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Markus Blume führt dich durch die Zeit: Von Miri und der Wanderin der Nacht
Markus Blume führt dich durch die Zeit: Von Miri und der Wanderin der Nacht
Markus Blume führt dich durch die Zeit: Von Miri und der Wanderin der Nacht
eBook402 Seiten5 Stunden

Markus Blume führt dich durch die Zeit: Von Miri und der Wanderin der Nacht

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Über dieses E-Book

Markus Blume lebt in Berlin Pankow.
Er ist zerrissen im Inneren und mit sich im Zweifel, ist auf der Suche und findet nicht seinen Tritt. Beruflich ist er als Verwerter der Vergessenen unterwegs, alte Immobilien taxen und für den Verkauf vorbereiten – sein Leben.
Miri und die Wanderin der Nacht konnten ihn nicht‘s vergessen lassen. Markus war ins andere Licht des Lebens gerückt worden.
SpracheDeutsch
HerausgeberAnthea Verlag
Erscheinungsdatum29. Juni 2016
ISBN9783943583922
Markus Blume führt dich durch die Zeit: Von Miri und der Wanderin der Nacht

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    Buchvorschau

    Markus Blume führt dich durch die Zeit - Lüerß Werner

    Markus Blume

    führt dich durch die Zeit.

    Von Miri & der Wanderin der Nacht

    Schwimmende Welteninseln haben keinen Strand der Ruhe.

    Werner Lüerß

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Impressum

    Widmung

    Worte zum Beginn

    1

    2

    3

    4

    5

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    25

    AUS DEM AKTUELLEN VERLAGSPROGRAMM...

    Impressum

    © 2015 by ANTHEA VERLAG

    Hubertusstraße 14

    D-10365 Berlin

    TEL: 030 993 93 16

    FAX: 030 994 01888

    eMail: info@anthea-verlag.de

    Verlagsleitung: DETLEF W. STEIN

    www.anthea-verlag.de

    Lektorat: Jonas-Philipp Dallmann

    Umschlaggestaltung: Hannes Berghof

    Korrektorat: Aleksander Abramović

    Satz: Thomas Seidel

    E-Book-Herstellung

    : Zeilenwert GmbH 2016

    ISBN 978-3-943583-92-2

    Dieses Buch ist für meine Eva-Maria.

    Danke für alles!

    Worte zum Beginn

    Dieses Buch soll uns wach halten.

    Unsere Gedanken nicht angreifbar machen,

    Frei mit seinen gesprochenen Worten umzugehen.

    Dies ist die Quelle aller Freiheit!

    Wie in dieser Geschichte von Markus.

    Ich bin Markus Blume

    Mein Leben ist gut, alles ist geregelt. Ich weiß, was gestern war, was heute ist und was morgen vielleicht sein wird.

    Jeden Morgen gehe ich zur Arbeit, manchmal fällt es mir schwer, mich aus dem Schlaf zu lösen, in der Regel aber wache ich in eben jenem Augenblick auf, der mir die Zeit gibt, gemächlich die kleinen Handgriffe zu tun, die man braucht, um für einen ganzen langen Arbeitstag gerüstet zu sein.

    Diese Tage ähneln oder gleichen sich so sehr, dass ich sie im Gedächtnis nicht mehr auseinanderhalten kann. So muss es wohl sein, anders kenne ich es nicht.

    Eigentlich bin ich zufrieden.

    Was nagt in mir? Der Lauf eines ganzen langen Tages, die abendliche Ruhe, die Freude am alltäglichen Einerlei - alles wird plötzlich unterbrochen und gestört durch plötzlich aufkeimende Unruhe.

    Anfangs wusste ich nicht, was ich selbst davon halten soll, schalt mich, die Ordnung unnütz gestört zu haben, etwas zu dulden, was nur Ärger bringen konnte.

    Aber das half nicht.

    Der Versuch, alles zurückzudrängen, weckte nur ein Gefühl in mir, etwas zu versäumen, etwas ganz Wichtiges nicht zu Wort kommen zu lassen. Irgendetwas in mir schien zu rufen:

    Wach endlich auf und schau dich um!

    Ich dachte, es verginge wieder, vielleicht hatte ich in der letzten Zeit zu viel gearbeitet, hatte plötzlich hinter den Akten die Menschen gesehen, deren Schicksal durch meine Arbeit beeinflusst wurde.

