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Der Sommer, in dem das Morden begann
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eBook577 Seiten9 Stunden

Der Sommer, in dem das Morden begann

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Über dieses E-Book

Kriminal- und Spionageroman. Drei Tage vor Ausbruch des 1. Weltkrieges und einen Tag vor seiner Verlobung wird ein Leutnant in einer kleinen Stadt in Mecklenburg ermordet.Die Suche nach seinem Mörder und nach seiner Erfindung, die für das Kaiserreich kriegsentscheidend sein könnte, führt zwei Polizisten quer durch den Nordosten des Kaiserreichs. Vor diesem Hintergrund der Jagd nach dem Attentäter werden die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Folgen, die der Kriegsausbruch für die Menschen in Deutschland hat, deutlich sichtbar. Eine zwangsweise durch den Krieg herbeigeführte persönliche Veränderung, der sich weder die beiden Kriminalbeamten noch der Attentäter entziehen können.
SpracheDeutsch
HerausgeberEGNOR
Erscheinungsdatum25. Juli 2016
ISBN9783958494909
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    Buchvorschau

    Der Sommer, in dem das Morden begann - Christian Ronge

    V:

    DER SOMMER, IN DEM DAS MORDEN BEGANN

    von

    Christian Ronge

    Meinem 2009 verstorbenen Vater und allen toten Soldaten beider Weltkriege gewidmet.

    Politiker und Militär machen sich immer wieder wissentlich und willentlich zu Handlangern und Helfershelfern gieriger und verachtenswerter Wirtschaftsführer.

    Mein Buch ist ihren Opfern gewidmet –

    Millionen zu Tode gekommenen, vertriebenen oder geschändeten Zivilisten.

    „Wie hässlich ist die Welt, wie abstoßend, wie schmutzig.

    Während meines Militärjahres habe ich es mit Händen greifen können. Das Militär ist eine Quelle, aus der Fäulnis aufsteigt, um die Städte zu überschwemmen.

    Wer vermag sich aus dieser Flut von Schmutz zu retten, wenn Gott ihm nicht hilft?"

    (Papst Johannes XXIII,

    1915–1919 italienischer Soldat im 1. Weltkrieg,

    2014 heilig gesprochen)

    Anmerkungen des Herausgebers:

    Im Jahr 2008 verstarb in Südtirol in einem biblisch hohen Alter von 107 Jahren der letzte noch lebende Veteran des k.-u.-k. Feldheeres. Er hatte als einfacher Soldat im Ersten Weltkrieg für die Donau-Monarchie gegen Italien an der Piave gekämpft. Immer wieder zeigte sich Franz Künstler, so hieß dieser im heutigen Rumänien geborene Mann, erstaunt darüber, wie es möglich war, dass ausgerechnet er den Ersten Weltkrieg überlebt hatte und bei bester Gesundheit so alt werden durfte. Unendlich lange 1.563 Tage hatte der Erste Weltkrieg, dieses mörderische Gemetzel mitten im Herzen Europas, gedauert, bis dann endlich am 11.11.1918 in jenem berühmt gewordenen Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne der Waffenstillstand unterzeichnet und dem sinnlosen Abschlachten ein Ende gesetzt wurde.

    Seit dieser Zeit ist in Frankreich der 11. November ein nationaler Gedenktag für die mehr als 20 Millionen Toten dieses Krieges. Auf Anweisung des Staatspräsidenten Jacques Chirac wurde der älteste französische Veteran bei seinem Tod im Jahr 2005 mit einem Staatsbegräbnis geehrt.

    In Deutschland dagegen wird jeweils am 11. November die „fünfte Jahreszeit", d. h. der Beginn des Karnevals, eingeläutet. Ein kollektives Besäufnis nimmt an diesem Tag seinen Lauf.

    Welch eine ehrvergessene Respektlosigkeit gegenüber jenen Soldaten, die zu ihren Lebzeiten eine von Menschen gemachte Hölle durchlitten haben. Ihrer Qualen zu gedenken und dazu beizutragen, dass diese niemals vergessen werden, ist für uns Nachgeborene eine heilige Pflicht!

    Es wäre schön, wenn die Menschheit wenigstens aus ihren mörderischen Fehlern lernen würde. Aber weit gefehlt! Unsere aktuelle Bundesregierung hat die Bundeswehr, die dem Geist unseres Grundgesetzes nach eigentlich nur der Selbstverteidigung dienen sollte, zu einer Kriseninterventionsarmee umgebaut. Sie soll überall auf der Welt die Interessen der Reichen und Mächtigen wahren, nur damit diese noch ein wenig mehr Geld und Macht anhäufen können. Bemäntelt wird dies mit den Stichworten Schutz der Menschenrechte, Ausbreitung der Demokratie, Kampf gegen den Terror. Unser Bundespräsident spricht verharmlosend davon, dass Deutschland siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges mehr Verantwortung auf der Welt zu übernehmen habe.

    Alles nur Lüge! Wehret den Anfängen!

    Auch deswegen wurde diese Geschichte veröffentlicht! Dafür danken wir, Autor und Verlag, allen, die uns dabei mit ihrer ganzen Kraft unterstützt haben.

    Vorgeschichte

    Vielleicht kennen Sie ja dieses wunderbare Gefühl: Sie haben sich endlich diesen, Ihren Traum erfüllt.

    So war es auch bei uns, meiner Frau und mir.

    Wir hatten alle unsere Taschen „umgedreht", alle Sparguthaben und sonstigen Vermögenswerte versilbert und uns dieses Haus geleistet. Das Haus, unser Haus. Eine alte Jugendstil-Villa in einer mecklenburgischen Kleinstadt, verspielt mit Erkertürmchen und doch ganz klaren Linien. Und mit einer sehr guten Bausubstanz, was gar nicht zu erwarten gewesen war. Denn erst hatte die Sowjetarmee dieses Kleinod in den Klauen gehabt, dann die Kreisleitung der SED, dann die Verwaltung des Konsums.

