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OhnMACHT
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eBook427 Seiten6 Stunden

OhnMACHT

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Über dieses E-Book

Was würden Sie tun, wenn Sie plötzlich unverwundbar wären? Wenn jeder Schmerz, den Ihnen jemand zufügt, ihn selbst treffen würde? Verrückt und unvorstellbar – und doch genau das, was Julia Ambach widerfährt: auf märchenhafte Weise erhält sie diese besondere Gabe und weiß erst nicht so recht mit der Macht umzugehen, die ihr 122, ein Wesen aus einer anderen Dimension, verleiht. Nach etwas Bedenkzeit weiht Julia ihren Exmann Nico und ihre Freundin Ellen ein – auf beide kann sie ihre Macht beschränkt ausweiten – und die drei ziehen los, um „die Welt zu retten“. Die Aufgaben, die vor ihnen liegen, sind immens: wie reagieren auf die Missstände der Welt, wie sollen Sie auf Missstände dieser Welt, wie Clankriminalität, reagieren oder Missbrauch und Verbrechen bekämpfen? Julia stellt nach und nach fassungslos fest, welch große Herausforderung diese Macht mit sich bringt und muss sich mit immer größeren Skrupeln auseinandersetzen. Macht ist gefährlich – ohne Wissen ist sie tödlich, mit Skrupeln wertlos. Bleibt also doch nur noch OhnMACHT? Diana Siemund schafft es, mit dieser Mischung aus Fiktion und Fakten einen spannenden Roman mit aktuellem Bezug zu schreiben, der die Frage aufwirft: Wie würden SIE sich entscheiden?

Diana Siemund flog nach dem Abitur fünf Jahre als Stewardess um die Welt, ehe sie ihre ersten Gehversuche als Autorin beim SFB machte. Im Anschluss daran folgten viele Sendungen beim BR, dann im Fernsehen.
Aktiv war sie sowohl vor als auch hinter der Kamera. Vor der Kamera mit eigener Talkshow, Moderationen und Interviews, hinter der Kamera für kleinere Filmbeiträge, Messeberichte und Ähnliches.
Diana Siemund ist verheiratet, Mutter zweier Töchter und lebt in München.
SpracheDeutsch
HerausgeberEuropa Edizioni
Erscheinungsdatum31. Okt. 2022
ISBN9791220133845
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    Buchvorschau

    OhnMACHT - Diana Siemund

    Diana Siemund

    OhnMACHT

    © 2022 Europa Buch | Berlin www.europabuch.com | info@europabuch.com

    ISBN 9791220129671

    Erstausgabe: September 2022

    Gedruckt für Italien von Rotomail Italia

    Finito di stampare presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)

    OhnMACHT

    Merkwürdigerweise erinnere ich mich nicht mehr genau an die Anfänge.

    Dass ich plötzlich zur mächtigsten Frau der Welt wurde.

    Aber ich weiß noch sehr gut, wie ich mich dabei gefühlt habe. Wie eine dunkle Ahnung in mir hochgekrochen war, gleich einer riesigen Gewitterwolke, die sich aber nicht in Donner und Blitz entlud, sondern immer dichter wurde, mir die Lungen zusammendrückte und mich zu ersticken drohte. Sie tut es bis heute und ich weiß, dass sie stärker ist als ich und all meine Macht nichts hilft. Sie ist der Sieger. Immer. Sie kriecht in jede Pore, besetzt jede noch so kleine Zelle meines Körpers, umnebelt meine Gedanken und schließt unbarmherzig jede Schranke, die mich zurück zu einer Unbeschwertheit lassen könnte, wie ich sie als Kind hatte. 

    Ich bin kein Kind mehr.

    Wie fühlt man sich, wenn man die mächtigste Frau der Welt ist?

    Und so unbesiegbar wie weiland der germanische Siegfried, der nur eine kleine verwundbare Stelle auf seinem Rücken hatte (die aber ausreichte, ihn meuchlings zu ermorden)?

    Ich habe noch nicht einmal ein Lindenblatt als verwundbare Stelle. Ich kann mich mitten in die Laufbahn einer Kanonenkugel stellen, oder auf einer Bombe sitzen, die in die Luft fliegt: Es passiert mir nichts. Im Gegenteil: Was Übles mir zugedacht ist, trifft wie ein Bumerang den Verursacher.

    Also, wie fühlt man sich, der mächtigste Mensch der Welt zu sein?

    Entsetzlich. Deprimiert. Verzweifelt.

    Obendrein hat mir 122 die Macht gegeben, für eine bestimmte Zeit diese Unverwundbarkeit weiterzugeben.

    Über Menschen, Gebäude, Städte. Über meiner Stadt liegt bereits eine Art Glocke, d. h. keine noch so schlimme Waffe könnte sie in Schutt und Asche legen. Der Angriff würde auf den Angreifer zurückfallen und ihn selbst vernichten. Keine schönen Aussichten für Autokraten, Potentaten, Kleptokraten und wie sie alle genannt werden. Noch wissen sie es nicht, aber ich könnte mit einer Handvoll Unbesiegbarer irgendwo hinfahren und die dortigen Herren zur Rechenschaft ziehen. Eine tolle Vorstellung: Egal wie stark sich der Machthaber wähnt – es hilft ihm nichts. Befehl uns zu erschießen? Den armen Kerl, dem das befohlen wird, trifft die eigene Kugel. Vielleicht würden es ein paar andere auch noch versuchen, aber dann wäre es schnell klar: Es ist ein Selbstmordkommando. 