    Möglich wäre auch, dass ich mir keine Abwechslung gegönnt und sich auf einmal die Menge der Akten in lebendige Vorgänge, erlebt und durchlitten von Menschen, verwandelt hatte. Es musste ja vergehen – aber nein, es kam wieder und drang immer mehr und stärker in mich ein, als suchte es mich zu zwingen, ihm meine Aufmerksamkeit zu schenken.

    Eines Nachts wachte ich auf – oder auch nicht, befand ich mich in einer anderen Welt?

    Ich stand da und zu mir trat ein anderer Mensch. Nein, es war kein anderer, das war wiederum ich selbst, der mir da entgegen trat, und doch war es ein anderer, heiterer, ernster.

    Fest von Gestalt und dennoch nicht greifbar.

    Aber dieses gegenüber trat zu mir, streckte mir die Hand hin, mit einer fordernden Geste schien es auf mich einzudringen.

    Dann verschwand die Gestalt wieder, ich merkte, dass sie eine Traumfigur war, in mir blieb aber der Gedanke haften, dass es wie eine Herausforderung gewirkt hatte.

    Wem galt sie, und wenn sie ganz bewusst zu mir getreten sein sollte? Warum aber sollte ich gemeint sein?

    Seit diesem Erlebnis beginnt in mir die Frage zu keimen, warum ich herausgefordert war. Es wächst in mir und verfolgt mich der Gedanke, dass nicht einfach nur Neues auf mich wartet, sondern ich eine Haltung gewinnen müsse, die mich neu und anders zu leben zwinge.

    Mich bedrängte von Stunde zu Stunde mehr das Bedürfnis, alles zu prüfen, was mir bisher wichtig und womit mein Tag gefüllt war.

    Dafür aber müsste ich meinen eigenen Horizont weiten, ganz andere Dimensionen müsste ich in meinem Blick zu bringen versuchen.

    Aber ich lebte nun mal hier, konnte mich nicht einfach lösen, wollte auch nicht so tun, als ob ich einfach alles wegwerfen könne.

    Zurück aber konnte ich nun nicht mehr, und so musste ich jeden Tag erneut auf die Frage antworten: Ihr Seelen, die mich bedrängen, die meine ganze Existenz neu in Frage stellen, sucht Ihr mich?

    Sucht Ihr mich in meiner Zeit, oder wollt Ihr eine Antwort für euch selber? Seid Ihr es, die ihr den Schrei in mir ausgelöst habt, den Schrei auf der Suche nach Leben, nach dem ganzem Leben? Eigentlich war ich ein gelassener Typ, nichts konnte mich mehr erschrecken als ein Schrei.

    Ich geriet langsam vom Gleis, was ich alltäglich eigentlich erledigen wollte, wurde unwichtig, Gedankenwelten, ihr habt euch in meinen Vordergrund geschoben.

    Die Begegnung mit meinem Doppelgänger geriet immer wieder in meine Vorstellung, sie schien mir zu sagen, dass ich mich gefälligst auf die Suche begeben müsse, nicht warten dürfe, sonst würde ich mich selbst verlieren. Immer stärker spürte ich den Zwang in mir, jeden Schritt zu fixieren, ihn festzuhalten, um sodann weiter gehen zu können – nur säumen durfte ich nicht.

    Der Bruch mit allem, was bisher mein Leben bestimmt und ausgefüllt hatte, wurde mit der Zeit immer deutlicher; ich wusste immer besser, dass ich nicht mehr zurück konnte, sondern die Schritte nach vorn wagen müsste.

    Aufzuschreiben, was dann geschah, schien mir von Tag zu Tag mehr die einzige Lösung zu sein. Dieser Weg war auch geeignet, mich zum Tatsächlichen in dieser Welt zu führen, mir zu sagen, was nötig sein musste, um das Rechte zu tun.

    Es ist uns Menschen eigen, unsere Gedanken und Empfindungen, unsere Hoffnungen, Träume und Taten an das Schicksal von Menschen zu binden.

    So tauchte Miri in der Welt meiner Vorstellungen und Ideen auf.

    Ich sah sie, als sie jung war und ich sah sie als einen reifen Menschen, mit einem Schicksal voller Wandlungen.

    Das wiederum gab mir die Chance, mich selbst zu neuen Ansichten und Handlungen bewegen zu lassen.

    Wie eine Vision leuchtete sie in der Ferne, wie ein Irrlicht geisterte sie durch die Räume der Zeiten.

    Weniger genau als Miri vermochte ich eine Gestalt zu fassen, die ich nur als die Wanderin der Nacht bezeichnen kann.

