Nie stimmt immer alles: Geschichten
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Über dieses E-Book
Von Rückblicken aus der Zukunft und dem Hunger nach Blues.
Von der Erwartung des Glücks und Menschen, die uns Heimat geben.
Mit wachem Blick für das Besondere im Alltäglichen zeigt der Autor
die einfachen und schönen Dinge im Leben und formt daraus Geschichten voller Menschenfreundlichkeit und Humor.
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Buchvorschau
Nie stimmt immer alles - Gerhardt Engbarth
»Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist eine Geschichte«.
Anthony de Mello
»Humor ist nicht erlernbar. Neben Geist und Witz setzt er vor allem ein großes Maß an Herzensgüte voraus, an Geduld, Nachsicht und Menschenliebe. Deshalb ist er so selten.«
Curt Goetz
Inhalt
Prolog: Nie stimmt immer alles
Der Herr der Züge
Kartoffelkopp
Eine kleine Person, ein großer Mensch
Der Hunger nach Blues
Kleines Instrument, großer Klang
Tom Sawyer und Ralph Dickopf
Die Erwartung des Glücks
Das Ventilchen
Ein Sobernheimer in Paris
Menschen, die uns Heimat geben
Sommerregen
Zum Nachtisch eine Gitarre
Das Orgelnachspiel
Die Markierung
Siebzehn Päckchen Salbeibonbons
Meine härteste Fahrt als Roadie
Rückblick aus der Zukunft
Gespräche übers Wetter
Der Geist aus der Ballonflasche
Wie die Zigaretten mit mir Schluss gemacht haben
Der Diener
Phantasien
Die betriebliche Weihnachtsfeier
Das Portemonnaie und der Zusammenhalt
Die Peinlichkeit
Mundartlicher Bilderreichtum
Catsitter
Schlagfertigkeit
Der Samariter
Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf
Das Leben ist ein Schweizer Käse
Der Gürteltest nach Engbarth
Das Tandem
Das Aschekreuz
Die Konfusion
Die Berauer Bernadette
Angsthasen und Mutmacher
Wart’ nur, wenn ich dich erwische
Gänse-Blues
Die Frau, die Bäume pflanzt
Der Roboter, der beten kann
Das Löwenzähnchen und die Gladiolen
Leseprobe aus dem ersten Geschichten-Band »Das Leben ist ein Blaues Buch mit Eselsohren«
Leseprobe aus dem zweiten Geschichten-Band »Der Frosch und die Blumen der Hoffnung«
Prolog: Nie stimmt immer alles
Alles hat damit angefangen, dass ich am zweiten Weihnachtstag 1965 in die Fernsehsendung des American Folk Blues Festivals stolperte, meine Nackenhärchen sich stellten und Gänsehaut mir über Rücken und Arme lief. Ich ahnte nicht, dass dies ein Wendepunkt in meinem Leben war, während gleichzeitig etwas in mir wusste: DAS IST ES!
Ein dreiviertel Jahr musste ich warten, bis ich im Oktober mein erstes Live-Konzert besuchen konnte, das American Folk Blues Festival 1966, in dem ich Menschen erlebte, die in der Kunstform Blues das Leben auf den Punkt brachten, Freude und Schmerz, Liebe und Angst. Nie zuvor hatte mich etwas so angesprochen. Ich spürte: Das hat mit mir zu tun. Hier gehöre ich hin. So will ich sein.
In der Pause zog es mich in die Künstler-Garderobe. Weil die anderen Musiker sich mit Konzertbesuchern unterhielten, ging ich zu Sleepy John Estes, der, allein auf einem Stuhl sitzend, einen Anzug trug, der ihm in den 30er Jahren einmal gut gepasst haben mochte, ihm aber nun um den Leib schlackerte wie ein Segel bei einem lauen Lüftchen. Ich sagte: »Hello, Mr. Estes, it is not easy for Europeans to understand the Blues.«
Keinesfalls hatte ich laut und durchdringend gesprochen, doch plötzlich war es mucksmäuschenstill im Raum. John Estes ließ den Blick seiner blinden Augen über den Rand der Sonnenbrille hinweg in meine Richtung gleiten und er antwortete: »One day you will understand«. Und wieder stellten sich meine Nackenhaare, und Gänsehaut lief mir über Arme und Rücken.
Das Orakel des blinden Sehers sollte mich durch mein Leben begleiten und mich leiten.