    Wir sind unbesiegbar.

    Eine verführerische Vorstellung.

    Aber bei wem anfangen?

    Assad? Maduro? Neuzeitliche Pharaonen oder lupenreine Demokraten?

    Sie und ihresgleichen holen und nach Den Haag bringen?

    Wo anfangen, wo aufhören?

    All die unterdrückten Frauen befreien? Den Saudis die Leviten lesen? Den Herren Zuma und anderen afrikanischen Potentaten die ungeheuren ergaunerten Reichtümer wieder wegnehmen und sie zwingen, ihre in der Schweiz, oder Panama oder sonst wo versteckten Gelder ihrem Land zurückzugeben?

    Die Liste wäre endlos.

    Zu lange für ein Leben.

    Mein Leben.

    Ich müsste aufstehen und handeln, jede kostbare Sekunde, in der ich diese Macht habe. Stattdessen stehe ich da und bin wie gelähmt.

    Weiß 122, was er mir da gegeben hat und was es mit mir anfängt? Noch bin ich bei den Guten. Aber was, wenn ich mir alle Reichtümer der Welt nehmen wollte?

    Wenn ich betrunken von meiner Macht werde?

    Was weiß 122 von mir?

    Was weiß ich von ihm?

    Wer oder was ist er?

    Und woher hat er diese Macht?

    Ja, ich sollte anfangen.

    Aber was, wenn das mit der Unverwundbarkeit doch nicht klappt?

    Wo bist du 122? Stehst du mir bei, und wenn ja: wie?

    So viel Macht ist eine ungeheure Bürde – bist du da, wenn ich dich brauche?

    Ich fühle dich – oder was ist das für ein Gefühl, das mir so Angst macht? Es ist irreal: Ich kann plötzlich durch eine Kaffeetasse fassen, durch den Tisch vor mir. Bin ich verrückt? Bilde ich mir das nur ein? Ich probierte es noch einmal: Ja, ich konnte durch den Tisch fassen, als wäre er Nebel, Watte, Wasser. Wieso tat es nicht weh, wenn ich mit aller Gewalt auf den Tisch schlug? Ich hatte Schmerzen, aber ganz anderer Art: als fühlte ich plötzlich jede Zelle in mir.

    Und dann stand er plötzlich da: 122. Ein Mann. Ganz normal und doch anders. Wie plötzlich die Temperatur im Raum anders zu sein schien: eiskalt.

    Das so vertraute Mobiliar: Da und doch anders, wie ein Hologramm. Die Kälte nahm zu und doch schwitzte ich, hatte klebrige Finger, Hände. Atmete rascher, fühlte ein ungeheures Gewicht – oder war ich das Gewicht? Ich berührte den Boden und glaubte ich würde schweben. Ich bin …

    „Du bist nicht verrückt. Du musst dich nur umgewöhnen."

    „Woran?"

    „Daran, dass du in einem anderen Energiefeld bist. Zumindest solange ich da bin und du mit mir kommunizierst."

    All diese Gefühle, diese totale Verunsicherung – sie sind immer noch da, aber ich kann jetzt besser damit umgehen. Ich vertraue darauf, dass ich alles über ihn erfahre.

    Und über mich.

    Es war schwer, an die Unverwundbarkeit zu glauben.

    Ich konnte schlecht zu irgendeinem blöden Kerl gehen, sagen, er soll mir eine richtig kräftige Ohrfeige verpassen und abwarten, was passiert.

    Ich brauchte nicht zu ihm zu kommen: er kam zu mir. Unerwartet. Nachts. Nach einem Theaterbesuch.

    Wir – zwei Freundinnen und ich – ließen den Abend bei einem Glas Wein ausklingen. Ich hatte es bitter nötig: nicht an verkehrte Welten, andere Energiefelder und eine mir völlig unbekannte Daseinsform, von der ich noch nicht einmal wusste, ob sie real war, zu denken. Comedy war gut – es war Annes Vorschlag. Und dann noch ein Glas Wein – Adeles Beitrag.

    Wir sind schon etwas späte Mädels: Single, verwitwet, geschieden. Mitte Dreißig. Im besten, weil sehr bewussten Alter.

    Es war ein netter, verkicherter Abend, bis die letzte SBahn rief.

    Ich nahm den Mann erst gar nicht wahr.

    Noch in Gedanken an einige Pointen des Abends, bemerkte ich ihn erst, als er dicht hinter mir stand:

    Erschrocken drehte ich mich um und sah ein total verwundertes, ungläubiges Gesicht. Offenbar hatte er mir von hinten in den Nacken geschlagen, die andere Hand wollte nach meiner Umhängetasche greifen – doch irgendetwas war schief gegangen.

    Hatte er nicht getroffen?

    Er holte aus, die Faust sollte mich ins Gesicht treffen – der Schlag traf ihn. Es klang fast wie ein Gurgeln. Er taumelte ein paar Schritte nach hinten, stierte mich an und trommelte dann wie blind auf mich ein. Mit beiden Fäusten.

    Ich spürte nichts – oder doch, ja: maßlose Verwunderung. Übertroffen von dem, was er offensichtlich fühlte: Schmerz. Und noch mehr: totales Unbegreifen dessen, was da vor sich ging. Er prügelte wild auf mich ein – scheinbar. Die Wirkung traf ihn.

    Nur ihn.