    War sie es, die alle Fäden in der Hand zu halten schien und mit unsichtbarer Macht alles lenkte und leitete?

    Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass sie zu jeder Zeit und an jedem Ort plötzlich erscheinen konnte:

    Einmal sah ich Sie mit einem ratternden Einkaufswagen durch die Straßen rollen, dann schien sie zu wägen, zu richten und zu werten.

    Mit ihr entstand und verband sich mein Verlangen, hinter die Erscheinungen dieser Welt zu schauen, ihre geheimen Zusammenhänge zu erkunden und für mich erlebbar zu machen.

    Ich begann zu ahnen, wie zerrissen diese Welt war und ist, in der wir zu Hause sind. Die Kraft des Lebens „Miteinander und Füreinander" schien verlorengegangen zu sein.

    Ich spürte plötzlich, welcher Hass in allem steckte, wie es uns sehr schwer nur gelingen wollte, selbst zu einer gestaltenden Kraft zu werden.

    Ich suchte mit Miri nach den Sinn des Lebens in der Vergangenheit und wollte so die Spur zum Leben in der Gegenwart finden.

    Ich lernte, nicht mehr hilflos und blind durch die Ereignisse zu treiben, nicht mehr ohnmächtig und ohne Halt und Ziel zu existieren, sondern einen neuen Haltepunkt zu suchen und zu finden.

    Die Zeitenreise wurde zur Erkenntnisreise. Ich sah, dass Diktaturen das Leben verwüsten konnten, aber ich sah auch, dass sie bezwingbar waren. Miri war es, die zu mir sagte: ``Markus`` schau, sieh dort den ``Völkischen Beobachter`` vom 9. November 1938 vom Winde getrieben durch die Müllerstrasse in Berlin wehen.

    Die Menschen treten ihn achtlos beiseite. ``Das Vergängliche`` erkannte ich und das Bleibende, und ich fand im Ansatz den Weg, der es mir ermöglichte, selbst bestimmt und glücklich zu leben.

    Gutes zu fühlen und zu tun im richtigen Moment, das verhieß mir die Wanderin der Nacht, sei ein Weg, den ich gehen könnte.

    Wie ich zu dieser Einsicht gelangte, das will ich nun erzählen.

    1

    Der 21. Dezember 1991 begann mit der gleichen Gewalt wie der Vortag. Noch immer tobte über der Stadt ein Schneesturm. Die Menschen auf den Straßen waren schleichende Schatten.

    Für mich ein Tag, an dem ich lieber im Bett geblieben wäre. Allein die Vorstellung, dass ich noch bis zum 24. Dezember arbeiten musste, machte mir das Aufstehen nicht gerade leicht.

    Meine Wohnung war dunkel, trist. Ich hatte keine Lust auf Weihnachtsdekoration. In den Jahren davor war mein Wohnzimmerfenster immer festlich geschmückt gewesen. Dieses Jahr hatte ich dazu keine Stimmung. Ich fühlte mich leer, ausgelaugt.

    „He, alter Junge, was ist mit dir los? Du bist schon fünfunddreißig Jahre auf dieser Welt, und deine Gefühlswelt ist die eines alternden Teenagers, dem gerade sein Idol gestorben ist! Verdammt noch mal, Markus, reiß dich zusammen, lass dich nicht hängen!" Verschwinde, kümmere dich um deinen eigenen Kram. „Ich kann dich wirklich nicht verstehen, Markus! Schön, mein Herr. Ich musste selbst lachen bei diesem Gedankenspiel. Ist schon gut, ich werde mich bessern! „Na, geht doch, alter Junge!

    Zurück aus meinem Ich, führten meine Gedanken mich zu meinem Nachbarn – Jochen Lampe. Der hatte es besser als ich, seit sechs Wochen war er jetzt Rentner, seine Frau Gerda schmückte alles festlich. Sicher, ich mochte die leuchtende Pracht in den Fenstern. Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, es selbst zu tun.

    In unserem Haus lebten noch zwei andere Mieter: im Erdgeschoss Heinz Grahn mit seiner Frau Wilhelmine und im zweiten Obergeschoss unsere alte Dame, Fräulein Erika Grüneberg, schon seit 1932 hier ansässig. Ich glaube, sie war die erste Mieterin, die schon als Kind hierhergezogen war. Damals war es noch ein Neubau. Wir pflegten einen guten nachbarschaftlichen Kontakt zueinander. Jeder war für den anderen da, wenn es mal eng wurde.