    Dann und dann und dann ...

    Alle hatten sie nur ihre Interessen im Kopf gehabt, aber dieses Gebäude völlig vergessen. Wir, wir waren nun seine rechtmäßigen Herren, wir wollten es besser behandeln. Ihm den nötigen Respekt erweisen.

    Und so standen wir nun auf seinem Speicher. Zugemüllt hatten ihn die früheren Herren mit ihren aufgeblasenen Hinterlassenschaften.

    Den Lohnabrechnungen und Kassenbons des Konsums. Den Verpflichtungserklärungen und den Lobpreisungen derjenigen, die „Planerfüllungen" des im Bankrott versunkenen sozialistischen Staatsgebildes feierten. Der alten Telefonanlage, mit der die Staatspartei auch hier, im hintersten Winkel Mecklenburgs, zu jeder Tages- und Nachtzeit mit der Welt da draußen verbunden sein wollte.

    Den alten, kaum noch entzifferbaren Fetzen Papier in kyrillischer Schrift. Jenes verblasste, fast nicht mehr wahrnehmbare Zeugnis dafür, dass auch hier in dieser unbedeutenden Kleinstadt die Panzer der Sowjetarmee die Herrschaft des Kommunismus gesichert hatten.

    Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieses undurchdringlichen Mülls, den die Geschichte vergessen hatte, stellte sich in uns beiden diese Mentalität der Schatzsucher ein. So als sei sie in den Genen der Menschen unlösbar verankert und müsste nur wie ein Virus aktiviert werden.

    Also begannen wir zu stöbern, meine Frau in der einen Ecke, ich in der anderen. Wir vergaßen die Zeit und die Hitze dieses Sommernachmittags, die sich unter dem First anstaute.

    Erst als mich meine Blase drückte, wurde ich eindrücklich in die Realität zurückversetzt.

    Wo war meine Frau geblieben?

    Ich lugte an dem Stapel alter, vergilbter Zeitungen vorbei. Da saß sie auf den Knien hockend, eine geöffnete Kiste vor sich. Ein Manuskript in der Hand. Völlig in dieses vertieft. Da ich sie nicht stören wollte, ging ich nach unten, stellte eine Stange Wasser in den Schnee, wie man in Österreich sagt. Ha, ha, ha! Ein sehr stimmiges Bild bei mehr als dreißig Grad im Schatten! Und weil sich danach der Durst automatisch einstellt, ging ich zum Auto, öffnete die Kühlbox, trank fast in einem Zug die noch sehr kalte Dose mit Coca-Cola aus.

    Dann durchstreifte ich den verwilderten Garten, schätzte ab, wie viel Arbeit da auf mich zukommen würde und wie viel ich davon geschickt auf meine Frau abwälzen könnte, denn ich hasse Gartenarbeit. Also ließ ich mir schon einmal die geeigneten Argumente einfallen, um mich davor zu drücken. „Typisch Herbert!", würde meine Frau dazu sagen. Als ich alle Hinderungsgründe auf ihre Zweckmäßigkeit geprüft hatte, fiel mir auf, dass meine Frau noch immer auf dem Speicher hockte. Ich ging also zurück.

    Sie hatte nur ihre Sitzhaltung ein wenig verändert, lehnte jetzt mit dem Rücken gegen diese unscheinbare Kiste, die ich glatt übersehen hätte.

    Mein Gehen und Kommen hatte sie nicht bemerkt, so vertieft war sie beim Lesen.

    Die Überschrift las ich:

    „Der Sommer, als das Morden begann"

    von

    Luap Egnores

    „Blöder Titel und noch blöderer Autorenname", dachte ich und erkannte, dass dieses Stück Lesefutter mit einer uralten Schreibmaschine auf extrem dünnem Papier geschrieben worden war. Die stark verblassten Buchstaben tanzten unregelmäßig auf und ab.

    Aber etwas machte mich stutzig. Meine Frau ist jetzt nicht so die Leseratte. Sehr selten hatte sie bisher ein Buch in der Hand. Nun fand ich sie in jener erstarrten Haltung, die ich bisher nur ein einziges Mal erlebte: damals, als ich die Dummheit beging, vor den Osterfeiertagen Ken Follets „ Die Säulen der Erde" zu kaufen und das Buch aufgeschlagen liegen ließ, um im Fernsehen Boxen mit Henry Maske und Sven Ottke zu schauen.Ich büßte bitterlich. Statt des leckeren Ostermenüs gab es nur kalte Küche, selbst gemacht.Meine Frau war dieser Geschichte bis zur letzten Seite verfallen.

    Und nun: die gleiche Situation. Ich räusperte mich. Sie schrak zusammen. „Musst du unbedingt lesen!", hauchte sie. Das tat ich dann auch. Aber erst zwei Tage später. Während dieser Zeit waren wieder nur Selbstbeschäftigung und Selbstverpflegung angesagt.

    Aber, wie bereits erwähnt, das kannte ich ja schon. Denn meine Frau hat Recht. Den Liebhabern spannender Kriminalgeschichten sollte diese historische Erzählung nicht vorenthalten werden, trotz des komischen Titels und des noch seltsameren Autorennamens!