    Blut rann aus seiner Nase, aus einer geplatzten Lippe, roter Speichel kam aus seinem Mund. Er brüllte irgendetwas Unverständliches, drosch immer sinnloser auf – offenbar – mich ein und ging selbst immer mehr in die Knie, während ich die Situation erschrocken, verblüfft, ungläubig wahrnahm. 122 hatte gesagt, ich sei unverwundbar. Dass jede mir zugedachte Verletzung auf den Verursacher zurückfallen würde.

    So also sah das aus: Jemand hatte versucht, mich zusammenzuschlagen und lag selbst da: blutend und sich vor Schmerz krümmend. 

    Er – nicht ich.

    Einen Moment war ich versucht, ihm noch einen Tritt zwischen die Beine zu geben – nein, fair sein, er lag ja schon am Boden. Fast bedauernswert. Aber eben nur fast.

    Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause kam. Wirklich mit der S-Bahn, oder war ich geschwebt? Sicher nicht, aber es fühlte sich so an.

    Ich musste mit 122 sprechen, aber wie ihn rufen? Wie mit ihm Kontakt aufnehmen?

    Er war bereits da.

    Und wenn ich sein Gesicht richtig deutete, war da ein Anflug eines Grinsens. „Ich muss mit Ihnen reden! Wissen Sie, was vorhin passiert ist?"

    „Ja, ich war dabei." 

    „Wieso dabei? Warum haben Sie nicht eingegriffen?"

    „Dazu gab es keinen Anlass. Sie waren doch keine Sekunde in Gefahr. Ich habe ihn sogar auf Sie hingewiesen, d. h. seinen Blick und seine Absicht auf Sie gerichtet. Sie hätten doch sonst nie geglaubt, dass Sie unverletzlich sind. Im Gegenteil: dass es mit gleicher Münze zurückgezahlt wird. Es war doch – wie würden Sie sagen: eine gelungene Vorstellung. Aber jetzt haben Sie hoffentlich verstanden und fangen an zu handeln. Es gibt ganz offensichtlich sehr viel in Ihrer Welt, das geändert werden muss!"

    „Durch mich??!! Haben Sie eine Ahnung, wie – ja – unbedarft ich bin? Ich bin kein Wissenschaftler, kein Politiker, kein …"

    „Und doch haben Sie sich zur Verfügung gestellt. Und Sie sind anständig. Sie wissen, wie Menschen ticken. Jedenfalls besser als ich. Bei mir ist es schon zu lange her, seit ich ein Mensch war ... Ich weiß viel zu wenig von euch …"

    „So lange kann das nicht her sein. Sie sprechen meine

    Sprache völlig normal."

    Ein leises Lachen lag in der Luft.

    „Glauben Sie wirklich? Wir beide sprechen keine

    Sprache. Wir sprechen überhaupt nicht. Es kommt Ihnen nur so vor. Wir kommunizieren über Wellen, Energien, wenn Sie so wollen: Gedanken. Nonverbal. Ich kann mit Ihnen kommunizieren oder mit irgendjemand aus dem tiefsten Amazonas, der nur seine Eingeborenensprache kennt – er würde mich verstehen und ich würde ihn verstehen. Und er würde – wie Sie – denken, ich rede mit ihm."

    „Wer sind Sie?"

    „Ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären, aber machen Sie sich nichts daraus, wenn Sie es nicht verstehen.

    Das kommt schon noch.

    Ich komme – wie jedes Wesen, jedes Tier, jede Materie, aus einer Urenergie, die alles, was irgendwie erdacht oder erschaffen werden kann, in sich trägt. Bi-polar, also: gut und böse, hell und dunkel, klug und dumm, laut und leise – man kann das endlos fortsetzen.

    Aber irgendwann – und alte heilige Überlieferungen, aufgeschriebenes Urwissen rund um diesen Erdball, wie auch natürlich in anderen Welten, von denen es mehr gibt, als ihr euch träumen lasst – sagen es: Irgendwann, vor Milliarden von Jahren hat sich eine Energie von dieser Urenergie, die man vielleicht als göttliche Einheit sehen kann – es gibt ja kein Wort dafür – abgespalten und ist abgefallen, buchstäblich heruntergekommen, um selbst das zu tun, was der göttlichen Einheit vorbehalten war: erschaffen.

    So entstanden Galaxien, Planeten, Welten. Aber es blieb immer das Unerhörte, das Unmögliche, das die Schranken überwunden hatte und erschuf, um ganz schnell zu erkennen, dass all die Energieteilchen sich verselbständigten und ihrerseits wieder erschufen.

    Ihr hattet eine große, weise, oftmals wiedergeborene Seele, die das wusste. Ihr habt es alle einmal gelernt: ‚Herr, die Not ist groß. Die Geister, die ich rief, werd’ ich nun nicht mehr los…‘ So haben sich die Energien immer mehr in Materie gewandelt, selbst Welten erschaffen und – der größte Fehler – haben intelligente Wesen hervorgebracht. Lebewesen. Menschen … Jedenfalls hier …"

    „Sie waren auch ein Mensch? Wie lange ist das her?"

    „Sehr sehr sehr lange. Ich bin viele, viele Male wiedergeboren. Ich habe viel gelernt, vieles abgelegt, so dass ich nicht mehr wiedergeboren werden musste. Jedenfalls nicht mehr auf dieser Welt, auf diesem Planeten, denn der hier ist schon eine kleine Hölle … Wohlgemerkt, es gibt noch schlimmere Welten auf anderen Planeten. Aber natürlich auch bessere, vollkommenere als hier. Hier gibt es eigentlich beides: Himmel und Hölle, und beides tragen die Menschen in sich: Es ist ihre Entscheidung, ob sie das eine oder das andere leben wollen, bzw. sich erschaffen. Und wenn ihr die Zeitspanne eures kurzen Lebens vertan habt, dann müsst ihr Rechenschaft ablegen und die Konsequenzen tragen …"

    „Also doch eine Art Jüngstes Gericht, wo man für seine Sünden bestraft wird …!?"