    Es wurde langsam Zeit, dass ich mich fertig machte. Es war schon wieder sieben nach acht, mein Bus fuhr in fünfzehn Minuten an der Ecke Lampesteig, Richtung

    U-Bahnhof

    Residenzstraße.

    In den letzten Tagen war ich vergesslich. Beim Rausgehen ließ ich meinen Hut liegen, vergaß meine Handschuhe. Am Schlimmsten war es vor vier Tagen gewesen, da hatte ich meine Hausschuhe noch angehabt, als ich das Haus verlassen wollte. Heinz hatte hinter mir hergerufen: „Markus, du hast ja noch deine Hausschuhe an!"

    Ich schaute auf meine Füße. „Scheiße, schon wieder was vergessen!"

    Beim Hochrennen lachte Heinz mir hinterher: „Markus, renn nicht so schnell, sonst kommst du nicht heil zur Arbeit!"

    In die Stiefel und weg war ich, mit großen Sätzen die Treppe runter auf die Straße, dabei riss ich fast zwei Leute um. Ich rief gerade noch „Entschuldigung", dann war ich schon um die Ecke. Noch hundert Meter, Markus, dann hast du den Bus erreicht!

    An der Haltestelle war kein Mensch mehr da. Ein Blick auf die Uhr sagte warum: fünf Minuten zu spät! Verdammt, warum war die Zeit seit einigen Tagen so gegen mich? Was ich auch machte, immer kam ich zu spät!

    Der Schneesturm rüttelte mich, als wollte er mich für meine schlampige Tageseinteilung bestrafen. Ach, was sollte das ganze Gejammer? Mit hängendem Kopf machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum

    U-Bahnhof

    Residenzstraße. Die Minuten vergingen im Schneesturm wie Stunden; dreißig Minuten brauchte ich, um den kurzen Weg zurückzulegen. Einmal war ich kurz davor, mich auf die Nase zu legen. Beim Rutschen und Schlittern tastete ich nach etwas zum Festhalten: Mal war es der Briefkasten am Straßenrand, mal der Arm einer Person, die ich nicht kannte, im Sturm blind unterwegs wie ich. Ich hörte noch ihr Fluchen: „Pass doch auf, du alter Sack!" Ich tat so, als würde es nicht mich treffen. Markus, nur weiter, noch ein paar Schritte, machte ich mir Mut.

    Bevor ich das Ziel erreichte, riss mich das unaufhörlich fauchende Sturmschneegemisch wieder von den Beinen. Vor mir sah ich etwas Dunkles. Ich griff mit beiden Händen danach – eine Laterne. Ich rutschte bis auf die Knie an ihr runter. So ein blöder Tag! So langsam reichte es mir. In mir kochte es; am liebsten wäre ich den Weg zurückgeflogen: rein ins Bett und schlafen bis zum Frühling! Der Verzweiflung folgte auf den Fuß die Ermahnung meiner inneren Stimme: Aber nicht doch, Markus, ab zur Arbeit und kein Weg zurück!

    Bei diesem Gedankenspiel meines Seelenfreundes lachte ich aus ganzem Herzen. Ich raffte mich auf, noch ein paar Meter, endlich war mein Ziel, die

    U-Bahn

    , erreicht! Ich fühlte schon die Wärme, die mir aus dem Schacht lockend entgegenkam, rannte die Treppe runter. Der Zug stand gerade noch, der Schaffner rief: „Einsteigen, bitte!"

    Ein, zwei, drei große Schritte – im letzten Moment geschafft! Ich blickte mich um. Scheibenkleister, der Pöbel hat sich hier breit gemacht, keiner denkt an mich! Einen Platz bekam ich nicht, alles voller Menschen. Markus, ist doch egal, du bist noch jung, hast ja noch Kraft, sprach ich mir Mut zu.

    In meinem morgendlichen Durcheinander fiel mir nicht auf, welch schöner vorweihnachtlicher Duft aus den Wohnungen bei mir im Haus in meine Nase drang.

    „Komisch, ich stehe hier unter Menschen und spüre meine Nase nach Mandel und Pfefferkuchen suchen", stehe mit meinen Gedankenbeinen im Treppenhaus.

