Himmel - Florian Bottke

    Für die Farbe Grün, die Zahl Fünfzehn, das Wohlwollen und Verständnis und die Seele, ohne die all das bedeutungslos wäre.


    Vergänglichkeit zeichnet uns aus. Doch schöpfen wir aus ihr das, was uns vorankommen lässt. Und so sehen wir in manchen Menschen plötzlich ein Stück der Ewigkeit.


    Präludium

    Wenn Sterne tanzen, ihre Glut sich erhebt. Wenn der Wind heult, der Berg schwankt. Wenn des Inneren kleine Stimme geht. Wenn die Welle dich an die Klippen schlägt. Wenn die Lilie im Morgenlicht bricht. Wenn das Sein sich in Agonie wandelt. Wenn das Meer stillsteht und nichts mehr schwankt.

    Dann kommt mein Lied und wird dich berühren. Du wirst dich erinnern an mich. Die Sonne wird lächeln. Es wird Frieden sein, die Erde sich still zurückziehen und der Himmel sich öffnen.

    Prolog

    Ich hatte das Leben verstanden. Oder das, was es bedeuten sollte. Alles war so klar. Im Laufe meines Lebens führte ich Beziehungen, ging jeden Tag zur Arbeit, kam wieder nach Hause.

    Da war diese Gewissheit, wie sich Beziehungen anfühlten, was Nähe bedeutete und was das Leben ausmachte. Mehr war nicht zu erwarten.

    Wo doch die menschliche Erfahrung begrenzt ist, auf das, was wir fühlen. Auf das, was wir gefühlt haben. Und nach vielen Jahren feststellen, dass da nicht mehr ist. Wir so Moment um Moment verleben und am Ende nicht mehr sind.

    Doch was wenn? Wenn es nicht so sein muss, sondern da mehr ist? Absurd.

    Es war Zufriedenheit, die ich empfand. Angekommen an einem Punkt im Leben, an dem ich dachte, dass alles so ist, wie es sein sollte. Doch ich lag falsch. Und ich war nicht der Einzige.

    Wir würden uns verändern, über die Grenzen hinauswachsen, die uns auferlegt wurden, und zu etwas Neuem werden.

    »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, las ich den Anfang der Nachricht. Nicht wissend, wie ich damit umgehen würde. Umgehen sollte.

    Magisches Meer

    1

    Es war ein wenig kalt draußen. Nicht besonders kalt, aber es war zu bemerken, dass der Herbst einsetzte. Der Blick aus dem Fenster zeigte die Landschaft, die an mir vorbeiglitt.

    Etwa anderthalb Stunden sollte es noch dauern, bis ich ankam. Das behauptete zumindest meine Uhr. Nur langsam schritt die Zeit auf ihr fort. Zugfahrten waren immer seltsam. Ich hatte noch Zeit und könnte etwas tun. Ein Buch lesen oder ein paar Zeilen niederschreiben. Stattdessen sah ich aus dem Fenster.

    Die letzten Wochen und Monate waren ereignisreich gewesen. Ich blickte vom Fenster weg und betrachtete meine Hand. Ein weißer Streifen war dort zu sehen, wo ich vorher meinen Ehering getragen hatte. Es war eine Trennung in Verständigung.

    Wir hatten uns wohl auseinandergelebt, wie es so gerne gesagt wird. Über viele Jahre waren wir glücklich, und es war schön gewesen. Nur leider hatte es nicht für ein ganzes Leben gereicht. Und so verließen wir einander und lebten weiter.

    Eine Durchsage ertönte. Der Zug wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Ich blickte zu den Türen des Zuges und sah Menschen aus- und einsteigen.

    Der Zug fuhr wieder los. Ich wandte mich abermals zum Fenster und starrte in die Landschaft.

    2

    Endlich war ich wieder zu Hause. Mit dem Zug zu reisen, war immer eine etwas beschwerliche Angelegenheit.

    Es war die Reise an sich, die Frage, ob ein Sitz erhascht werden konnte, und es erträglich war im Zug. Alles in allem war mir das Fahren mit der Bahn zuwider. Zu viele Unannehmlichkeiten. Zu wenig Freude.

    Die Tür schloss sich, und ich sah mich um. Das Haus war leer. Es fühlte sich seltsam an. Die Dämmerung war mittlerweile in die Dunkelheit übergegangen, und dadurch wirkten die Räumlichkeiten noch etwas kälter.

