Die Chroniken der Seelenwächter - Band 31: Das Lied der Schatten
Von Nicole Böhm
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Über dieses E-Book
Auch für Jess spitzt sich die Lage zu. Gefangen zwischen den Welten stürzt sie von einer Vision in die nächste und verliert immer mehr den Bezug zur Realität.
Dies ist der 31. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter".
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Rezensionen für Die Chroniken der Seelenwächter - Band 31
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Buchvorschau
Die Chroniken der Seelenwächter - Band 31 - Nicole Böhm
1. Kapitel
Jessamine
Wo bin ich? Wer bin ich? Was bin ich?
Essenzielle Fragen, die sich Menschen stellten. Was war der Sinn hinter dem Leben? Wozu wurden wir geboren? Was bewegten wir auf dieser Welt? Welche Fußspuren hinterließen wir?
Ich selbst hatte jahrelang nur ein Ziel verfolgt: meine Mutter zu finden. Die Suche nach ihr hatte mich dorthin gebracht, wo es dunkel und grausam war, wo ich mich selbst verloren und wiederentdeckt hatte.
Und nun?
Wer war ich geworden? Was war mein Part in dieser Geschichte? Was kam, wenn das Ziel erreicht war? Der Berg erklommen, die Strecke gelaufen, der Kampf beendet?
Was blieb am Ende übrig?
Ich schwebte. Ich fiel. Ich rannte. Ich saß. Ich blinzelte. Ich schlief. Ich fühlte. Ich lebte. Ich starb.
Mein Körper und meine Seele hatten sich in einen Bereich ausgedehnt, den ich nicht verstehen konnte. Ich war eins mit dem Universum geworden und dennoch kein Teil davon. Ich war überall und nirgendwo. Verloren in den Wirren des Seins und im Strudel der Zeit.
»Frag die Nomaden.«
»Du weißt alles, was du wissen musst.«
»Wenn du die Orientierung verlierst, dann verlierst du auch dich. Du musst aus der Vision raus, ehe sie dich mitreißt!«
»Wie denn?«
»Spring.«
»Was?«
»Los!«
Los.
Lassen.
Ich hatte vergessen, wie das ging. Wusste nicht, was mich erwartete, wenn ich den nächsten Schritt machte. Ich streckte die Arme aus, suchte mit den Händen nach etwas, das ich greifen konnte, aber da war nichts. Raum und Zeit spielten keine Rolle mehr. Doch ich musste zurück.
Nach Hause.
Zu Jaydee.
Zu Mum.
Zu Zac.
Zu den anderen.
Sie brauchten mich, genau wie ich sie brauchte. Wir waren eine Familie, ein Ganzes, eine Einheit, aber wie konnte ich sie finden? Wo waren sie? Wo war ich? Wo Jonathan, der eben noch in meiner Nähe gewesen war?
»Frag die Nomaden«, hatte er gesagt. Keine Ahnung, warum ausgerechnet diese Worte so stark in mir nachhallten. Ich wusste ja nicht mal, wen er meinte. Mir schwirrte der Schädel. Nicht nur von diesem Hin und Her, auch von Jonathans Worten.
Mein Vater.
Diese Erkenntnis war noch lange nicht in mein Bewusstsein gesickert.
Mein Leben lang hatte ich mich gefragt, wer mein Erzeuger war, warum er Mum verlassen hatte und nicht Teil unserer Familie hatte sein wollen. Nun wusste ich es.
Weil er ein Wanderer zwischen den Welten war. Ein Geist im Getriebe der Zeit, was auch immer das letztlich bedeutete.
Auf einmal knallte ich hart auf den Boden. Ich knickte in den Knien ein, der Schmerz schoss mir die Beine hinauf und brachte mich zu Fall. Ich kippte vornüber, landete bäuchlings auf staubigen Holzdielen. Dreck wirbelte hoch, ließ mich husten.
»Aua.« Ich streckte die Arme aus, betrachtete mich und schraubte mich langsam nach oben. Mir war unglaublich schwindelig, es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Mein Körper und mein Geist waren wie getrennt voneinander, als wäre das eine noch auf Reisen, das andere aber längst angekommen.
Ich stand auf, sah mich um und bemühte mich, alle Aufmerksamkeit auf diesen Ort zu lenken. Eben war ich noch mit Jonathan in der Bar gewesen, ehe es uns fortgerissen hatte. Er lebte in diesen Visionen und konnte sich nur alle sieben Jahre auf der Erde manifestieren. An einem dieser Punkte hatte er schließlich mich mit meiner Mutter gezeugt. Hoffentlich würde ich mich nicht genauso wie er in den Visionen verirren und auch nur noch alle sieben Jahre zurückkehren können.