    Wieder war dieses leise Lachen.

    „Du bist viel zu sehr in deiner religiösen Erziehung verhaftet. Natürlich wirst du nicht für deine Sünden bestraft, sondern v o n deinen Sünden; bedauern, bereuen das kann unglaublich schmerzlich ein. Und du lernst unter großen Schmerzen oder kaum welchen – je nachdem, wie gut du lernst. Und dann, nachdem du bei deinem irdischen Tod deine Persönlichkeitsmerkmale abgegeben hast, praktisch nur Seele bist, lernst du, überblickst du Dinge, die du nicht für möglich gehalten hättest. Du siehst deine Leben.

    Und irgendwann machst du dich für eine neue Inkarnation bereit, für die Möglichkeit, so viel zu lernen und zu erfahren was du brauchst, um aufzusteigen. Um nicht mehr hier sein zu müssen.

    Du suchst dir deine alten und neue Persönlichkeitsmerkmale. Du suchst dir dein Leben aus, um dieses Projekt zu bewältigen. Du bestimmst deine Eltern, deine Lebensumstände, bis zu einem hohen Grad dein Schicksal. Und du gehst – im übertragenen Sinn – durch das, was die alten Griechen Lethe, den Fluss des Vergessens nannten: Du weißt nichts mehr von deinen Vorleben, wenn du wieder inkarnierst.

    Manche – wenige – können sich trotzdem daran erinnern, aber das sollte nicht so sein, weil es die Entwicklung nur beeinträchtigt.

    Aber das war natürlich nur ein Kurzabriss. Das alles ist viel umfassender und komplizierter und doch einfach ...

    Du siehst müde aus. Habe ich dich überfordert?" Hatte er mich überfordert?

    Ganz klar: ja.

    Und doch hatte ich noch Hundert – Tausend – Millionen Fragen.

    Aber er war plötzlich weg.

    Es wurde wieder wärmer im Zimmer und ich stieß mit dem Fuß gegen den Tisch.

    Schön blöd. Es hätte ja nicht so heftig sein müssen.

    Ich humpelte ins Bad und machte mir einen kalten Umschlag.

    Wie gesagt: schön blöd. Und so jemanden hatte er ausgesucht, um unverwundbar zu sein?! Womöglich die Welt zu retten vor sich selbst?!

    Mein Kopf hämmerte. Ich zog mich aus, schaffte es noch, mir die Zähne zu putzen und fiel ins Bett.

    Morpheus nahm mich gnädig in die Arme und flüsterte: „Wirklich: schön blöd."

    Ich kann nicht sagen, dass ich an diesem Tag meinen Job besonders gut machte.

    Es gab Gott sei Dank aber auch nur wenige Besprechungen, ein paar Dispo-Fragen und viel Smalltalk. Nichts, worauf ich mich hätte besonders konzentrieren müssen. Kein Dreh, keine Sitzung mit einem Cutter. Die TV-Produktion, die ich für meine Firma betreute, hatte den hektischen Teil hinter, bzw. vor sich. An diesem Tag war gnädiges Durchschnaufen.

    Zeit für viele Gedanken und das Verlangen nach Gesprächen.

    Nur: mit wem?

    Durch die Glastür meines Bürozimmers konnte ich ein paar Kollegen sehen: Mike. Ein Amerikaner. JeanClaude, ein französischer Cutter. Miguel, chilenischer Kameramann. Wir sind ziemlich international aufgestellt.

    Kenne ich meine Kollegen eigentlich?

    Nicht wirklich.

    Ich könnte nicht voraussagen, wie sie reagieren würden, wenn ich ihnen erzählte, was mir passiert ist.

    Ist es mir passiert?

    Wirklich?

    Oder habe ich nur eine blühende Fantasie?

    Oder ist diese Einbildung nur das Ergebnis der letzten chaotischen, hektischen, nahezu mörderischen Wochen?

    Eher nicht. War eigentlich nur der normale Wahnsinn. Ich brauche einen Kaffee.

    Und vielleicht treffe ich auf dem Weg zum Automaten einen netten Kollegen, mit dem ich reden könnte … 

    Ein Kaffee und ein netter Kollege – mein Gott, ich habe ja überhaupt kein Privatleben mehr.

    Freunde?

    Nein, ich gehe die Liste meiner Bekannten jetzt nicht durch.

    Ich bin schon ernüchtert genug.

    Ein Kaffee – verflixt: Ich habe – doch, ich habe genügend Münzen.

    Der Becher wurde ausgeworfen, mein Cappuccino war in Arbeit. Ich beobachtete den Vorgang als sei er unerwartet spannend …

    Mit wem denn reden? Noch dazu über so was …

    „Na, Analyse abgeschlossen, oder kommt jetzt die

    Frage: Wie lang darf mein Kaffee stehen, bis er kalt ist?"

    Ich fuhr herum und sah in das gutmütig lächelnde Gesicht von Ellen Ward aus der Redaktion Gesellschaft/Soziales.

    „Entschuldigung, ich habe geträumt."

    „Kein Problem. War auch nicht ernst gemeint. Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Sie sehen müde aus – oder ist das nur der übliche Wahnsinn hier?"