    I. Buch

    1. Kapitel: Der Schuss

    Sehr zufrieden ist er mit sich. Er, Hinnerk Frahm, Sohn einer Dienstmagd und eines unbekannten Mannes, hat es geschafft. Morgen, am 31. August 1914, wird er die vorläufig letzte Stufe seines beispiellosen gesellschaftlichen Aufstiegs erklimmen, wird Teilhaber an den Vereinigten Deutschen Flugzeugwerken (VDFW) werden. Und er wird sich mit der Tochter seines Geschäftspartners, des Fabrikanten Emanuel von Freesenstern, verloben. Elfriede ist der Name seiner Zukünftigen. Er mag diesen Namen nicht. Aber die Kleine ist apart. Für seinen Geschmack vielleicht ein wenig zu herablassend. Zu verwöhnt. Eben das einzige Kind. Körperbau und Wesen hat sie von ihrer Mutter geerbt. Diese, eine Geborene von Hohenfels, kultiviert dieses ätherisch Durchgeistigte in fast krankhafter Weise. Ständig ist sie zur Kur, um ihre ach so angegriffene Gesundheit wieder herzustellen. Frahm vermutet, dass es sich dabei um eine willkommene Ausrede handelt, um von ihrem Gatten, dem Fabrikanten, möglichst lange und möglichst weit entfernt zu sein. Denn von Freesenstern kann sich diese extravaganten Wünsche seiner Frau finanziell leisten, ist vielleicht sogar ganz froh, seine von Hohenfels nicht ständig um sich herum haben zu müssen.

    Frahm vermutet, dass seine angestrebte Ehe mit Elfriede eine ähnliche Entwicklung nehmen könnte. Aber das stört ihn nicht weiter, denn wichtig ist einzig und allein die Verbindung zu von Freesenstern. Ist sie durch die Ehe mit Elfriede gefestigt, wird sich das Weitere schon ergeben. Was könnte denn schief gehen? Käme er mit ihr nicht klar, hätte er immer noch die Damen in Berlin. Seien es die aus den Tingeltangel-Bars oder die vernachlässigten Ehefrauen der so genannten feinen Gesellschaft. Er muss nur diskret und vorsichtig sein!

    Sollten er und Elfriede Gefallen aneinander finden und sie seine dominante Art im Bett wider Erwarten goutieren, umso besser. Das würde ihm viel Geld sparen, sei es für die Kuren von Elfriede, seien es die Ausgaben für die Damen in Berlin. Er würde ihr seinen Samen einpflanzen. Und, wenn Gott wollte, würden daraus starke, erbgesunde Kinder erwachsen. Ganz nach seinem und von Freesensterns Geschmack.

    Wie gesagt, wichtig ist einzig und allein die Verbindung zu von Freesenstern. Diese wird das bisher Erreichte absichern, seinen weiteren Aufstieg bis ganz nach oben ermöglichen. Denn der Fabrikant ist der kommende Mann. Bis vor acht Jahren hat er sein Geld ausschließlich als Produzent von Dampfpflügen verdient. Einer von vielen. Dann ist er dem Flugwesen verfallen. Hat sofort die geschäftlichen Möglichkeiten des Flugzeugbaus erkannt. Hat sofort begriffen: Diese neue Erfindung der Deutschen von Flotow und Weißkopf sowie der amerikanischen Gebrüder Wright wird Verkehr, Transport und das Militärwesen völlig auf den Kopf stellen, revolutionieren. Die Art und Weise, einen Krieg zu führen, nachhaltig verändern. Es hatte drei Jahre gedauert, bis von Freesenstern das erste Flugzeug, seinen Doppeldecker A, in die Luft gebracht hatte. Es hatte ihn viel Geld gekostet. Trotz vieler finanzieller Rückschläge und mit gründlichen Vorarbeiten wurde mit dem Nachfolgemodell F ein einzigartiges Produkt hervorgebracht. So gut, dass sogar die Militärs in Berlin beeindruckt waren.

    Frahm erinnert sich an ihre erste Begegnung. Er war damals Fähnrich zur besonderen Verwendung gewesen. Sein Aufgabenbereich hatte darin bestanden herauszufinden, welche der vielen Bastler, Tüftler, Erfinder, aber eben auch Spinner, die Tag für Tag in den militärischen Dienststellen in Berlin persönlich oder mit Bittschriften vorstellig wurden, ein wirklich geeignetes Kriegsgerät anzubieten hatten. Denn Berlin bereitete sich seit Jahren auf den großen Schlag vor. Jenen Schlag, der den Erzfeind Frankreich endgültig vernichten und den so verhassten Nachbarn jenseits des Rheins zu einem willfährigen Vasallen Deutschlands machen sollte. Seit dem letzten Balkankrieg 1913/14 ist klar, dass eine militärische Auseinandersetzung mit den Franzosen unabänderlich, unausweichlich sein wird. Je früher es dazu kommt, desto besser. Diesmal wird es absolut kein Pardon mehr geben. Dafür wird der Kaiser schon sorgen. Und das ganze deutsche Volk wird dabei hinter ihm stehen. Selbst die unzuverlässigen Sozis, diese Politkrakeeler, werden im Reichstag die für einen Krieg benötigten Gelder bewilligen. Sie werden einfach gar nicht anders können als zuzustimmen, denn sonst wird man sie einfach wie tollwütige Hunde erschlagen. Und er, Hinnerk Frahm, wird an diesem Krieg glänzend verdienen.

    Seine Gedanken schweifen ab. Seine Erinnerungen gehen zurück in das Jahr 1911, zurück zur ersten Vorführung des Doppeldeckers C auf dem Johannisthaler Flugfeld vor den Toren Berlins. Diese hätte beinahe in einem kompletten Desaster geendet. Zwar war das Fluggerät des Fabrikanten problemlos gestartet, hatte am Himmel einige elegante, sehr enge Kreise gezogen. Plötzlich jedoch hatte der Motor zu stottern begonnen und war dann zum Stillstand gekommen. Es war nur den außergewöhnlichen fliegerischen Fähigkeiten des Piloten zu verdanken gewesen, dass es nicht zur Katastrophe gekommen war. Diesem „alten Adler" war es gerade noch gelungen, die Maschine über die Holzbaracken hinwegzuziehen, um sie dann auf dem Gras entlangschlittern zu lassen. Die unebene Grasnarbe hatte der Maschine zwar das Fahrwerk weggeschlagen, ansonsten aber hatte es zum Glück weder Personen- noch weitere Sachschäden gegeben. Ein Totalschaden der teuren Maschine und damit auch ein finanzieller Totalverlust waren dank des fliegerischen Könnens des Piloten um Haaresbreite vermieden worden.

