Nicht mit uns: Wie ich mit meiner Tochter untertauchte
Von Doris Povse
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Buchvorschau
Nicht mit uns - Doris Povse
Doris Povse: Nicht mit uns
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 edition a, Wien
www.edition-a.at
Lektorat: Dino Beck
Cover und Gestaltung: Hidsch
Gesetzt in der Premiéra
Gedruckt in Europa
1 2 3 4 5 6 – 17 16 15 14
eBook-ISBN 978-3-99001-096-9
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
Dieses Buch basiert auf tatsächlichen Begebenheiten. Teilweise wurden Namen, geografische Gegebenheiten und andere Details aus Gründen des Datenschutzes, des Schutzes beteiligter Personen sowie der leichteren Verständlichkeit verändert.
Vorwort an meine Kinder
Liebe Sofia,
wenn du diese Zeilen liest, wird die Zeit weit vorangeschritten sein, und du wirst alt genug sein, sodass du viel mehr als jetzt verstehen und wissen wirst, wahrscheinlich sogar mehr, als ich mir heute vorstellen kann. Ich hoffe und glaube fest daran, dass sich bis dahin alles zum Guten wendet, und du eine gute Beziehung zu deinem Papa aufgebaut haben wirst. Ich hoffe, dass er dir seine väterliche Liebe schenkt und dass er dein Leben mit seinen Erfahrungen und der Kultur seines Landes bereichert.
Es tut mir leid, dass wir gemeinsam so lange voll Angst leben mussten. Dein Papa und ich – was soll ich sagen, es hat nicht funktioniert zwischen uns, und irgendwann waren die Gräben zu tief und die Mauern zu dick. Du weißt es selbst, auch wenn du, als du mittendrin warst, vielleicht alles eher gefühlt als verstanden hast. Wir konnten überhaupt nicht mehr miteinander reden. Alles war dunkel. Ich hoffe, dass du niemals eine solche Erfahrung mit einem Mann machen musst. Aber was immer auch zwischen deinem Papa und mir war, soll kein Hindernis dafür sein, dass ihr beide zueinander findet.
Liebe Sofia, ich schreibe diese Nachricht an dich genau ein halbes Jahr nach dem Ende unserer Flucht. Du kannst dich vielleicht daran erinnern, wie ich manchmal ganz unerträglich war und ständig geweint habe, daran, wie wir uns gemeinsam in Wohnungen und Häusern von Freunden und Fremden versteckt haben. Ich hoffe, dass du mir und uns allen verzeihst, was du unseretwegen in dieser Zeit durchmachen musstest.
Am meisten tut es mir leid, dass wir uns an die Öffentlichkeit wenden mussten, und dass du unfreiwillig und ungefragt eine Bekanntheit erlangt hast, als gehörte unser Leben nicht mehr uns, sondern als wäre es eine Art Reality-Soap, mit vielen Produzenten und Regisseuren. Ich hoffe, du verstehst, dass dieser Schritt unvermeidlich war, dass er damals die einzige Möglichkeit war, das Schlimmste, das Allerschlimmste, unsere gewaltsame Trennung zu verhindern.
Jetzt, während sich alles zum Besseren zu wenden scheint, und dein Papa und ich endlich wieder miteinander reden können, erscheint mir unsere Flucht wie ein irreales Abenteuer. Als wäre es tatsächlich eine Reality-Soap gewesen. Jetzt lachst du wieder mit mir, anstatt wie damals mit mir zu weinen.
Es wäre so gesehen nicht notwendig, dieses Buch zu schreiben. Wir haben die Krise überwunden. Wir brauchen keine Strategie mehr. Es gibt niemanden, dem Schuld zuzuweisen irgendeinen Sinn ergeben würde, und wir sind niemandem eine Erklärung schuldig. Dennoch denke ich, dass es trotz aller Intimität, die die folgenden Seiten enthalten, trotz aller unmittelbaren und sehr privaten Einblicke in unser Schicksal, richtig war, dieses Buch zu schreiben, und zwar nicht nur wegen der vielen Menschen in unserem Land, die in den Zeitungen und vor den Fernsehern mit uns mitgefiebert haben und danach mehr über uns wissen wollten, wie ich vielen Briefen und E-Mails entnahm. Vor allem ist dieses Buch für mich ein Weg der Verarbeitung.
Immer nur auf der Flucht zu sein, sei es eine äußere wie die, auf der wir waren, oder eine innere vor den Abgründen, die das Erlebte hinterlassen hat, ergibt keinen Sinn. Wirklich und richtig zu leben, bedeutet, dem Leben in die Augen zu sehen. Wenn es stimmt, dass die wahre Hölle auf Erden jene Dinge sind, die wir aus Angst verpasst haben, dann ist Verdrängung das Tor dorthin.
Mein sehnlichster Wunsch ist, dass du in deinem Leben nur noch freiwillige Abenteuer auf dich nimmst. Dass dir kein Unglück mehr zustößt, und schon gar keines im Zusammenhang mit unserer Familie. Und dass du deine Fröhlichkeit und dein unbekümmertes, strahlendes Lachen für immer behältst.