    Dann dieses Gefühl. Der Versuch, die Träne zurückzuhalten. Doch sie rann bereits durch mein Gesicht. Ich wischte sie beiseite und betrat das Wohnzimmer. Es wurde in ein schummeriges Licht getaucht. Mein Blick fiel auf das Klavier.

    Einige Schritte später stand ich davor und strich über das Holz. Es war mehr als das. Es war ein Versprechen, eine Tiefe, gehüllt in Holz, schwarzen Lack, Tasten und Mechanik. Ich setzte mich vor das Klavier, schob den Klavierdeckel zurück, drückte das rechte Pedal und schloss die Augen.

    Dann erklang der erste Ton mit der rechten Hand, ein tiefer Akkord mit der linken Hand. Stück für Stück entstand aus einzelnen Tönen Kunst in der Zeit. Musik, die mich ausdrückte und definierte, wer ich war und was ich empfand.

    Wenn es den Moment gab, in dem ich selbst nicht wusste, wie ich mich fühlte, so zeigte es mir die Melodie, die ich spielte. Ich hörte, wie aus meinen Gefühlen und Emotionen Musik wurde und sich Note für Note herauskristallisierte, was ich empfand.

    Einige Minuten widmete ich mich dem Klavier, und als die letzte Note verklang, schloss ich den Deckel wieder und stand auf. Ich sah auf die Uhr und beschloss, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen.

    Es dauerte einen Moment, bis sich die Decke um mich schmiegte, ruhige Musik lief und meine Gedanken sich in der Dunkelheit verloren.

    3

    Die morgendlichen Sonnenstrahlen entführten mich in eine Halbwelt. Jene, die ich betrat, wenn ich wusste, dass ich schlief, aber bereits wach wurde. Mit dem ersten Klang meines Weckers versuchte ich noch, einen Blick auf den Traum zu erhaschen.

    Es war dieses Gefühl, nicht wirklich geträumt, sondern einen Ausschnitt einer Realität betrachtet zu haben, und der Versuch, wieder in diese zurückzukehren.

    Aber wie jedes Mal löste sich dieser Traum, diese Realität wieder auf und mit ihr all die Gefühle, die sie enthielten. Sie gaben den Moment frei, in dem alles in Ordnung gewesen war.

    In dem wir noch nicht realisiert hatten, wer wir waren und welche Probleme uns belasteten. Einfach der Augenblick, in dem wir Menschen ohne Sorgen waren. Diese kostbaren Sekunden, in denen wir mit der Welt im Reinen waren. Oder vielleicht vielmehr die Welt um uns herum nicht existierte.

    Es nur das gab, was wir unmittelbar spürten. Die warme Decke und das Kissen unter unserem Kopf. Ich sah die weiße Zimmerdecke, an der die Schatten und das Licht an diesem Morgen ein Stück aufführten.

    Was die Schatten wohl darstellten? Die umhergeworfenen Bäume, die sich im Wind wiegten und ihre Blätter diesem überließen. An diesem Morgen, der dem Namen Herbst alle Ehre machte.

    4

    Als sich das Gebäude langsam in Sichtweite erhob, war ich überrascht. Davon, wie aus meinem Ich, das eben noch verträumt im Bett gelegen hatte, ein Mensch geworden war. Jemand, der nun eine soziale Funktion erfüllte und ein Bild von sich nach außen gab, das mit der Gesellschaft konform war.

    Mich trieb der Gedanke umher, wie traurig es war, dass wir niemals erfahren würden, wie ein anderer Mensch wirklich war und sein konnte. Doch so flüchtig, wie dieser Gedanke da war, so schnell verschwand er wieder, als ich durch das Portal des Gebäudes trat.

    Eigentlich sollte jeder vor diesem innehalten und das Gebäude betrachten. Es fühlte sich in Teilen an, als wäre es einem griechischen Tempel entsprungen. Vermengt mit einer modernen Architektur, ohne das Bild des Altertums zu hintergehen, und doch ein in sich schnörkelloser Bau, der damit glänzte, dass er Funktion über die Form stellen würde. Er gab dem, was sich in ihm befand, einen würdigen Rahmen.

    Die Bibliothek oder, wie meine Chefin Frau Gottwald gerne zu sagen pflegte, das Büchermuseum. Es war um diese Zeit noch nicht sonderlich gut besucht. Aber das würde sich im Laufe des Tages ändern.

    Nachdem ich einige Schritte durch die Haupthalle gelaufen war, stand ich vor einer Tür. Ich verharrte, griff in meine linke Tasche und zog eine Karte heraus. Diese zog ich durch das Lesegerät, das an der Tür angebracht war, und gab meinen Sicherheitscode ein. Ein Piepen ertönte, und die Tür öffnete sich.