    Der Zug raste von einer Station zur nächsten. Nach der vierten verließen viele die Bahn. Ich sicherte mir erst einmal einen guten Platz. Meinen Nachbarn links musste ich ein bisschen beiseiteschieben – der hatte seine Tageszeitung mit beiden Armen ausgebreitet, als gehöre ihm der ganze Sitz. Er schaute mich grimmig an, als würde er sagen: Das ist mein Platz!

    „Widerlicher alter Sack, dachte ich, du solltest dich lieber mal rasieren und deine Wäsche wechseln, hier riecht’s streng!" Über meine inneren Worte bog ich mich innerlich vor Lachen, ich schmunzelte vor mich hin. Das hatte zur Folge, dass die Dame mir gegenüber, sie war so um die vierzig, mir freundlich zulächelte. Na, geht doch, Markus, lass die Aggressionen anderer nicht an dich ran, und der Tag wird gut! Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, was für ereignisreiche Tage vor mir liegen sollten.

    Wie jeden Tag musste ich mehrfach umsteigen. Diese Prozedur spielte sich in meinem Inneren fast automatisch ab: Hier die Rolltreppen runter, da die Treppen wieder rauf, um den nächsten Zug zu erreichen. So kam ich immer, wenn auch mit etwas Glück, pünktlich an.

    „Manchen Weg ging ich morgens schnell, ohne ihn zu kennen. An anderen Tagen rannte ich wie irre, als würde eine Horde wilder Hunde mich durch die Stadt jagen. „Ja, ich hatte meinen Termin beim Grundbuchamt vergessen!

    Manchmal traf mich das, was mit meinen Aufträgen zusammen hing, wie eine Keule.

    Schmutz und Dreck war meine tägliche Arbeit, sie begleiteten mich immer, Argwohn und Intoleranz waren meine Widersacher, auf Ämtern und Behörden vor allem.

    „Hilfsbereitschaft war für diese Gattung Mensch ein Fremdwort."

    Als ich vor Jahren mit diesem Job angefangen hatte, wollte ich nach ein paar Tagen alles hinwerfen. Dann habe mich so langsam daran gewöhnt. So manches Mal versuchte ich, die Rätsel der Vergangenheit aufzudecken, um meinen Job gut zu machen, ein schweres Unterfangen an Tagen wie diesem! Momentan ging es mir ganz gut von der Hand; ich war wie ein Entdecker in einem fernen Land, der neue Wege sucht. Die ihm neues Wissen bringen, aber auch neue Fragen stellen – hier in meiner, ja, meiner Stadt Berlin. Hier treffen Wellen und Wogen aus allen Teilen des Erdballes aufeinander, keine Welle gleicht der anderen, mal leiser, dann wieder lauter brausen sie dahin, ja es ist gut so …

    Der Weckruf der

    U-Bahn

    riss mich aus dem Land der Träume: Kochstraße. Ich stürzte aus dem Zug, rannte die Treppe rauf, die Zeit drängte! Nur noch ein paar Straßen bis zu meinem Arbeitsplatz, die Wohnungsgesellschaft BLW. Seit einigen Jahren war ich hier als Wohnungsbetreuer tätig – Hausverwerter, wie meine Arbeit intern genannt wurde.

    Im siebten Stock angekommen, entledigte ich mich im Büro erst einmal meiner Sachen. Ich griff den Besprechungs-Aktenordner und ging ins Nebenzimmer. Dort saß mein alter Kollege Ralf Marloff, ihn kannte ich schon seit unserer Betriebs-Wirtschaftslehre, BWL, ein trockenes Studium. Er hatte die Aufgabe, sich um den Verkauf sanierter Wohnungen zu kümmern. Wie er mir mal verriet, auch nicht gerade sein Traumberuf, aber was sollte er machen? Er brauchte halt die Kohle, früh geheiratet, seine Frau war schon schwanger und gleich noch Zwillinge!

    Eine schwierige Aufgabe also, aber Ralf ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Seit einem dreiviertel Jahr hatten wir einen neuen Vorgesetzten, Herr Jansen. Ich mochte den Typen nicht. Seine ganze Art war mir zuwider. Auf freier Wildbahn ging ich solchen Menschen aus dem Weg. Ich wollte mir doch nicht den Tag versauen! Aber hier im Job ging es eben nicht, ich versuchte, mich halbwegs auf ihn einzustellen – Augen zu und durch. Auch wenn die Angriffe Jansens manchmal ein wenig weit gingen – Ralf und ich blieben immer gelassen.