    Der Ton war frotzelnd, ihr Blick offen und freundlich.

    „Wohl eher der normale Alltagsstress – außerdem fehlt mir eine Nacht."

    „Hoffentlich nur, weil Sie sich sinnlos amüsiert haben?!"

    „Fast. Aber sinnlos ist schon mal ein Punkt."

    Warum fühlte ich plötzlich so einen starken Drang zu reden? Abzutasten, ob sie, die ich auch beruflich kaum kannte, ein Gesprächspartner sein könnte?

    Ich bemühte mich, einen lockeren „Nebenbei-Ton" anzuschlagen.

    „Es war eine völlig verplante, nicht ganz alkoholfreie Nacht, in der ich mir in lockerer Runde Gedanken machen musste, was ich täte, wenn ich unbesiegbar wäre. Also, mich keine Macht der Welt aufhalten könnte.

    Durch nichts und niemand. Wie gesagt: sinnlos …"

    Ich nippte an meinem Cappuccino, sah Ellen zu, wie sie ihren Kaffee auf den Tisch neben dem Automaten stellte, erneut ein paar Münzen einwarf und ebenso leichthin sagte: „Muss noch einen für den Kollegen mitnehmen. Tja sinnlos, weil unmöglich. Aber nicht uninteressant. Die Antwort sagt wahrscheinlich eine Menge über einen selber aus … Tja – was würde ich machen?

    Ich glaube, ich würde Donald Trump jeden Morgen links und rechts ein paar runterhauen – als Frühsport sozusagen. Ein beglückender Gedanke.

    So, jetzt hab’ ich’s. Tschüs, Julia. Und wenn Sie mitkommen wollen und Trump auch eine verpassen, dann sagen Sie Bescheid – sowas rettet den Tag."

    Sie lachte, packte ihre beiden Kaffeebecher und steuerte auf ihr Büro zu.

    Was hatte mir dieses Gespräch gebracht?

    Nichts.

    Und doch …

    Sehr viel beschwingter ging ich an meinen Schreibtisch zurück.

    Doch, es hätte schon etwas für sich, unbesiegbar zu sein … Und die Aussicht, Donald Trump ohrfeigen zu können, wäre definitiv außerordentlich anziehend …

    Im Lift traf ich Ellen wieder und plötzlich war es mehr als ein höfliches, kollegiales „Hallo". Sie nickte fast verschwörerisch und grinste dann ganz unverhohlen:

    „Ich habe komischerweise über Ihren Abend nachgedacht. Oder vielmehr über das Thema: Unbesiegbarkeit, oder Unverwundbarkeit. Und ich habe zu meiner Verblüffung gemerkt, dass ich ungeheuer viele schrecklich gern ohrfeigen würde. Das wäre zwar rohe Gewalt, aber manchmal geht’s eben nicht ohne. Ich hab’s ja gesagt: So eine Möglichkeit sagt viel über einen selber aus. Sagen Sie’s nicht weiter, aber in mir tun sich Abgründe auf – aber natürlich würde ich nie das Verlangen haben, einen unserer Chefs … Würde ich nie tun."

    Letzteres war so todernst und unschuldig vorgebracht, dass ich ebenfalls grinste.

    „Tschüss, schönen Abend. „Bis morgen. Doch.

    Das kurze Gespräch vor dem Automaten hatte schon etwas gebracht.

    Irgendwie.

    Oder hatte womöglich 122 seine Hände im Spiel gehabt ...?

    Ich war mitten in meinem Abendessen – Knäckebrot mit Ei – als es plötzlich wieder kalt wurde.

    Ich nahm es mehr als Adrenalinkick wahr, obwohl ich ahnte – wusste – dass sich das Energiefeld verändert hatte.

    Aber es war nicht 122.

    Es war ein gutaussehender Mann, der aber genauso – unwirklich? – war, wie 122.

    „Wer sind Sie?"

    „Du solltest mich langsam kennen. Ich bin 122."

    „Das kann nicht sein. 122 sieht anders aus."

    „Ja, aber meine Schwingung ist doch dieselbe. Das Äußere erschaffe ich einfach so, damit es leichter ist für dich. Nur mit einer Schwingung zu kommunizieren ist dann doch etwas schwierig für den Anfang. Ich – wir – wissen doch ein bisschen über euch Bescheid. Also, z. B. wen ihr schön findet. Warte."

    Es dauerte vielleicht eine Sekunde und – „George Clooney" stand in meinem Wohnzimmer.

    In meinem Kopf drehte sich wieder einmal alles.

    Ich versuchte, mich zusammenzureißen, mich selbst zu überspielen, irgendwie in eine mir vertraute Normalität zu kommen.

    Ich versuchte es mit Flapsigkeit: „Wow – ich wollte schon immer mal George Clooney umarmen!"

    Ich trat einen schwungvollen Schritt vor um 122 – George – zu umarmen.

    Zu viel Schwung.

    Statt in seinen Armen landete ich auf dem Boden.

    „Tut mir leid", sagte 122, obwohl ich das unbestimmte Gefühl hatte, dass es ihn eher amüsierte.

    „Nun ja, du musst lernen, dass ich nur Energie bin. Ich sehe nur aus wie der, den du eben erwähnt hast, aber ich bin es nicht."

    „Wer bist du wirklich?"

    „In Wirklichkeit bin ich nur Energie mit ein paar Persönlichkeitsanteilen aus dem unendlichen Vorrat der Schöpfung. Das heißt, es gibt mich schon, aber in anderer Zusammensetzung und ganz woanders.