Ich schob schaudernd den Gedanken beiseite und sah mich um. Ich war in einem alten Haus gelandet. Es roch nach Motten und Dreck. Die Luft war kalt, überall pfiff der Wind durch die Ritzen. Obwohl ich mitten im Staub gelandet war, haftete nichts davon an meiner Kleidung. Auch auf dem Boden hatte ich keinen Abdruck hinterlassen.
Ich bin noch immer in einer Vision.
Das hier war nicht echt. Ich hatte den Weg zurück nicht gefunden. »Jonathan?«
Ich lauschte auf Geräusche, auf Hinweise, auf alles. Doch außer einem leisen Knarzen im Gebälk vernahm ich nichts.
»Du musst aus der Vision raus, ehe sie dich mitreißt.«
Mal wieder typisch, dass ich genau das nicht geschafft hatte.
Mein Leben hatte mir schon viele Stolpersteine in den Weg gelegt, die letzten Monate hatten mich oft herausgefordert und an die Grenzen getrieben. Ich hätte wohl damit rechnen sollen, dass es genauso weiterging und mir das Schicksal keine Pause gönnen würde.
Ich hörte erneut dieses Knarzen über mir und zuckte zusammen. Das Geräusch klang, als gehörte es nicht an diesen Ort. Es war hier genauso wenig heimisch wie ich.
Mit gespitzten Ohren lief ich los. Das Haus war alt und wirkte auf eine komische Art vertraut. Ich entdeckte Fußspuren, die eine Treppe nach oben führten, ebenso quer durch den Raum, in dem ich war. Eine Art Empfangsbereich, von dem verschiedene Türen und ein Flur zu meiner Rechten abzweigten. Ich drehte mich um die eigene Achse, überlegte, in welche Richtung ich zuerst sollte, als ich Stimmengemurmel hörte.
Es war kaum auszumachen, erklang nur am Rande meines Bewusstseins. Die Tür vor mir stand offen, ich ging darauf zu und folgte der leisen Stimme. Auch sie wirkte vertraut und warm und griff in mein Herz. Mir wurde schwindelig, ich fasste an meine Brust, weil ich mich auf einmal fühlte, als würde ich auf einem Drehstuhl sitzen, der mit vollem Tempo um sich selbst rotierte.
Diese Macht. Diese Energie. Diese Vision. Ich konnte noch nicht verstehen, was hier passierte, doch ich spürte, wie unglaublich stark das alles war. Es fühlte sich an, als würde ich einen Fuß über eine Schwelle setzen; als würde ich in die Jahrtausende eindringen und mit einem Wimpernschlag alle Geheimnisse des Universums ergründen.
So viel.
So allumfassend.
Das letzte Mal hatte ich das gefühlt, als ich mich mit den anderen Nachfahren verbunden hatte, um Anna zu helfen. Die Energie von damals rauschte durch meine Adern. Die Wände drehten sich vor meinen Augen, der Boden schwankte, genau wie ich. Die Umgebung flirrte auf, wurde unscharf, dann wieder klar. Das komische Knarzen erklang erneut über mir, von der Seite, um mich herum. Es zog mich zu sich, wollte mich weg von diesem Ort und an einen anderen schleudern. Ich schüttelte mich und trat nach vorne ins nächste Zimmer.
Dort stand ein alter Billardtisch in der Mitte, zusammengebrochene Bücherregale zierten die Wände, ansonsten noch mehr Dreck und Staub. Mein Kopf schwirrte immer heftiger, meine Zellen bebten. Ich durfte nicht hier sein, das war kein Ort für mich, doch ich konnte auch nichts dagegen tun. Ich wusste nicht, wie ich hinausfinden sollte. Also ging ich weiter und fand mich in einem größeren Raum wieder. Das Symbol der Seelenwächter war an eine Wand gemalt, daneben stand ein kleiner Tisch und …
»O mein Gott.« Ich legte die Hand auf meine Brust. »Jaydee!«
Er kniete auf dem Boden, vor ihm war eine Luke geöffnet, die einen kleinen, dort eingelassenen Hohlraum freigab. Jaydee reagierte nicht auf meine Anwesenheit, er starrte nur den Gegenstand an, den er wohl eben aus diesem Hohlraum geholt hatte.