    Täglich um zehn war Besprechung im zehnten Stock bei Jansen – der ließ vielleicht den Chef raushängen! Er guckte immer in die Runde, als wolle er unsere armen Seelen fragen: „Seid Ihr auch alle fleißig gewesen, habt Ihr für mich brav die heißen Eisen aus den Kohlen geangelt?"

    Kein Lächeln lag dabei auf seinem Mund, seine stahlgrauen Augen schauten uns nur grimmig an. Ralf sagte einmal zu mir: „Entweder hat er einen großen Drachen zu Hause oder er verstellt sich nur, um seine Schwächen nicht ans Tageslicht gelangen zu lassen!"

    Ich antwortete: „Was er macht oder nicht, ist mir egal, mit dem Typen will ich außerhalb meiner Arbeitszeit nie was zu tun haben!"

    *

    Ralf und ich betraten das Sitzungszimmer, die anderen Kollegen waren schon da. Ich hörte Jansen von vorn rufen: „Meine Damen und Herrn, es muss besser werden, nehmen Sie Platz!"

    Dann ging das Ganze fast eine Stunde, so wie dieses Frage-Antwort-Spiel aus der Grundschule: „Wie weit sind Sie? Was haben Sie gemacht? Welche Strategie verfolgen Sie?"

    Ralf fragte er: „Wie sieht Ihre Prognose für die nächsten Tage aus, Herr Marloff?"

    „Ganz gut, Herr Jansen, antwortete Ralf, „ich habe die drei Dachgeschosswohnungen fast verkauft! Notarbedingte Bereiche sind noch abzuklären, aber in zwei Tagen ist die Sache dann erledigt.

    „Mal was Erfreuliches an so einem Tag", knurrte Jansen lakonisch.

    So ging es weiter, ein Kollege nach dem anderen kam an die Reihe. Manch einer hatte einen roten Kopf und Schweißperlen auf der Stirn. Warum sie schwitzten, konnte ich nur zu gut verstehen: Jansen war ein Arsch, er nutzte wirklich jede Schwäche aus. In Gedanken versunken, hatte ich nicht mitbekommen, dass ich selbst längst dran war. Jansen hatte mich angesprochen. Ralf zupfte mich am Ärmel: „He, Markus, du bist dran!"

    „Ja, bitte, Herr Jansen, was haben Sie auf dem Herzen", lächelte ich ihn freundlich an.

    Diesen naiven Satz konnte er nicht vertragen, ich sah eine Zornesfalte auf seiner Stirn.

    „Herr Blume, bellte er mich an, „was ich auf dem Herzen habe, werde ich Ihnen ganz gewiss nicht sagen! Passen Sie gefälligst auf, wenn ich hier meine Arbeit mache! Schlafen können Sie zu Haus, ist das klar?

    „Verstanden, Herr Jansen", rief ich. Bei diesem Typ kam man am besten weiter mit kurzen Sätzen. Ich hatte keine Lust, mich aufzuregen.

    Jansen redete weiter. „Herr Blume, ich habe eine Immobilie vom Rathaus Pankow zur Bearbeitung erhalten. Seit mehr als zwei Jahren versucht das Amtsgericht, die Erben einer gewissen Familie Petach ausfindig zu machen. Sollen vor Jahren nach Australien ausgewandert sein. Es gibt hier wahrscheinlich niemand mehr von denen. Kümmern Sie sich mal um diesen Fall!"

    Er warf einen halb zerfallenen Aktenordner vor sich auf den Tisch, den ich mir holen sollte. Wie immer war der Vorgang von seinem Büro keineswegs vorbereitet worden – alles war lose in die Akte geworfen. Jansens Sekretärin war selbst beim Laufen eine Bedrohung, eine absolute Null. Im Haus munkelten die Kollegen ohnehin, er habe sie nur zur seelischen und sonstigen Betreuung eingestellt. Wenn ich mir die Dame so ansah, musste es wohl stimmen …

    Ich, der Pedant, der Ordnungsmensch, und dann dieses zerfallene Fragment! Es grauste mich schon, wahrscheinlich einen halben Tag an den Papieren zu arbeiten, um eine halbwegs arbeitsfähige Grundlage zu schaffen.

    „Meine Damen und Herren, an die Arbeit!", rief Jansen.