    Aber der Reputationsschaden ist enorm gewesen. Das arrogante Mienenspiel seiner Vorgesetzten war mehr als deutlich gewesen, hatte alles gesagt. „Was für eine Chuzpe dieser Mecklenburger Landpommeranze! Glaubt der doch wirklich, er könne Leute wie uns, erfahrene Militärs, hinter die Fichte führen. Uns Militärschrott andrehen! Uns nicht nur unsere kostbare Zeit stehlen, sondern sich auch noch einen wichtigen Armeeauftrag erschleichen! Wieder so einer der vielen Wichtigtuer und Betrüger!"

    Dann hatten sie sich, wie auf Kommando hin, abrupt umgedreht und von Freesenstern einfach grußlos stehen lassen. Mit hängendem Kopf war Frahm seinen Vorgesetzten gefolgt.

    Auch wenn er diese Vorführung nicht selbst arrangiert hatte, sondern nur für seinen Kameraden Fähnrich Tellow ersatzweise eingesprungen war, den der Tod des eigenen Vaters überraschend nach Hause gezwungen hatte, so war doch von nun an der Name Frahm mit diesem Malheur verknüpft. Und dies hatten ihn seine direkten Vorgesetzten in den darauffolgenden Tagen mehr als deutlich spüren lassen. Vielleicht war es diese nicht ausgesprochene Art der Herablassung, der Nichtbeachtung gewesen, die seinen Trotz und seinen Ehrgeiz angestachelt hatten. Er wollte nicht klein beigeben, wollte diesen Makel löschen, seinen Ruf wieder herstellen. Als Erstes hatte er sich noch einmal den Ablauf dieses Beinahe-Absturzes durch den Kopf gehen lassen. Hatte sich noch einmal gründlich alle Einzelheiten dieses Ereignisses vor Augen geführt.

    Etwas war bei diesem Doppeldecker C des Fabrikanten vollkommen anders gewesen als bei den anderen Fluggeräten, die er bisher gesehen, teilweise auch selbst geflogen hatte. Zunächst war es nur ein Gefühl, eine unbestimmte Ahnung gewesen, die ihn grübeln ließ. Dann hatte er es begriffen, wusste plötzlich um die Besonderheiten dieser Flugmaschine des Fabrikanten. Es war der Startvorgang gewesen. Viel kürzer war der gewesen als bei den anderen Flugzeugen. Geringerer Rollweg und damit auch viel weniger Zeit, um die Maschine in die Luft zu bringen. Und dort oben in der Luft war der Doppeldecker C deutlich wendiger als die Flugzeuge der Konkurrenten. Hatte viel engere Kreise als die anderen Maschinen fliegen können. Das war es! Das waren seine herausragenden, seine besonderen Eigenschaften! Im Kriegsfall würde es zum ersten Mal in der Militärgeschichte zu Luftkämpfen kommen. Wie in einem Duell würden Maschine gegen Maschine, Flugzeugführer gegen Flugzeugführer antreten. Diese beiden Eigenschaften, kürzere Startzeit und bessere Wendigkeit im Luftkampf, würden den überlebenswichtigen Erfolg herbeiführen. Würden Deutschland, seinem Vaterland, im Falle eines Krieges die Herrschaft über den Himmel sichern. Als Hinnerk Frahm das klar geworden war, hatte er genau gewusst was zu tun war. Zuerst suchte er von Freesenstern auf. Er hatte ihn gerade noch angetroffen. Der Fabrikant hatte bereits das „Hotel Adlon" verlassen. Die beiden letzten Gepäckstücke mussten nur noch in dessen Automobil, einen Horch, verladen werden. Es bedurfte keiner großen Überredungskunst, um den Kommerzienrat im Sinne Frahms zu überzeugen, trotz all dieser enttäuschenden Vorkommnisse auf dem Flugfeld. Auch wenn der Fabrikant unzweifelhaft mit seinem Einwand Recht gehabt hatte.

    „Auch wenn Sie ein Mann von großer militärischer Weitsicht sind, was können Sie jetzt noch ausrichten, noch retten? Sie sind ein kleiner Fähnrich ohne Portepee, also ohne große Befugnisse. Und das wird auch so bleiben. Bei Ihrer Herkunft können Sie sehr froh sein, dass Sie überhaupt eine solche Karriere innerhalb so kurzer Zeit gemacht haben! Ob und wann Sie später einmal zum Leutnant befördert werden, das steht völlig in den Sternen. Wenn Sie diesen Rang eines Leutnants jemals erreichen sollten, dann nur deswegen, weil Sie zu den wenigen Wagemutigen in diesem Land gehören, die sich da hinauf in den Himmel trauen, eine Fluglizenz haben. Was also wollen ausgerechnet Sie bewirken?"

    Aber er hatte bewirkt! Mit viel Glück und noch viel größerem diplomatischem Geschick hat er von Freesenstern eine weitere Chance verschafft. Und dieser hat sie genutzt. Und wie er sie genutzt hat! Das aktuelle Modell des Doppeldeckers G ist absolut perfekt. Mit der richtigen Maschinengewehrausstattung bestückt ist es ein Kriegsgerät mit absolut todbringender Wirkung, ist es als Jagdflugzeug ein wesentlicher Erfolgsgarant für den Schlieffen-Plan, der heftig in den Offizierszirkeln der Reichswehr diskutiert wird.

    Denn das ist jedem Mitglied der Obersten Heeresleitung vollkommen klar: Das Feldheer muss Frankreich binnen zehn Wochen niederwerfen. Sehr ambitioniert ist diese Zielvorgabe. Aber wenn das gelänge, wäre die tödliche Gefahr eines Zwei-Fronten-Krieges für Deutschland gebannt.