    Die Erinnerung, wie ich in meinem ersten Tag durch diese Tür getreten war, kam auf, und ich wusste, welche Freude mich durchfahren hatte, als ich die Bücher hinter ihr sah. Es war ein angenehmes Gefühl gewesen, und gelegentlich überkam es mich wieder, wenn ich eintrat und das gesammelte Wissen dieser Institution sah.

    An meinem Arbeitsplatz angekommen, tat ich das, weswegen ich hier war. Bewahren. Bücher, mit denen es die Zeit nicht so gut gemeint hatte, Stück für Stück zu heilen und ihr Leben zu verlängern.

    Am Ende war der Verfall unvermeidlich. Eines Tages würden auch diese Bücher nicht mehr sein als Erinnerungen. Die Originale, geschrieben vor Dekaden oder Jahrhunderten, würden zerfallen und im Staub der Ewigkeit verschwinden.

    Aber nicht heute. Heute waren wir ein Bollwerk gegen das Vergessen und würden diesem Buch etwas Zeit schenken. Es war nur ein fairer Tausch. Ich tauschte etwas meiner Lebenszeit gegen Zeit, welche dieses Buch in die Zukunft tragen würde.

    Ich mochte diesen Beruf, diesen Ort, es war ein Ort, an dem die Zeit verflog und der mir das Gefühl oder eher die Gewissheit gab, Erfüllung zu bieten. In einer Welt, die immer näher rückt, lauter wird, in der Geschwindigkeit nur eine Richtung kennt, in dieser Welt genoss ich diese Insel der Ruhe.

    Vorsichtig entfernte ich mich von dem Buch, eine seltene Handschrift eines Präzeptors. Es war wohl der Kreislauf des Lebens, wir kamen in diese Welt, lernten, wie sie funktioniert, lebten auf ihr, und eines Tages verließen wir sie wieder. Dann waren dort die Menschen, die uns hierbei ihre Hilfe anboten, mit Rat und Tat beiseitestanden und uns für einen Augenblick mit Licht beschenkten.

    Vielleicht versuchte ich manchmal zu viel in die Profanität des Lebens hineinzuinterpretieren. Am Ende war wohl alles sinnlos. Wir zerfielen und in Zukunft das Universum mit uns, starb den Kältetod und ließ Begriffe wie Zeit bedeutungslos werden.

    Aber gerade deswegen war es wichtig, dass wir hier waren. Immerhin waren wir das, was zählte in dieser Welt, die aus unserer Perspektive erzählt wurde, und wir nur diese kannten. Und doch das Geschenk erhalten hatten, die Welt aus der Perspektive der anderen zu sehen.

    Meine Uhr vibrierte und verriet mir, dass ich die Zeit aus den Augen verloren hatte. Auch mein Körper teilte mir unmissverständlich mit, dass es Zeit war, etwas zu essen, und so beschloss ich, ihm zu folgen. Gleichzeitig amüsierte mich der Gedanke, dass mein Körper und mein Bewusstsein zwei unterschiedliche Entitäten wären.

    Als ich den gesicherten Bereich verließ, wurde die Umgebung wieder lauter. Es waren mehr Menschen in der Bibliothek als noch vor ein paar Stunden. Einige liefen durch die Gänge zwischen den Regalen, andere saßen an den Tischen unter dem Licht der Leselampen und lasen. Ich hörte das Geräusch von Papier und dem Umblättern. Zusammengenommen ergaben sie einen Eindruck von Gemeinschaft und doch nicht miteinander verbundener Lebenslinien, einer Menge sich sonst unbekannter Menschen.

    Plötzlich hielt ich inne. An einem der Tische saß eine Frau. Sie hatte langes Haar, dessen walnussbraune Farbe im Licht der Sonne schimmerte. Ich wusste nicht, warum, aber es gab ihr ein Antlitz, welches ich mir nicht erklären konnte. Es fühlte sich an, als ob ich in ein Rätsel blickte, das ich in diesem Moment nicht lösen konnte.

    Aber dieser Gedanken wurde dadurch verdrängt, dass mein Körper mir zu verstehen gab, dass er in den Genuss von etwas Essbarem kommen wollte. So sah ich in Richtung des Ausganges, einem Mittagessen entgegen. Die Sonne legte sich auf meine Haut und zauberte mir trotz des Herbstes ein warmes Gefühl.