Ich werde immer für dich da sein, das verspreche ich dir. Wenn du glücklich bist, werde ich mich für dich freuen, und wenn dein Weg gerade einmal schwierig sein sollte, werde ich zur Stelle sein und dir beistehen. Bedingungslos, mit aller Kraft, mit aller Liebe. Ich liebe dich so sehr. Und dein Papa liebt dich auch.
Es küsst dich
deine Mama
Lieber Philip,
dieses Buch habe ich in einer Zeit geschrieben, in der dein Papa und ich fürchten mussten, deine Schwester Sofia könnte uns mit Gewalt weggenommen werden. Wenn du groß genug bist, wirst du verstehen, warum ich es schreiben musste. Die Geschichte, die ich darin erzähle, ist auch die deine, auch wenn du darin zu deinem Glück nicht im Mittelpunkt stehst. Sie hat für eine Weile einen Schatten auch über dein Leben geworfen.
Es ist am Ende alles gut ausgegangen. Trotzdem bist du schon als kleines Kind in eine schwierige Situation geraten, an der dein Papa genauso wenig schuld war wie deine Halbschwester oder gar du selbst. Vielleicht hast du irgendwie mitbekommen, dass die Dinge eben doch auch gut gehen können für jene, die ihre Hoffnung bewahren und kämpfen. Trotzdem weiß ich, dass du ein Stück Vergangenheit mit dir herumträgst, das für dich wahrscheinlich unhandlich ist, und zu dem du erst eine Einstellung finden musst, die du dann während deines Lebens mit wachsenden Erfahrungen wohl noch ein paar Mal verändern wirst.
Ich werde jedenfalls alles dafür tun, dass du eine schöne Kindheit erlebst, dass du gesund bleibst und glücklich wirst, und dass wir immer in aller Offenheit miteinander umgehen, sodass nichts zwischen uns treten kann, weder Vergangenes noch Kommendes. Ich freue mich darauf, dass du mir einmal erzählst, wie du dich zum ersten Mal verliebt, wie du zum ersten Mal etwas Dummes angestellt oder wie du dich zum ersten Mal betrunken hast. Ich freue mich auf Tage, in denen diese Geschichte vielleicht nur noch eine Anekdote ist, eine Erfahrung, die uns eint, ohne dass sie noch schmerzen könnte.
Ich liebe dich, und dein Papa Raimund liebt dich auch.
Meine Engel.
Euer Atem ist freudiges Lächeln.
Euer Herzschlag ist heilender Balsam.
Und die Federn eurer duftenden Flügel kühlen meine glühende Stirn.
1. Angst
Es war am 14. Juli 2013 um 6.10 Uhr morgens. Der Wecker klingelte, aber ich drehte mich schlaftrunken zur Seite und vergrub mein Gesicht im Kissen. Ein paar Minuten wollte ich noch die Ruhe der endenden Nacht, die Zeit des sorglosen Schlafes genießen. Nur im traumlosen Schlaf fühlte ich mich sicher.
Sobald ich die Augen öffnete, war es mit der Ruhe vorbei. Ich musste augenblicklich aufstehen, um mit einer möglichst alltäglichen Tätigkeit meine Sorgen zu verdrängen. Raimund, mein Lebensgefährte, war bereits auf, und wir bereiteten gemeinsam das Frühstück zu. Ich konzentrierte mich auf jede Einzelheit. Tee kochen, Brot schneiden, Gläser und Teller auf den Tisch stellen, das alles war für mich wie Meditation, wie ein Ritual, ein Gebet. Ich zelebrierte Kleinigkeiten des Alltags, um nicht verrückt zu werden.
Als der Tisch gedeckt war, wollte ich Sofia aufwecken, damit sie es rechtzeitig in den Kindergarten schaffte. Die Tür zu ihrem Kinderzimmer war angelehnt. Das wunderte mich. Ich spürte in meinem Inneren einen Ruck, der mich für den Bruchteil einer Sekunde innehalten ließ. Dann drückte ich die Tür auf, und meine schlimmste Befürchtung bewahrheitete sich.
Wir lebten damals in einem Haus in Berndorf, das Teil einer Reihenhaussiedlung war. Die weißen Häuser dort hatten ein rotes Dach, ein Erdgeschoß und ein Dachgeschoß. In unserem Wohn- und Esszimmer standen Fernseher und indische Holzmöbel. Sofias Zimmer war mit hellen Kiefernholzmöbeln eingerichtet, hatte rosa Wände, die mit Postern von Katzen und Marienkäfern geschmückt waren. In dem Regal ruhten ihre Barbiepuppen und ihre Legosteine. Über ihrem Bett hingen Fotos von ihren Freundinnen und eine große Mickymausuhr.