»Eines Tages wirst du verstehen« – das meinte den Blues, das meinte das Leben. In der Schule des Blues lernte ich Mundharmonika und Gitarre spielen und trat ab 1972 öffentlich auf. Was die Schule des Lebens mich lehrt, dem gebe ich Form in Blues und Geschichten, deren Quintessenz lautet: »Nie stimmt immer alles«, was für mich bedeutet: Wenn wir unsere Unvollkommenheit als das eigentlich Menschliche erkennen und annehmen, können wir das Leben nehmen wie es ist, auch wenn es nicht so läuft, wie wir es uns vorgestellt haben und uns von den Wendungen zum Guten überraschen lassen, die sich einstellen.
Als Bild für diesen Satz und für den Titel des Buchs habe ich Mullah Nasrudin gewählt, einen türkischen Eulenspiegel aus der Zunft weiser Narren, der seinen Esel verkehrt herum sitzend reitet, den Rücken nach vorne und die Nase nach hinten. Gefragt, warum er das tue, antwortet er: »Wo mein störrischer Esel mit mir hinläuft, kann ich eh nicht bestimmen, aber wo ich herkomme, das sehe ich so herum sitzend ganz genau.
Zwei Beispiele, wie der Erzähler dieser Geschichten den Satz »Nie stimmt immer alles« erfährt: Da lädt er bei strömendem Regen einen vermeintlich guten Nachbarn zur Mitfahrt nach Hause ein, um festzustellen, dass er ihn von hinten mit einem anderen Nachbarn verwechselt hat, mit dem er schon seit Jahren kein Wort mehr spricht, was sich durch die Verwechslung schlagartig ändern soll.
Oder der Erzähler und seine Frau sind bei ihrer Gänsezucht von den charakterlichen Schwächen der Gänse so enttäuscht, dass sie sich von den Tieren trennen, um im Herbst eine Überraschung zu erleben.
So bleibt unterm Strich die Erkenntnis: Wenn wir den Satz »Nie stimmt immer alles« annehmen, wird immer alles für uns stimmen, auch wenn sich das Leben als »vollkommen unvollkommen« erweist.
•
Eine jüdische Legende erzählt: »Ein Rabbiner durchquerte ein Dorf, ging in den Wald, und dort, am Fuß eines Baumes, betete er. Und Gott hörte ihn. Auch sein Sohn durchquerte dieses Dorf. Er wusste nicht mehr, wo der Baum war. So betete er am Fuß irgendeines Baumes. Und Gott hörte ihn. Der Enkel des Rabbiners wusste weder, wo der Baum, noch wo der Wald, noch wo das Dorf war. Aber er kannte noch das Gebet. Und Gott hörte ihn. Der Urenkel kannte weder den Baum, noch den Wald, noch das Dorf, noch Gebet. Aber er kannte noch die Geschichte und erzählte sie seinen Kindern. Und Gott hörte ihn.«
Ich mag diese Parabel, weil Gott in ihr als großer Zuhörer offenbar wird und nicht als kleinkarierter Korinthenkacker, der den Menschen Rituale und Gesetze aufzwingt, die sie zu erfüllen hätten, damit er sie hört. Er hört alle, auch den Urenkel, der nicht betet, sondern »nur« die Geschichte erzählt. Das zeigt, welch hoher Wert im Judentum Geschichten zugemessen wird.
Die Erzählungen in diesem Buch stammen aus zwei Quellen: Die kürzeren sind im Rahmen meiner wöchentlichen Mundart-Kolumne »Alla dann« ab 2011 im »Oeffentlichen Anzeiger« erschienen, der Lokalausgabe der Koblenzer Rhein-Zeitung im Kreis Bad Kreuznach. Die längeren Texte stammen aus meinem Programm »Heilender Humor«, mit dem ich viele Jahre lang in Rehakliniken aufgetreten bin. Allen Erzählungen gemeinsam sind Humor und Hintersinn – und es sind Geschichten, die Mut machen.
Die Patientin einer onkologischen Rehaklinik schrieb mir: »In einer Lebenssituation des Trauerns und Grübelns, der Unruhe und Angst, erlebte ich Ihre Geschichten als Medizin. Ich war mittendrin und konnte meine eigenen Marotten wiedererkennen und darüber schmunzeln. Sie nehmen Vorurteile spielerisch auf die Schippe, ohne zu verurteilen! Ihre Geschichten sind ein wunderbares Geschenk«.
Für mich waren die Auftritte in den Kliniken ebenso kostbar, weil die Begegnungen zwischen Publikum und mir einmalig waren. Was ich in dieser einen Stunde an Geschichten erzählte, an Musik spielte, das allein zählte. Es gab kein Vorher, und es würde kein Nachher geben.