    5

    Gewohnheiten waren schnell geschaffen und nur schwer wieder abgelegt. So war es wohl auch mit dem alltäglichen Leben und dem Wissen darum, dass jeder Tag wie der andere war.

    Mittlerweile waren einige Wochen vergangen, seit ich sie das erste Mal gesehen hatte. Es fühlte sich wie ein erster Stein an, der Ereignisse in meinen Gedanken in Gang gesetzt hatte. Ohne dass dies beabsichtigt war.

    Aber wenn eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt worden war, dann war die Ursache geschaffen, und auf eine solche folgte eine Wirkung. Die Gesetze des Universums verlangten es in dieser Form.

    Langsam erwachte ich wieder aus meinen Gedanken. Ich saß in der Bibliothek und wartete darauf, dass der Kleber trocknete. Ich nahm den Tupfer, weichte ihn in der Lösung ein und zog diese über das alte Papier. Der Schleier der Jahrhunderte lüftete sich, die Farbe des Papiers hellte auf. Der Tupfer wurde dunkel und nahm die Verunreinigung der Zeit mit sich.

    Mein Handy vibrierte. Ich unterbrach meine Arbeit und griff danach. Eine E-Mail. Ein Blick, dann legte ich das Handy wieder beiseite. Für einen Moment schweiften meine Gedanken zum Nachmittag. Aber dann folgte der Gedanke, dass es am Ende der Woche nicht mehr weiter von Belang war.

    Stattdessen würde sich ein Schleier über die Vergangenheit legen, die Zeit wäre vergangen und verloren. Es war der alltägliche Trott, dem ich folgte. Weil wir es alle taten.

    Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Hast du das Paper gelesen?«

    Ich schreckte hoch. Vor mir stand Valentin. Ich wusste nicht, wie lange er schon hier arbeitete, aber ich war mir sehr sicher, dass er keine Personalnummer hatte, sondern wohl eher eine Inventarnummer. Wahrscheinlich zweistellig.

    »Welches Paper?«, fragte ich.

    »Na, das über die Nassrestauration verklebter Werke.«

    Ich überlegte einen Moment und bemerkte, dass ich wohl die letzten Tage zu viel mit dem Werk auf meinem Schreibtisch zugebracht hatte. »Nein. Hatte ich nicht. Ist es gut?«, fragte ich Valentin.

    »Es ist interessant. Ich lege dir nachher mal eine Kopie auf den Tisch.«

    Ich nickte leicht. »Danke.«

    Als ich mich gerade wieder dem Werk widmen wollte, hörte ich eine weitere Stimme. »Wie weit ist das Buch?« Ein Blick nach oben. Christina stand vor mir. Oder wie sie die meisten hier nannten: Frau Gottwald.

    »Ein paar Wochen wird es noch dauern«, antwortete ich.

    »Das muss schneller gehen, wir haben noch weitere Aufträge.«

    »Ich versuche mich ranzuhalten«, erwiderte ich.

    Sie ging, und ich überlegte, ob sie es jetzt beschwichtigend zur Kenntnis genommen oder ob sie es missmutig aufgenommen hatte.

    Druck und Stress. In den meisten Fällen war es nichts, was mir etwas ausmachte. Es war ein seltsamer Zustand. Ich wurde ruhig, atmete einige Male tief durch. Und dann widmete ich mich wieder der Arbeit. Sorgfältig und etwas schneller als noch vor ein paar Minuten.

    Es war ein angenehmer Zustand. Das Gefühl absoluter Konzentration. In der Arbeit aufzugehen und sich Stück für Stück der Lösung nähern, das Werk vollenden.

    Doch manchmal war da dieser Stress, der dem Körper sagte: Bis hierher und nicht weiter. Und dann erklang er. Der Ton, der alles übertönte. Der Schreck, wenn er erklang und auch nach einigen Sekunden nicht nachließ.

    Manchmal dachte ich daran, wie es war, bevor der Ton da gewesen war. Es war ruhig. Und in absoluter Ruhe war es zu hören – das Rauschen im Kopf. Nun war es der ewige Ton.

    Mit der Zeit wurde er zu einem treuen Begleiter. Wie das Wählgeräusch des Universums. Solang er erklang, war alles in Ordnung. Doch in manchen Situationen wurde es plötzlich lauter.

    Es war der Weg des Körpers, zu sagen, dass etwas nicht stimmt. Und es war unangenehm, wenn das Geräusch immer lauter wurde. Gelegentlich kam die Angst hervor. Die Angst vor dem Geräusch, von der Umwelt abgeschnitten zu werden und das Geräusch nicht mehr ertragen zu können.