    Und morgen, anlässlich seines Eintritts in die Firma, wird er seinem zukünftigen Schwiegervater und Teilhaber das „Geschenk" machen. Morgen wird er ihm seine Idee, seinen Beitrag zum Gelingen des Schlieffen-Plans vorstellen. Morgen wird er den Startschuss geben und die Vereinigten Deutschen Flugzeugwerke, seine Fabrik, werden zur größten Flugzeugwerft in Deutschland aufsteigen. Werden die Konkurrenten weit hinter sich lassen, die Germania Flugzeugwerke, Court und Kühlstein, die Torpedo-Luftgesellschaft und wie sie alle heißen. Und selbst die AEG wird er mit seiner Erfindung ins Hintertreffen bringen können. Morgen wird er von Freesenstern seine Pläne zum Unterbrechergetriebe vorstellen. Diese Idee hat der Schweizer Franz Schneider bereits im Jahre 1913 als Reichspatente 278 und 396 angemeldet. Aber niemand hat sie seitdem beachtet. Auch er, Frahm, hat nichts von ihnen gewusst. Und das, obwohl er sich nun schon seit 1912 mit dem Problem befasst. Erst Hans Reimer von Krastel hat ihm den entscheidenden Tipp gegeben. Jener von Krastel, den er 1911 beim sächsischen Rundflug kennengelernt hatte, der ihm ein Freund geworden ist und den er, 1913 bereits, durch ein tödliches Unglück verloren hat.

    Frahm hängt noch immer seinen Erinnerungen nach. In sie versunken, bemerkt er zunächst nicht, dass sein Weg nun leicht bergan führt und er in die erfrischende Kühle des kleinen Kastanienwäldchens eingetreten ist. Neben ihm läuft seine Hündin Lisa. Ein wunderbar gelungener Steffordshere-Mischling, hochbeinig, mit kurzem, goldfarbenem Fell und leicht rot-bräunlichem Rückenhaar. Sie ist das einzige Lebewesen, von dem Hinnerk Frahm fest überzeugt ist, dass es ihn wirklich liebt. Von ihr lässt er sich, Leutnant, der er nun ist, einer der Ersten, die in Deutschland eine Fluglizenz erworben haben, gerne zum einfachen Stöckchenwerfer degradieren. Er liebt ihr Mienenspiel. Liebt es, wie sie ihre Stirn in Falten legt, wenn sie zu erahnen sucht, in welche Richtung er den Stock werfen wird. Aber heute beachtet er sie kaum. Zu viel geht ihm durch den Kopf. So entgeht ihm, dass die Hündin heute sehr unruhig ist, ständig vor- und zurückläuft, an vielen Stellen das undurchdringliche Dickicht der Brombeeren beschnuppert. Zwei Mal schon hat sie heftig gebellt, was so gar nicht ihre Art ist. Er empfindet es als sehr angenehm, dass sie nur im Traum leicht wufft, wenn sie die Erlebnisse des Tages verarbeitet. Das unterscheidet sie von diesen Kleinstadtkläffern, die sich ständig, vor allem nachts, wegen jeder Nichtigkeit mit ihrem Nerv tötendem Gebell hervortun.

    Gemeinsam biegen Frahm und die Hündin nach rechts in den Feldweg ab, der sie in die Stadt zurückführen wird, verlassen die wohltuende Kühle des Wäldchens. Sofort schlägt ihnen die Hitze des Sommers wie eine Keule entgegen. Seit Wochen schon ist es ungewöhnlich heiß in diesem nördlichen Teil des Kaiserreichs. Frahm nimmt wegen des gleißenden Lichtes die Hand vor die Stirn, um seine Augen zu verschatten. Nun kann er die Schnitter auf den Feldern erkennen. Die Frauen mit ihren bunten Kopftüchern binden die Garben, während die Männer mit ihren Sensen in einem regelmäßigen Takt die Halme der Ähren kappen. Eine elende Schinderei in dieser Hitze. Frahm ist froh, diesem ihm eigentlich vorbestimmten Schicksal entronnen zu sein. Wie viel Glück er doch bisher in seinem Leben gehabt hat!

    Dann ein Knall, den er noch als Schuss erkennt.

    Der heftige Schlag der Kugel mäht ihn zu Boden. Den Aufprall spürt er schon nicht mehr. Zu zielsicher ist der Schütze gewesen.

    Die Hündin erschrickt. Wirft sich herum. Sieht ihren Herren fallen. Begreift nicht. Glaubt an ein tolles Spiel, das er sich für sie ausgedacht hat. Er stellt sich bestimmt nur tot. Sie stupst den leblosen Körper an. Wieder und wieder, bis sie versteht, dass das kein Spiel ist. Leckt Frahms Gesicht. Versucht, ihn gleichsam ins Leben zurückzulecken. Doch vergeblich. Ihr Herrchen bewegt sich nicht mehr.

    Und dann beginnt sie zu jaulen, durchdringend und laut, um ihren Schmerz kundzutun, um irgendwie auf diese ihr nicht begreifbare Ungeheuerlichkeit zu reagieren. Das herzzerreißende Jaulen der Hündin hört nicht mehr auf. Es verschmilzt mit dem Wehklagen der Mütter, Ehefrauen, Geliebten, Schwestern, deren Söhne, Männer und Brüder auf den Schlachtfeldern von Granaten zerrissen werden. Vor Verdun und an der Somme, in Galizien, am Isonzo. Die als Matrosen, von torpedierten Schiffen mit in den Tod gerissen, ein kaltes Atlantikgrab finden. Die als Kriegsgefangene in den Lagern jenseits des Urals verhungern oder erfrieren. Als Landser im Giftgas vor Ypern qualvoll ihr Leben ausröcheln.