Sofias Bett war leer. Meine Hände wurden nass, ich bekam keine Luft mehr und fühlte den Puls in meiner Stirn pochen. »Komm schnell«, schrie ich in Richtung der Küche, »Sofia ist weg!«
Im nächsten Moment war Raimund da. Mein geliebter großer Mann mit den breiten Schultern und den hellen Haaren tauchte neben mir auf, als wäre er geflogen. Gemeinsam riefen wir Sofia beim Namen und suchten sie im ganzen Haus. Ich suchte unter ihrem Bett, hinter den Möbeln, im Bad. Ich lief ins Dachgeschoß, wo wir ein Arbeits- und Gymnastikzimmer mit einer ausziehbaren Couch hatten. Nach drei Minuten griff ich mit zitternden Fingern nach meinem Handy, aber ich war mir nicht sicher, ob ich die Polizei oder meinen Anwalt anrufen sollte.
Gleichzeitig zog ich mir die Schuhe an. Vielleicht war sie einfach nur weggelaufen, und weit konnte sie ja nicht gekommen sein. Ich versuchte, bei Verstand zu bleiben, doch meine Panik war stärker. Vor meinem inneren Auge spielten sich die schlimmsten Entführungsfantasien ab. Ich war einem Nervenzusammenbruch nahe, aber mein Kopf sagte mir, dass ich stark sein musste, für Sofia.
»Das kann nicht sein«, sagte Raimund. Ich merkte, wie er sich bemühte, ruhig zu sprechen, wohl um meiner Panik keine Nahrung zu geben. »Sie wird sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.«
Ich öffnete die Haustür und rief Sofias Namen auf die Straße hinaus. Meine Rufe verhallten über dem Parkplatz unserer Siedlung. Ich bildete mir ein, drüben beim Müllraum einen Schatten gesehen zu haben, aber da war nichts. Raimund packte mich von hinten an den Schultern. »Schau drinnen weiter«, sagte er. »Sie muss da sein.«
Hektisch lief ich noch einmal durch alle Zimmer. Philip, unser zweijähriger Sohn, wachte auf und fing zu weinen an.
»Alles ist gut«, sagte ich zu ihm, doch meine Stimme überschlug sich, und er weinte noch lauter.
Aus dem Schlafzimmer hörte ich ein leises Geräusch. Ich riss die Tür auf und war binnen Sekunden wie erlöst. Sofia kletterte kichernd unter unserem Doppelbett hervor. Ich stürzte mich auf sie, umarmte und küsste sie. Mit dem Ärmel wischte ich mir über das Gesicht. Tränen der Erleichterung waren mir aus den Augen geschossen. Sofia musste sie nicht sehen. Sie musste nicht wissen, wie groß der Druck war, unter dem ich stand, und wie sehr mich ein kleiner Streich in den Wahnsinn treiben konnte. Doch Sofia hatte ein feines Sensorium. Sie kuschelte sich an mich. »Entschuldige, Mama«, sagte sie. »Ich wollte nicht, dass du traurig bist. Ich dachte, es wäre lustig.«
»Ein anderes Mal wäre es vielleicht lustig gewesen, aber heute hast du mir einen großen Schrecken eingejagt«, sagte ich.
Raimund kam mit Philip auf dem Arm ins Zimmer, küsste mich auf die Stirn und dann Sofias goldene Haare. »Komm Sofia, zieh dich an«, sagte er, während er mir einen beruhigenden Blick zuwarf. »Du musst in den Kindergarten.«
Sofia hatte sich nichts dabei gedacht. Doch ich war einfach zu angespannt, um Spaß zu verstehen. In jeder anderen Situation hätte ich ihren Streich vielleicht witzig finden können, aber nicht in dieser. In zehn Tagen sollte der Gerichtsvollzieher Sofia abholen. Ich war nicht einmal offiziell informiert worden, wohl, damit die Behörden den Überraschungseffekt auf ihrer Seite hatten. Doch mein ehemaliger Anwalt hatte einen anonymen Anruf mit dem Hinweis bekommen, dass der Gerichtsvollzieher am 24. Juli um fünf Uhr morgens kommen würde, und er hatte mir zum Glück sofort Bescheid gesagt.
Obwohl ich davor jahrelang Zeit gehabt hatte, mich an schlimme Nachrichten zu gewöhnen, hatte mich diese in ihrer Endgültigkeit besonders erschüttert. Was der Anwalt da ausgesprochen hatte, war für mich unvorstellbar. Eine Gruppe Männer in Uniformen würde kommen und meinen blonden Engel wie eine Verbrecherin abführen. Sie würden Sofia mitnehmen. Weg von uns. Weg von ihrer Familie. Weg von ihrer Heimat. Eine schreckliche Vorstellung. Schlimmer als meine schlimmsten Albträume.
Immerhin wusste ich jetzt, dass es da draußen Menschen gab, die zu uns hielten, und ich kannte den Plan des Gerichts. Ich musste nicht mehr befürchten, dass sie Sofia heimlich in der Nacht aus ihrem Kinderzimmer oder untertags aus dem Kindergarten holen würden. Erst am 24. Juli sollten sie kommen, und bis dahin hatte ich noch zehn Tage Zeit, um an einem Plan zu arbeiten.
Raimund half mir dabei. Am nächsten Tag, dem 15. Juli, saßen wir gemeinsam an unserem Esstisch im Wohnzimmer. Der Bildschirm des Laptops warf einen blauen Schimmer auf Raimunds Gesicht. Die Fenster waren gekippt und von draußen hörten wir das Zirpen der Grillen.