    Ich habe dir schon gesagt, dass es in der unbegrenzten Schöpfung unzählige Welten gibt – über und unter eurer. Ich komme aus der Schwingung eines Planeten, der weit weg ist. Und bevor du dich jetzt fragst, wie das möglich sei, dass ich so schnell hier sein kann, es gibt doch nichts Schnelleres als die Lichtgeschwindigkeit – ja, hier! Wir können sehr schnell überall sein, denn wir – wie erkläre ich dir das – wir falten Raum und Zeit und fliegen durch. Natürlich mit anderen Energien als ihr sie hier kennt. Und wir haben ein paar – wenige – Stationen um und auf der Erde, denn wir sind sehr besorgt um euch.

    Ihr steuert sehenden Auges auf den Abgrund zu, und ihr tut nichts, um den Sturz zu verhindern.

    Im Moment sind viele geschundene Seelen aus Not und Kriegen inkarniert. Das entschuldigt, oder besser, erklärt die Habgier und die Rücksichtslosigkeit so erschreckend vieler. Aber sie werden bitter dafür büßen müssen."

    „Und um das zu ändern, hast du mich ausgesucht und …"

    „Nein. Du hast es dir selbst ausgesucht als du vorhattest, zu inkarnieren. Du hast dir deine Persönlichkeitsmerkmale aus der unendlichen Einheit bestimmt und dein Schicksal gezeichnet."

    „So blöd kann noch nicht mal ich sein, dass ich mir diese Verantwortung freiwillig aussuche! Heißt das: ich kann gar nicht anders?"

    „Doch. Die Schöpfung, oder die göttliche Entität, hat jedem Geschöpf ein Bestimmungsrecht, oder wie ihr sagen würdet: einen freien Willen zugestanden. Damit hat die Katastrophe der Schöpfung ja angefangen …

    Und jeder muss die Konsequenzen seines Handelns, oder – noch schlimmer: seines Nicht-Handelns tragen. Das ist so ein ganz kleiner Rest von Erkenntnis, den sich die Religionen behalten haben. Sie drücken es nur verschieden aus. Das ist aber auch das Einzige, das Bestand hat.

    Ansonsten haben die meisten Religionen nur Unheil über die Menschen gebracht. Nichts ist so grausam und gleichzeitig so blasphemisch wie im Namen Gottes Kriege zu führen.

    Gemetzel und Gewalt – als ob die göttliche Einheit es nötig hätte, ihre Allmacht von euch verteidigen zu lassen. Aber du wolltest wissen, wieso 122.

    Ich habe natürlich eine Art Namen, aber er wäre zu kompliziert für dich, denn er ist eine andere Art von Schwingung. Aber wir haben – wie bei euch und wie überall in der Schöpfung eine Art Hierarchie.

    Ich habe gesagt: wir – also meine Existenzen – sind auf und um eure Welt. Ich komme von einer Station, in der ich die Nummer 122 bin. Du musst dir das jetzt nicht so vorstellen, wie in einem eurer Science-Fiction-Filme: Es ist alles ganz anders und trotzdem erstaunlicherweise doch ähnlich … 

    Also, ich bin an der 122. Stelle in dieser Hierarchie. Das sagt nichts über den Rang aus, sondern für uns ist das eine Anforderungsposition mit bestimmten Aufgaben. Entpersonalisiert, denn wir sind keine Personen. Ich habe mich einfach 122 genannt, damit du dir zumindest irgendwie etwas vorstellen kannst, denn sogar unser Zahlensystem ist anders, weil wir mehrere Dimensionen haben."

    „Trotzdem weißt du erstaunlich gut über uns Bescheid… Beobachtet ihr uns?" 

    „Eigentlich nicht, denn dazu seid ihr – also der Planet Erde trotz all seiner Facetten – nicht interessant genug für uns."

    „Und doch bist du da …"

    Wieder ein Lächeln, Grinsen, in seinem – also George Clooneys – holografischem Gesicht.

    „Ich bin da, weil mich die Erde interessiert. Jedenfalls das meiste davon.

    Das wäre bei euch vergleichbar mit einem Forscherteam, das in irgendeinem entlegenen Dorf in der Mongolei oder am Amazonas Studien über Sitten und Gebräuche dort machen würde. Das interessiert die allermeisten zwar überhaupt nicht, aber ein paar Forscher interessiert es.

    So ist das auch bei uns: Als andere Daseinsform in einer anderen Welt interessiert das kaum. Ihr seid zu – entschuldige – primitiv, zu unreif und als Spezies ein ziemlicher Pfusch. Aber ich und noch ein paar andere sind immer noch fasziniert von euch. Auch wenn wir nur den

    Kopf über euch schütteln können …

    Irgendwie seid ihr faszinierend in eurer Dummheit und Arroganz. Und ich habe die Erlaubnis, Experimente mit euch zu machen. Du bist nur Mittel zum Zweck – daher die Unbesiegbarkeit, Unverwundbarkeit und damit eine neue Macht."

    „D. h.: Du benutzt mich, um …!! Was, wenn ich meine Macht missbrauche? Wenn ich nur zu meinem Vorteil agiere? Wenn ich – mein Gott – ich weiß nicht was anstelle!?"

    „Dann ist unser Experiment gescheitert und du verlierst diese Macht wieder, d. h. ich nehme sie dir, wie ich sie dir gegeben habe.