    In jenem ersten großen Morden des 20. Jahrhunderts, das man den Ersten Weltkrieg nennt. Jenem Krieg, der uns Nachgeborene in Erstaunen darüber versetzt, wie leicht es gewesen ist, die Völker Europas aufeinanderzuhetzen. Jenem Krieg, von dem jedes Land geglaubt hat, es würde ihn siegreich als Gewinner bestehen, und der doch jedes Einzelne davon als Verlierer zurückließ. Jenem Krieg, der uns Kinder und Kindeskinder noch immer zur Begleichung jener wahnwitzigen Schuld zwingt, die unsere Vorfahren in Hochmut und Selbstüberschätzung auf sich geladen haben.

    I. Buch

    2. Kapitel: Der Wachtmeister

    Lautes, röchelndes Schnarchen, immer wieder unterbrochen von sekundenlangen Atemaussetzern, hallt durch den Raum, wird von dessen Wänden krachend zurückgeworfen, überlagert sich mit den nachfolgenden zu einer großen Lärmwelle, die auch die stabile Zimmertür durchdringt und noch bis weit auf den Flur des Fachwerkgebäudes hinaus zu hören ist. Der Raum selbst ist nur äußerst spärlich möbliert. Ein mit einer verschließbaren Rollladentür versehener hölzerner Schrank steht in der rechten hinteren Ecke. Diesem gegenüber, genau auf der anderen Seite, ein einfacher Garderobenständer, an dem eine einzelne, schon leicht ausgebeulte und etwas ausgewaschene Uniformjacke hängt. Dazu, direkt in der Mitte, ein wuchtiger Schreibtisch aus Eichenholz mit einer Vielzahl von Schubladen, sehr ordentlich aufgeräumt. Mit einer Schreibunterlage, einem sorgfältig verschlossenen Tintenfass und akkurat gespitzten und ausgerichteten Federkielen und Bleistiften in einer Vertiefung der Schreibtischplatte, aus deren Mitte zwei riesige Füße emporragen. Sie bilden das Ende sehr langer Unterschenkel, die, auf der Schreibtischplatte ruhend, in groben, rotbraunen Wollsocken stecken. Zusammen ergeben sie einen Teil der unteren Extremitäten des Wachtmeisters Rambow. Der Ordnungshüter ist ein hünenhafter Kerl, mehr als zwei Meter groß, breitschultrig, sehr muskulös mit riesengroßen Händen und Füßen. Sein Schädel ist fast vollständig kahl und nur noch an ganz wenigen Stellen mit einem leichten Haarflaum bedeckt, wodurch sein furchteinflößendes Aussehen noch verstärkt wird. Anlass zu allerhand Späßchen hinter seinem Rücken gibt die Tatsache, dass er aus dem kleinen Weiler Rambow im Mecklenburgischen stammt.

    „Achtung, Wachtmeister Rambow aus Rambow, tuscheln die Menschen der Kleinstadt hinter seinem Rücken. Allerdings nur dann, wenn sich der Wachtmeister in sicherer Entfernung zu den Lästernden aufhält. Niemand in der Kleinstadt benutzt als Anrede für Rambow die offizielle Dienstbezeichnung Polizeisergeant, jenen Zungenbrecher, der sich als Relikt der napoleonischen Zeit in das zwanzigste Jahrhundert hineingerettet hat. Zu tuscheln empfiehlt sich, denn der Wachtmeister ist keinesfalls ein gutmütiger Riese, sondern neigt zum Jähzorn. Mit jetzt mehr als dreißig Jahren sind seine berüchtigten Zornesausbrüche seltener geworden. Sind einer gewissen heiteren Ruhe gewichen. Was wohl auch daran liegt, dass er sich in seiner Kleinstadt sehr wohl fühlt, endlich angekommen ist. Für immer! Hier so ganz anders lebt als in diesem hektischen, aufgeblasenen, überbordenden, quirlig überdrehten Berlin. In Berlin hatte er zwölf Jahre seines Lebens verbracht, war wegen seiner Körpergröße dem Leibgarderegiment des Kaisers zugeteilt gewesen. Groß und sehr kräftig wie alle seine Kameraden. Denn das sind ja gerade die Eintrittsvoraussetzungen für das Leibgarderegiment. Aber Rambow hatte sie alle mit seinen körperlichen Eigenschaften noch weit übertroffen, einigen sogar Angst gemacht. Deshalb verpassten sie ihm den Spitznamen „Rambolinchen. So als wollten sie ihn wenigstens durch die Verniedlichung seines Nachnamens auf ein normales, ein menschliches Maß herabstufen. Nach zwölf Jahren im Dienst für seinen Kaiser hatte er davon genug gehabt. Er war als „Zwölfender" im Rang eines Wachtmeisters aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. Dass er diese Art Karriere gemacht hatte, verdankt er seiner geistigen Wendigkeit, seiner ererbten Bauernschläue. Deshalb war es für ihn auch so leicht gewesen, die notwendigen Prüfungen zum Polizeisergeanten zu bestehen und die Anstellung in der Kleinstadt zu bekommen, die er nun seit mehr als einem Jahr innehat. Hier in der Kleinstadt ist Rambow jemand. Gehört zu den so genannten Honoratioren. Wie der katholische Kaplan und der evangelische Pastor, die mit strenger, aber, wie sie selbst meinen, gerechter und liebender Hand als Hirten und Stellvertreter des Herrn über das Seelenheil der ihnen anvertrauten Gemeinschaften, ihrer Schäfchen, wachen. Wobei die Herde des noch sehr jungen Kaplans nur während der Erntezeit jene erwähnenswerte Kopfzahl erreicht, die diesem Wort noch angemessen ist. In der übrigen Zeit des Kirchenjahres versuchen er und seine kleine Gemeinschaft das Beste aus dem zu machen, was nach den Reformationskriegen das Leben in der Diaspora noch zulässt und ermöglicht. Ihnen stehen im Sinne des Wortes sehr tatkräftig die Lehrer des kleinen Städtchens zur Seite, wenn es gilt, dafür zu Sorge zu tragen, dass Tugend und Sittsamkeit der Stadtjugend keinen Schaden erleiden.