»Du musst aus der Vision raus, ehe sie dich mitreißt!«, hörte ich erneut Jonathan in meinem Kopf. Ich trat näher an Jaydee heran, betrachtete ihn. Er sah mitgenommen aus, trug dieselbe Kleidung, die er angehabt hatte, als wir uns auf der Wiese getroffen hatten; nachdem er zurück zu mir gekehrt war. In Gedanken ging ich das Gespräch mit ihm durch und rekapitulierte seine Worte. Er hatte mir gesagt, dass er bei Coco gewesen war. Dort, wo sie einst gelebt hatte.
»Die Kugel hat mich zu ihrem Haus teleportiert. Ich wusste sofort, dass es ihres war. Ich habe sie gerochen, gespürt und noch mehr.«
»Du hast Lilija gesehen.«
»Nein, nur gehört.«
»Was hat sie gesagt?«
»Das, was sie immer sagt: dass sie für mich da ist, dass sie mich versteht, dass ich und …«
»Ja?«
Ich ging neben ihm in die Hocke, doch nach wie vor reagierte Jaydee nicht auf mich.
»Du bist hier«, sagte ich. »Ich nehme daran teil, was du erlebt hast.« Bei unserem Gespräch hatte Jaydee mir nicht erörtern wollen, was Lilija ihm mitgeteilt hatte. Kurz darauf war ich in die Vision mit Jonathan gefallen. Wir hatten keine Gelegenheit mehr gehabt, näher darauf einzugehen.
Jaydee starrte auf seine Hand. Sein Körper stand unter Hochspannung, er mahlte mit dem Kiefer, strahlte so viel Zerrissenheit aus. Ich hätte ihn am liebsten umarmt, ihm gezeigt, dass ich für ihn da war und an seiner Seite stand; dass er sich auf mich verlassen konnte. Doch ich wusste, dass ich ihn nicht anfassen konnte. Ich war nur ein Geist in dieser Welt. Mein Blick fiel auf seine Finger und das, was er darin hielt.
Ein Amulett.
Es war silbern, hatte einen eingefassten Kristall in der Mitte, eine spitzere Kante dort, wo die Kette eingefädelt wurde. Mir stockte der Atem, denn etwas in mir wandte sich diesem Schmuckstück zu. So ähnlich fühlte es sich an, wenn ich den Dolch meiner Mutter oder die Feder aus den Archiven der Sapier in der Hand hielt.
»Das ist einer der vier Gegenstände«, sagte ich leise.
Ein Dolch. Eine Feder. Ein Ring. Ein Amulett.
Jaydee schloss es fester in seine Finger ein, gab ein leises Knurren von sich und ließ es schließlich in seiner Hosentasche verschwinden. War das die ganze Zeit dort gewesen? Er hatte kein Wort darüber verloren, als wir uns gesehen hatten! Ich richtete mich ebenfalls auf und biss mir auf die Unterlippe. Auf einmal kam ich mir wie ein Eindringling vor; wie jemand, der das Tagebuch eines anderen liest, jeden Moment damit rechnend, dass etwas erschien, was er nicht hören oder sehen wollte.
Ich wich einen Schritt zurück, das Knarzen erklang erneut. Lauter. Ich blickte zur Decke, wo sich Risse bildeten und nach allen Seiten ausdehnten. Sie waren schwarz, dunkler Nebel waberte aus ihnen hervor. Kälte streifte mich im Gesicht, an den Armen, den Händen. Es war die Art von Kälte, die in die Trostlosigkeit führte. An einen Ort, an dem es nichts Freudvolles gab, an dem alles Gute und Schöne sofort starb. Ich rieb über meine Schultern, um dieses Gefühl abzustreifen, doch es wurde nur intensiver.
»Du hast mich erschaffen«, sagte Jaydee und holte meine Aufmerksamkeit zurück zu sich. »Du hast … Du hast das aus mir gemacht. Ich bin …«
»… zerrissen, das weiß ich und ich sehe deinen Schmerz«, antwortete Lilija. Ihre Stimme war ganz sanft und ruhig. Sie kam aus der Wand, als stünde sie dahinter. Lilija redete mit Jaydee wie eine Mutter mit ihrem verängstigten Kind. »Aber es sollte nie so sein. Hätten Ilai und die anderen mich nicht eingesperrt, müsstest du nicht so leiden. Verstehst du das nicht? Ich bin nicht deine Feindin, die anderen haben mein Werk unterbrochen. Sie haben dich mir weggenommen.