    6

    Die Zeit verstrich, und immer wieder sah ich sie. Wie jeden Tag saß sie an einem der Tische und las ein Buch. Gelegentlich blickte ich hinüber, und dann ging ich wieder meiner Arbeit nach.

    Heute war etwas anders. So blieb ich stehen, blickte einen Moment zu ihr hinüber. Sekunden vergingen. Gedanken überschlugen sich. Ich wusste nicht genau, weswegen. Aber ich ging auf sie zu.

    Dann stand ich vor ihr. »Hallo«, sagte ich.

    Sie sah auf, und ich hatte das Gefühl, dass sie mich das erste Mal wahrnahm. Das erste Mal ein Bild von mir in ihr entstand. Eine Vorstellung, wie der andere wohl sein könnte.

    »Hallo«, antwortete sie.

    »Bist du öfter hier?«

    Sie legte das Buch zur Seite. »Ja. Es sind die Geschichten, die mich anziehen«, sagte sie und lächelte.

    »Geschichten?«, fragte ich, und im selben Augenblick kam mir diese Frage ziemlich dumm vor.

    »Ja. Es gibt exakt zwei magische Dinge in dieser Welt: Menschen und Geschichten.«

    Ich zog den Stuhl, der ihr gegenüberstand, ein Stück zurück und setzte mich.

    »Ich mag diesen Gedanken«, antwortete ich.

    »Er ist das, was ich mitgenommen habe, aus dieser Welt. Während die Welt für Kinder noch magisch wirkt, begreifen sie doch mit wachsendem Alter, dass es sich nur um Atome, Physik, Chemie und Biologie handelt, die sich nach bestimmten Regeln verhalten. Die Welt verliert ihre Magie.«

    »Ja«, antwortete ich, und eine Traurigkeit zog sich über meine Stimme. »Aber warum sind Menschen magisch?«

    Sie lächelte mich an. Es fühlte sich seltsam an. Als ob sie eine Weisheit besaß, die mir fehlte. Eine Einsicht, die über die meine hinausging. Dann hörte ich wieder ihre Stimme: »Menschen sind magisch, denn wir durchschauen ihre inneren Mechanismen nicht, und Bewusstsein führt uns vor Augen, dass es in ihnen ein magisches Meer gibt.«

    Vielleicht lag ich mit der Weisheit, die ich ihr zuschrieb, gar nicht so falsch. »Aber was ist mit den Geschichten?«, fragte ich.

    »Geschichten sind wahrscheinlich Magie in ihrer puren Form. Durch das Konstrukt von Kultur erschaffen Menschen diese, übertragen sie durch Sprache oder halten sie mittels der Schrift fest. Mit Geschichten schwingen sie sich zu Göttern auf, denn in ihnen erschaffen sie jedes Mal aufs Neue ein Universum.«

    Ich wollte eine Frage stellen, doch noch bevor ich den Mund öffnen konnte, hatte ich das Gefühl, sie zu unterbrechen, und blieb stattdessen stumm. Unterdessen fuhr sie fort:

    »Ein Universum, in dem wir die Regeln definieren, ein solches, in dem wir den Ton angeben, und doch ein Universum, das lebendig wirkt oder sogar lebendig ist. In dem die Figuren ein Eigenleben entwickeln und ihrem inneren Kompass folgen. Aus unbelebten Dingen, wie Quarks und wechselwirkenden Feldern, entstehen Menschen, Bewusstsein und am Ende Geschichten. Geschichten, die die Welt erhellen und ihr ein Stück Magie schenken.«

    Ich war verdutzt, und ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, ohne zu wissen, warum genau. »Es sind wundervolle Gedanken. Bist du morgen auch wieder hier?«

    Sie blickte auf das Buch, das vor ihr auf dem Tisch lag, und dann zu mir: »Nein, nur noch dieses Buch und dann verlasse ich diesen Ort wieder.«

    Ein Schauer überfiel mich. Eine seltsame Mischung aus Angst und Überraschung. Das Gefühl, das Gegenüber eben in diesem Moment kennengelernt und schon wieder verloren zu haben.

    »Und wo bist du dann?« Ich befürchtete, dass die Frage zu aufdringlich sein könnte.

    Doch sie schien mir die Frage nicht übelzunehmen: »Zu Hause, über die Geschichten nachdenken.«

    »Ich verstehe«, erwiderte ich und verstand doch nur wenig. »Es war schön, dich

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