    Einige dieser Lehrkräfte sind noch sehr jung. Eben erst aus den Lehrerbildungsanstalten entlassen, sind sie sicher und ausdauernd im Gebrauch des Rohrstocks, eines ihnen sehr schnell vertraut gewordenen Rituals. Andere, menschlichere Erziehungsmöglichkeiten dagegen scheinen ihnen so fremd zu sein, als hätten sie niemals davon gehört. Zucht, Disziplin, Ordnung, feste Regeln, hierarchisches Denken und eine gewisse Unterwürfigkeit gegenüber Höhergestellten sind die Eckpfeiler ihres Denkens, klammern ihr Weltbild zusammen. Alle haben sie in den Lehrerseminaren eine musikalische Ausbildung erhalten. Und so spielen sie denn in den Gottesdiensten die Orgel und dirigieren in den Gemeinden die Kirchenchöre, die hauptsächlich aus Frauen und Kindern bestehen. Gemeinsam haben die Kirchenmänner und Lehrer ein engmaschiges Netz der moralischen und sozialen Kontrolle über die Einwohner der Ackerbürgerstadt geworfen. Ihrer lückenlosen Überwachung entgeht niemand, denn die Zuträger und Spitzel sind absolut zuverlässig. Auch, wenn Rambow Denunzianten nicht leiden kann, so erleichtern sie ihm doch seine Arbeit als Polizist. Viel hat Rambow aber nicht zu tun. Streitigkeiten, die im Suff auch schon einmal in einer Körperverletzung enden. Gewollte oder ungewollte Missachtungen des privaten Eigentums in Form von Diebstählen oder Sachbeschädigungen. Wie schon beschrieben – einzelne mehr oder weniger große Dummheiten, die einen ärgerlichen Missklang in das Zusammenleben der Bürger bringen und sein Eingreifen als Hüter von Recht und Ordnung notwendig machen, um diese Verfehlungen anschließend einer strafrechtlichen Würdigung durch ein Gericht in der weiter entfernten Residenzstadt zuzuführen.

    Es lebt sich also in der Ackerbürgerstadt deutlich ruhiger und gemütlicher als in dem Großstadtgetümmel Berlins. So ist das Verschwinden einer Planke aus Eichenholz schon ein besonderes Vorkommnis und somit Stadtgespräch. Diese ist vom Sägeplatz des Zimmermeisters Awolin in der Nacht von Ostersamstag auf Ostersonntag entwendet worden. Einige Tage später findet sich, nach einem Tipp der Spitzel, die besagte Planke, über und über mit Kuhdung bedeckt, am Gartentor des Torfaufsehers Koch wieder ein. Welchen Weg sie bis dorthin genommen hat, kann dank der Zuträger, die Pastor und Lehrer auf Rambows Bitten hin sofort aktiviert haben, ebenfalls geklärt werden. Drei Lehrlinge der örtlichen Gewerbeschule haben das mit vier Metern Länge, dreißig Zentimetern Breite und fünf Zentimetern Stärke nicht gerade leichte Beutegut nach dem Genuss etlicher Gläser Bier und Klarer in einem Bollerwagen quer durch die ganze Stadt gekarrt. Und während der wackere Zimmermann von nun an immer wieder und sehr lautstark Beschwerde über die nicht einzudämmende Lasterhaftigkeit und Liederlichkeit der Jugend führen wird und sich damit, ohne es zu wissen, in die unendlich große Zahl derjenigen einreiht, die dieses seit Platon beklagen, entpuppt sich der vermeintliche Diebstahl als eine Spitzbüberei. Die zwanzig Goldmark Belohnung, die der brave Awolin zwecks Ergreifung der vermeintlichen Diebe und der Wiederbeschaffung des Beutegutes ausgelobt hat, vereinnahmen nicht die Tippgeber, sondern der Pastor behält sie zur Finanzierung karitativer Aufgaben in der Gemeinde gleich ein. Seine Begründung dafür ist wenig originell, aber nachvollziehbar: Es sei die völlig selbstverständliche Pflicht eines Jeden, dem armen Awolin bei der Ergreifung der Täter zu helfen. Dafür könne sich ein Christenmensch, also ein Mensch mit Anstand und Moral, nicht auch noch bezahlen lassen. Zumal dem Manne ein nicht unbeträchtlicher Schaden entstanden sei, weil die stinkende Planke fürderhin nicht mehr benutzbar sei. Dass die Lehrlinge in den nachfolgenden Monaten den angerichteten Schaden von ihrer kargen Vergütung in kleinsten Raten begleichen müssen, verschweigt der Moralapostel seiner Gemeinde.

    Auch Rambow entkommt, genauso wie alle anderen Einwohner des Städtchens auch, der Überwachung durch den örtlichen Spitzeldienst nicht. Und so sind seine üblichen Gewohnheiten und Verhaltensweisen bald allgemein bekannt. Was er wann, wie und wo, bei welchem Ereignis getan hat, bleibt nicht geheim. Vor allem nicht unkommentiert. In der Reichshauptstadt, die mit annähernd zwei Millionen Einwohnern zu den größten Städten in Europa gehört, ist die soziale Kontrolle sehr gering. Bei seiner Statur, dem Uniformrock dazu, ist es ihm in Berlin leichtgefallen, die notwendigen Frauenbekanntschaften zu machen, um seinen „kleinen Wilhelm in Form zu halten. Dass diese Bezeichnung seinen obersten Kriegsherren despektierlich herabsetzt, stört ihn seltsamerweise nicht. Wohl aber, dass sein „kleiner Wilhelm langsam aus der Übung gerät. Und deswegen überlegt Rambow ernsthaft, ob er nicht dem Beispiel Dr. Conradis folgen und seinem besten Stück ein regelmäßiges Training in der Hauptstadt verschaffen soll.