    Aber du kannst dir Verstärkung holen und sie dann ebenfalls unverwundbar machen. Für einen kurzen oder längeren Zeitraum."

    „Und wie mache ich das?" Es klang pampig, trotzig, gekränkt, eigentlich infantil – obwohl ich hier eine Chance bekommen sollte, Dinge zum Besseren zu wenden.

    Müsste ich nicht dankbar sein?

    Ja.

    Nein.

    Wie sollte ich das schaffen – schon rein zeitlich? 

    Nach Büroschluss?

    In meinem Urlaub mal schnell die Welt retten?

    Völlig unmöglich. Da hilft auch kein George Clooney.

    Er sah gar nicht mehr aus wie George Clooney. Das war plötzlich ein ganz anderes Gesicht. Es erinnerte mich an jemanden, aber ich wusste im Moment nicht, an wen.

    Spielte ja auch keine Rolle, denn 122 nahm ja nur die Gestalt von jemandem an.

    War auch besser so. George Clooney verwirrte mich nur.

    122 war jetzt blond und immer noch sehr gutaussehend. Und sein Ausdruck war nicht mehr amüsiert, sondern freundlich. Liebevoll fast.

    „Das ist mein Experiment: Du nimmst dir ein Sabbatical – sagen wir ein Jahr Urlaub, indem du nichts anderes tust, als deine Unverwundbarkeit auszuspielen. Mit ein paar Unterstützern, denen du die gleiche Unverwundbarkeit gibst. Wie, sage ich dir später.

    Und dann sehen wir, was kommt. Ob du wirklich etwas zum Besseren wenden könntest."

    „Und wovon zahle ich meine Miete in der Zwischenzeit? Wovon die Reisen, die notwendig sein würden? Für mich, für meine ‚Unterstützer‘, wie du sagst?"

    „Auch dafür ist gesorgt: Du spielst eines von eueren

    Zahlengewinnspielen und räumst ab."

    „Lotto? Sehr witzig. Du solltest wissen, dass die Gewinnchancen 1 zu wie viel Millionen? stehen."

    „Natürlich weiß ich das. Aber ich werde dafür sorgen, dass du gewinnst."

    „Aha – kannst du sie voraussehen?"

    „Nein. Aber beeinflussen. Mit Energie – schon vergessen?"

    Ich glaube, ich bin in einem Traum. Und ich bin nicht sicher, ob ich aufwachen möchte.

    Ich habe tatsächlich den Jackpot gewonnen und auf meinem Konto liegt unglaublich viel Geld.

    Wenn ich meinen Chef um unbezahlten Urlaub bitte, werde ich sagen, dass ich Geld gewonnen habe und eine Auszeit möchte. Es muss wohl sein, wenngleich ich natürlich nur einen Bruchteil des Geldes zugeben werde, denn es gibt hier schon Gerüchte.

    Weiß der Geier, woher die Quelle dieses Klatsches kommt. Ich hätte immer gedacht, das alles würde so diskret gehandhabt wie nur möglich, um eventuelle kriminelle Instinkte von Neidern gar nicht erst zu wecken.

    Sei’s drum.

    Ich gebe ein paar Tausend zu und bringe damit hoffentlich die Gerüchte zum Schweigen.

    Mein Kameramann ist ein sehr fähiger und lieber Kollege, aber Diskretion ist nicht unbedingt seine Stärke. Ich werde ihm also unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählen, dass ich 40.000 Euro gewonnen habe. Das scheint mir eine zulässige Summe zu sein, und morgen werden es viele wissen.

    Es wussten alle.

    Fröhliche Glückwünsche.

    Neidische Glückwünsche.

    Mehr oder weniger witzige Blödeleien. („Ach, würden Sie mir die Lottozahlen von nächster Woche verraten?") Aber dann ebbte die Sensation ab und der Gang zum Kaffeeautomaten wurde nicht mehr zu einer Art Spießrutenlauf.

    Ich traf Ellen wieder am Automaten. Sie lächelte. 

    „Na, Gewinn gut überstanden? Es ist für alle anderen wahrscheinlich verwirrender als für Sie."

    „Allerdings. Ich glaube, man erwartet von mir, dass ich jetzt alles für jeden bezahle …"

    „Stark bleiben und diesbezügliche Avancen ablehnen. Spätestens beim fünften Nein haben es alle kapiert und der Frieden ist wieder hergestellt"

    „Hoffentlich. Wie lange sind Sie eigentlich schon in dem Laden? Ich meine, ich sehe Sie erst seit ein paar Wochen hier."

    „Mich gibt’s hier schon seit anderthalb Jahren. Ich war nur ein Stockwerk tiefer.

    Ulkig: Wir sind nun wirklich keine so große Firma und man kennt sich trotzdem nicht. Eigentlich schade. „Och, dann lassen Sie uns das ändern: Ich lade Sie drüben zum Italiener ein. Ganz spontan nach Dienstschluss.

    „Das ist eine nette Idee. Ja, machen wir. Aber, Julia, Sie müssen mich nicht einladen. Ich komme auch so gern. Ich bin nämlich vor anderthalb Jahren überhaupt erst hierhergekommen und wenn man den ganzen Tag im Büro sitzt und vor lauter Stress abends nur noch ins Bett fällt, macht man sich nicht so schnell Freunde und Bekannte. Ja, ich komme gern."

    Wenn ich jetzt 122 erzähle, dass das womöglich der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein könnte, kommt er vielleicht das nächste Mal als Humphrey Bogart … Ich kicherte vor mich hin.