Als ein Patient nach meinem Auftritt zu mir sagte: »Für eine Stunde habe ich alle Sorgen vergessen«, fiel mir ein Satz aus dem Talmud ein: »Wer eine Seele rettet, rettet die Welt«. Ist das zu hoch gegriffen? Können Geschichten einen Menschen und damit die Welt retten? Auf jeden Fall können Geschichten Menschen anrühren und sie froh machen, können zur Medizin für sie werden. Solange die Hoffnung mich trägt, dass das mit den Texten in diesem Buch der Fall ist, werde ich weiter Geschichten erzählen.
Der Herr der Züge
Mit acht Jahren war ich der Herr der Züge, im selben Laden, in dem ich heute meinen Lahmacun esse, in der Döneria »Bella Türkiye« von Nurettin Durmus. Damals gehörte der Laden zum Geschäft meiner drei Tanten Rosa, Maria und Anna, von meiner Cousine, meiner Schwester und mir »Tante Röschen«, »Tante Mariechen« und »Tante Änni« gerufen. Die Sobernheimer hatten ihnen den Sammelnamen »die Engbarths Mäd« verpasst. So hießen sie von Jugend an, und so nannte man sie auch noch, als sie schon um die sechzig waren, in der Zeit, in der diese Geschichte spielt, in den späten fünfziger Jahren.
Außer den Engbarths-Mäd war da noch Tante Annchen, keine leibliche Tante, sondern eine Art Hilfs-Sheriff von Tante Röschen, die der Boss von allen war. Tante Annchen ging durch die Räume und zischte uns Kinder an: »Pscht, nix anfasse!« Sie konnte noch meterweit entfernt sein, schon traf uns ihr scharfes »Pscht« wie ein Peitschenhieb.
Meine Tanten hatten das Geschäft ihres Vaters Julius übernommen, das »Kaufhaus zu den tausend Dingen«. Dort gab es Bücher und Zeitschriften, Schreibwaren, Lederwaren und ... Spielzeug. Die Spielsachen waren gelagert in dem Raum, in dem sich heute das Dönerfleisch am Spieß dreht.
Damals bedeckten Regale drei der vier Wände, Regale, die bis hoch unter die Stuckdecke des Raumes reichten, Regale, mit nichts anderem als Spielsachen – für Kinder das pure Paradies. Das Schaufenster nahm die vierte Raumseite ein. Normalerweise ging eine der Tanten in diesen Raum, wenn Kunden Spielzeug kaufen wollten.
Dann war da noch das Kontor, von dem mir zweierlei in Erinnerung geblieben ist: Zum einen: Herr Knur, der Steuerberater: steinalt und ewig Zigarren qualmend, ein alter Fuchs, früherer Finanzbeamter. Ich sehe den Arbeitstisch mit der grünen Linoleumplatte noch vor mir, auf dem in einem großen Porzellanaschenbecher Herrn Knurs Zigarre lag und sich selbst rauchte, während Herr Knur an einer Thales Handkurbel-Rechenmaschine die kompliziertesten Berechnungen ausführte. Vorwärts und rückwärts ratterte die Kurbel; der Wagen flog schnarrend nach links und nach rechts, und ab und zu ertönte ein Glöckchen. Ich fand das ebenso spannend wie die Rituale eines indianischen Medizinmannes, der um das Lagerfeuer tanzt, geheimnisvolle Kräuter hineinwirft, deren Wirkung nur er kennt, um die Götter der Jagd zu beschwören. In meiner Vorstellung ist Herr Knur in diesem Kontor mit einer Zigarre im Mund geboren worden, und vermutlich hat man ihn auch so beerdigt: mit Zigarre und grüner Thales-Handkurbel-Rechenmaschine als Grabbeigaben.
Etwas zweites im Kontor hat mich sehr beschäftigt: Über der Tür hing ein großer Porzellanteller, auf dem stand: »Mitglied im Deutschen Bösen-Verein«. – Meine Tanten! Meine frommen, katholischen Tanten! Jeden Sonntag in die Messe und zur Kommunion gehen und beichten wie die Weltmeister, aber Mitglied im Bösen-Verein! Ich konnte mir das genau vorstellen: Von meinen Micky-Maus-Heften her kannte ich Ede Wolf, den Großen Bösen Wolf. War doch klar, dass der hier mitmischte, vermutlich war er der Chef. Und meine Tanten, die tagsüber so fromm taten, jagten nachts heimlich die drei kleinen Schweinchen. Bei Tante Mariechen konnte ich mir das zwar nicht vorstellen – sie war einfach zu gutmütig und zu dick – und ebenso wenig bei Tante Änni. Die verließ ihre Küche ja nie – außer zum Schlafen, wenn sie aufs Klo