    *

    Beim Verlassen des Besprechungszimmers wünschte ich allen einen guten Tag. Auf dem Weg ins Büro holte ich mir eine Tasse Kaffee aus dem Automaten. Das Gesöff konnte man eigentlich nicht trinken, aber ich tat es doch immer wieder. Vor meinem Zimmer flog mir der Becher beim Öffnen der Tür aus der Hand, brauner Kaffeeschwall ergoss sich über die Mahagonitür auf den braunen Teppich. Na ja, man sah es eigentlich kaum … Was für ein Mist passiert mir heute wohl noch? Soll sich doch die Putze darum kümmern, mir reicht es jetzt!

    Im Zimmer schmiss ich die Akte erst einmal in hohen Bogen auf den Tisch. Ich musste mich für ein paar Minuten entspannen, die Augen schließen. Dann fiel mir ein, dass ich ja noch eine Flasche Wasser im Schrank hatte. Dieses Gesöff aus dem Automaten konnte mir für heute gestohlen bleiben.

    Ich trank Wasser, schlenderte im Büro herum, sah aus dem Fenster. Ich hatte keine Lust, mit der Akte anzufangen. So gingen die Stunden dahin. Auf einmal kamen mir meine verflossenen Liebschaften in den Sinn. Alle Frauen, die ich bis jetzt kennengelernt habe, waren nach ein paar Wochen wieder ausgezogen. Im Grunde hatten Sie ja recht gehabt. Immer abwesend, nie Zeit, meine Gedanken immer dabei, andere Dinge zu klären, und die zwischenmenschlichen Beziehungen stets aus den Augen verloren.

    „War schon okay, ihr Verhalten mir gegenüber.

    Das hatte ich ihnen aber natürlich nicht erzählt; nach meiner Auffassung wäre es eine Bloßstellung gewesen. Nur ich muss wissen, was gut für mich ist. Ich brauche diesbezüglich all meine Kraft! Ha, ha, ich lachte selbst über meinen frauenfeindlichen Spruch.

    Markus, mach dir nichts vor, du bist einsam, hörte ich meinen inneren Freund rufen. Ich habe meine Arbeit, basta, keilte ich zurück.

    „Petach/Australien" also war mein neuer Fall. Ich schaute aus dem Fenster. Überall weihnachtlich leuchtende Scheiben, glänzend in allen Farben. Ich seufzte und wandte mich wieder meinem Bürostuhl zu. Meine Hände umfassten die Lehne. Diesen Stuhl hatte ich schon ein paar Jahre, er war mir bei der Besichtigung einer alten Liegenschaft ans Herz gewachsen. Ich hatte ihn mitgenommen und von einem Polsterer aufarbeiten lassen. Wenn ich auf ihm saß und meine Arbeiten verrichtete, fühlte ich mich wohl. Meine Blicke streiften wieder die vergilbten Unterlagen. Minutenlang verharrte ich in dieser andächtigen Stellung, als ob sich eine Aura bilden würde um mich und um die alten Seiten, die da vor mir auf der Tischplatte lagen.

    Nach meinen inneren Unterredungen meldete sich endlich Interesse in mir an der Geschichte. Eigentlich gar nicht uninteressant, dieser Fall! Ich musste sofort an die Akte aus Pankow! Seite für Seite durchforschte ich die Papiere, aß dabei mein Pausenbrot und trank wie immer meinen obligatorischen halben Liter Fruchtsaft.

    Nachdem ich mich mit den Unterlagen etwas vertraut gemacht hatte, schrieben meine Hände eine Liste der zu klärenden Punkte auf. Ich fange meist mit dem Grundbuch an und setze meinen Weg dann systematisch in die Vergangenheit fort. Irgendwie ist es doch erstaunlich, welche Schaffenskraft der Mensch zu erreichen vermag.

    „Komisch, der eine sucht den Weg, allem aus dem Weg zu gehen". Andere suchen ihr Heil im Streit und Zerwürfnis. Der Dritte ist mehr mein Naturell: Er sucht nach dem verborgenen Schatz. Natürlich nicht den materiellen, nein, dazu ist die Zeit zu schade. Er sucht nach dem, was uns auszeichnet, nach dem Spürsinn, der kleinen Trüffelnase.

    Das ist unser Lebenselixier, das lässt uns Freiraum, um von dem Alltäglichen Abstand zu bekommen. Ja, das ist es, was wir suchen, kleine Trüffelsucher in dieser Stadt …

    Nachdem ich mir die Eckdaten zusammengestellt hatte, wollte ich mir am nächsten Tag das Grundstück in Pankow ansehen – natürlich nur, wenn der Sturm sich gelegt hatte und ich in der Lage war, den Ort sicher zu betreten. Denn in Gefahr wollte ich mich nicht begeben, dazu hing ich doch zu sehr an meinen Leben.