    Begegnungen mit anderen Energien haben definitiv etwas für sich.

    Natürlich hatte ich 122 in Verdacht, dass er der näheren Bekanntschaft mit Ellen nachgeholfen hatte.

    Sei’s drum.

    Ellen war nett, fröhlich, clever und alles andere als oberflächlich. Ich schätzte sie so auf Anfang dreißig – also etwa mein Alter. Sie war grösser als ich, blond, mit unglaublich blauen Augen, einem sehr fein gezeichneten Gesicht und wirklich sympathisch. Womöglich eine potentielle „Mitstreiterin? Wenn 122 wirklich dahintersteckte, dann musste ihm auch klar sein, dass ich noch etwas Zeit brauchen würde, um für meinen „Kreuzzug für das Gute Mitstreiter zu finden.

    Ellen wäre vielleicht so ein Partner.

    Ich hatte sie nicht ins Vertrauen gezogen. Noch war ich zu unsicher. Und doch: Die Zeit brannte mir auf den Nägeln. Ich sollte loslegen. Vielen, vielen entsetzlichen Entwicklungen ein Ende bereiten.

    Jedenfalls es versuchen. Ohne Risiko. Ich war unverwundbar, unbesiegbar, mächtig.

    Trotzdem konnte ich allein die Welt nicht retten. 

    Dazu bräuchte ich ein paar hunderttausend Helfer und Partner, die ich alle gar nicht kennen konnte.

    Ich müsste blind so vielen ebenfalls so viel Macht geben.

    Und was würden sie mit so viel Macht anfangen?

    Viele würden sich bestechen lassen, ganz oben mitmischen bei neuen Sauereien und das Problem noch vergrößern. Zweifellos würde ein Kim Jong Un oder ein Joseph Kabila und noch viele andere jede gewünschte Millionensumme auf den Tisch legen, um auch unverwundbar zu werden.

    Wer würde so viel Geld widerstehen können?

    Kann ich es?

    Doch, bei mir bin ich mir ziemlich sicher. Ich habe mehr als ich brauche, auch wenn ich für diese Unternehmung viel Geld brauchen werde.

    Wen kenne ich, der sich nichts, oder zumindest wenig aus Geld macht?

    Es war verrückt, aber mir fiel nur Nico ein, mein Ex. Ja, mit Nico würde es gehen: Er ist zuverlässig, loyal und einfach grundanständig. Je mehr ich drüber nachdachte, desto sicherer wurde ich: Ja, Nico. Mein bester, vielleicht sogar mein einziger wirklicher Freund. Wir hatten als Ehepaar nicht richtig funktioniert, aus welchem Grund auch immer. Aber wir sind nach einer fairen und friedlichen Scheidung Freunde geworden. Freunde, die sich absolut aufeinander verlassen konnten und die einfach wussten, wie der andere tickt.

    Und das Schöne obendrein: Auch mit Nicos Frau verstand ich mich vom ersten Moment an unglaublich gut. Lissi war ebenso offen auf mich zugekommen wie ich auf sie. Bei unserem ersten Zusammentreffen hatten wir beide eine verblüffende Vertrautheit gespürt und gleich so viel Gesprächsstoff gehabt, dass Nico glaubte – wie er später klagte – das fünfte Rad am Wagen zu sein und seine Anwesenheit ab und zu energisch unter Beweis stellen zu müssen.

    Als er schließlich auf Freiersfüßen wandelte, fragte er erst mich, ob ich fände, dass das mit Lissi gut gehen würde, und ich gab ihm lachend meinen Segen.

    Bis heute jedenfalls ist es gut gegangen.

    Es gab mir lediglich damals einen kleinen Stich, als er mir vor vier Jahren mitteilte, dass er Vater würde.

    Aber das ist vorbei. Ich bin zur begeisterten Taufpatin seiner kleinen Tochter geworden und beobachte mit Vergnügen, wie Alicia ihren Vater jetzt schon um den Finger wickelt …

    Ja, wenn Nico mitmachen würde, sähe ich meiner Aufgabe schon etwas gelassener entgegen.

    Aber würde er mitmachen?

    Er hat Familie, einen guten Job.

    Ich fühlte eine leichte Panik in mir aufsteigen, aber irgendwann würde ich mich entscheiden müssen. Loslegen.

    Gut, ich werde sowohl Ellen als auch Nico endlich einweihen und hoffentlich, hoffentlich: eine positive Antwort bekommen: dass sie mitmachen. 

    Dabei sind.

    Mir helfen – oder mich für verrückt halten. Wobei ich ihnen Letzteres nicht eigentlich verübeln könnte. Ich bin selbst nicht ganz sicher, ob ich nicht Wahnvorstellungen habe. Ich bin mir überhaupt über nichts mehr sicher.

    Trotzdem: jetzt den Stier bei den Hörnern packen, bevor mich der Mut verlässt! Jetzt Nico fragen, ob er überhaupt die Zeit hat, mir zu helfen, mir beizustehen und meine Absichten und Aufgaben zu seinen zu machen.

    Ich seufzte und tippte in mein Telefon in der leisen Hoffnung, dass keiner da sein würde. Ich noch eine kleine Galgenfrist bekäme… Schließlich hatte ich – bewusst oder unbewusst – seine Festnetznummer gewählt.

    Seine vertraute Stimme ließ meinen Adrenalinspiegel wieder etwas sinken.

    „Hallo, Julchen, wie geht es dir?"

    „Danke gut. Nicky, ich muss dringend mit dir reden: Könntest du

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