    Wie es aussah, war der Tag fast zu Ende. Die ersten Kollegen verließen ihre Büros. Ralf und ich waren fast immer die Letzten. Heute saßen wir gegenüber von unserem Büro noch ein bisschen im Café und unterhielten uns über die Dinge des Lebens.

    *

    Ralf brauchte nichts mehr einzukaufen; er hatte für seine Familie schon alle Geschenke beisammen.

    „Und, Ralf, fragte ich ihn, „wie sieht es bei dir aus? Gehst du zu jemand Heiligabend?

    „Nee, ich bleibe zu Haus und werde mich mal so richtig ausschlafen."

    „Was, du besuchst keine Bekannten?"

    „Nein, Ich habe dir doch gerade gesagt, ich bleibe zu Haus."

    Als ich durch die Scheibe nach draußen guckte, bemerkte ich, wie Ralf mich anschaute. Er schüttelte den Kopf. Ich tat so, als ginge es mich nichts an.

    Wir gönnten uns noch einen Milchkaffee und einen kleinen Kuchen. Draußen schneite es unaufhörlich; der Sturm hatte sich noch nicht gelegt. Nachdem wir ein Glas Barolo getrunken hatten, verließen wir gegen halb sieben das Kaffee. Ralf lief zum Bus. Er brauchte nur drei Stationen zu seiner Wohnung.

    Die Akte Petach, die ich für morgen in meine Tasche stecken wollte, suchte ich vergebens. Meine Aktentasche war leer. Ein heißer Blitz durchfuhr mich: Ich hatte sie auf der Heizung im Büro liegengelassen! Also wieder zurück ins Büro. Im Haus war keiner mehr – nur Norbert, der Hauswart. Er wohnte im zweiten Stock. Ich klingelte ein paar Mal kräftig.

    „Ja, wer stört mich beim Abendbrot?"

    „Ich bin es, Markus!"

    „Mann oh Mann, nicht du schon wieder! Warte, ich komme runter!"

    Der Sturm schüttelte mich vor dem Eingang durch; die Zeit wollte nicht vergehen. Ungeduldig stand ich vor der Tür – wo er wohl blieb? Es vergingen nur Minuten, bis der Hauswart an der Tür war, aber durch das missliche Wetter wurde die Zeit ellenlang.

    Norbert und ich fuhren mit dem Fahrstuhl ins zweite Geschoss. Hier trennten sich unsere Wege. Der Fahrstuhl summte leise bis zum siebten Geschoss. Es waren nur ein paar Schritte bis zum Büro. Ich schloss die Tür auf. Im Halbdunkeln fiel mein Blick auf die Heizung. Hier lagen die Unterlagen.

    Beim Einpacken der Akte fiel ein alter Schlüssel aus einem kleinen Seitenfach auf den Boden. Ich hob ihn auf, schob ihn in die Aktentasche und machte mich endlich auf den Heimweg.

    Minuten später saß ich entspannt in der

    U-Bahn

    . Auf einmal fiel mir der Schlüssel ein. Ich stellte mir vor, morgen in der Frühe in Pankow im Schnee zu stehen, keinen Schlüssel dabei. Das wäre für mich ein Grund gewesen zu hinterfragen, ob das, was mir so alles unterlief, noch ganz normal war. Ich brachte meine Gedanken schnell auf einen anderen Weg und dankte dem Zufall, dass ich meinen Weg noch mal über das Büro genommen hatte.

    In der

    U-Bahn

    war nicht viel los. Schräg gegenüber unterhielten sich zwei Frauen mit vollen Taschen. Die hatten bestimmt viel Geld für Weihnachten ausgegeben. Ich fühlte Ruhe in mir und diese quirlige Gelassenheit, Menschen zu taxieren. „Ich bin ein Meister in meiner Welt, Markus, eben."

    „Mir gegenüber saß ein Mann, der diese Zeitung zwischen seinen fetten Fingern hielt". An der linken Hand trug er einen übergroßen Ring mit einem Löwenkopf mit roten Augen. Seine Fingernägel hatten schwarze Ränder. Als ich meine Augen auf seine Schuhe lenkte sah ich, sie waren voller verkrustetem Dreck. Schlampe!

    Ich versuchte, mit meinen Blicken die Zeitung zu durchdringen, um in das fette Gesicht dieser Type zu gelangen. Zuerst lief alles gegen mich. Er rührte

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