    Dr. Conradi gehört ebenfalls zum Kreis der Honoratioren, denn er ist Arzt und zugleich Apotheker. Dr. Conradi ist eine der wenigen Personen in der Kleinstadt, die einen Doktortitel haben. Und einer der wenigen in der Stadt, die es sich leisten können, einmal im Jahr für ein paar Tage in die Hauptstadt zu reisen. Dieser Umstand und seine etwas weibisch angehauchten Handbewegungen haben früher für allerlei Gerüchte gesorgt. Weil die örtliche Gerüchteküche aber keine handfesten Beweise auf den Tisch legen konnte, ebbten Klatsch und Tratsch mit den Jahren ab. Dr. Conradi ist ein guter Arzt und so hat man sich damit arrangiert, dass dieser etwas sonderliche Doktor und Junggeselle seine Erfüllung darin findet, die heimische Flora und Fauna zu erforschen und darüber in Fachzeitschriften gelehrte Abhandlungen zu veröffentlichen. Hat sich damit abgefunden, dass dieser lukrative Junggeselle dem örtlichen Heiratsmarkt nicht verfügbar gemacht werden kann, weil ihn Frauen wohl nicht interessieren, abgesehen von seiner über siebzig Jahre alten Mutter, die ihm noch immer den Haushalt führt und ihn versorgt.

    Ein weiterer Promovierter ist Dr. Meinhardt. Er bekleidet das Amt des Bürgermeisters. Seine steile Karriere im Verwaltungsapparat der mecklenburgischen Staatsregierung hat eines Tages ihr abruptes Ende gefunden. Den Grund dafür kennt niemand in der Stadt. Er ist einfach eines Tages dorthin versetzt worden. Auch hierfür konnte die Gerüchteküche kein stimmiges Süppchen aus Vermutungen und Halbwahrheiten kreieren. Dass es eine Art Strafversetzung gewesen ist, liegt nahe. Denn der Doktor der Jurisprudenz spricht immer nur abfällig von seinem Klein-Slawien, wenn er die Stadt meint.

    Gemeinsam bilden sie alle den Kreis der Bestimmer. Sie dirigieren, inszenieren und manipulieren das Leben der ihnen Anvertrauten. Über ihnen stehen gesellschaftlich nur noch zwei Personen: von Freesenstern, der als Fabrikant der weitaus größte Arbeitgeber in der Umgebung ist und zudem noch über exzellente Kontakte zum Militär verfügt, und der Ritter Trendelenburg, der als der größte Grundbesitzer weit und breit über ein Heer von Knechten und Mägden gebietet, die mit ihrer Hände Arbeit jenes Geld erwirtschaften, das ihr Gutsherr mit vollen Händen in Berlin wieder ausgibt. Und mal eben so nach Berlin zu fahren, um sich vor seinen Pflichten als Gutsherr zu drücken, fällt dem Ritter leicht, verfügt doch die Kleinstadt über einen direkten Eisenbahnanschluss in die Hauptstadt.

    Beide lassen den Bestimmern völlig freie Hand und mischen sich nicht ein. Ritter Trendelenburg, weil ihn seine ausschweifenden Vergnügungen zu sehr erschöpfen. Von Freesenstern, weil ihm der Aufbau seiner neuen Fabrik dazu keine Zeit mehr lässt. Der Rat der Bestimmer trifft sich jeden Samstagabend und Sonntag nach dem Kirchgang im „Hechtkrug", einem Lokal mit einer anheimelnden Ausstattung und schmackhaftem, herzhaftem Essen, eben deftige Hausmannskost, mecklenburgische Art. Die Preise für Speisen und Getränke sind erschwinglich, aber doch so hoch, dass Arbeiter, Gesinde, Knechte, Mägde und die übrigen Armen der Stadt gar nicht erst in die Versuchung kommen, das Lokal zu betreten. Sie vergnügen sich in den Kneipen der Unterstadt, wo sie sich sinnlos betrinken, Raufereien anzetteln, lärmend durch die Straßen ziehen und Kinder zeugen, die sie nur unzureichend ernähren können. Seit einigen Jahren gewinnen, und das ist für die Bestimmer besonders ärgerlich, die Agitatoren der Sozialdemokraten einen immer größeren Einfluss auf diese Leute. Diese Aufrührer wollen das preußische Dreiklassenwahlrecht und den Kaiser gleich mit abschaffen, um aus Deutschland eine Republik zu machen. Kurzum, nach Meinung der Bestimmer macht sie, die Unterschicht, mehr Arbeit als nötig.

    Im „Hechtkrug" dagegen ist man absolut kaisertreu und absolut solidarisch mit dem noch in der Residenzstadt Hof haltenden Fürstenhaus. Zwei der Bestimmer, Rambow und Dr. Meinhardt, machen dies auch nach außen hin sichtbar. Ihre Bärte sind dem des Kaisers nachempfunden, werden jeden Tag intensiv gepflegt und aufwendig in Facon gebracht, nächtens mit einer Bartbinde geschützt. Der ortsansässige Drogist liefert die dazu notwendige Pomade zum Freundschaftspreis. Nicht bei allen Bestimmern ist dieses Symbol der Treue zur Monarchie zu sehen. Bei vielen Volksschullehrern reicht die Intensität des Haarwuchses einfach noch nicht zu einem Bart nach Kaiserart. Dem Pastor zerstört das ständige Aus- und Ankleiden mit dem Luthergewand und dem Beffchen jedwede Hoffnung auf ein vorzeigbares Resultat seiner Loyalität zum Herrscherhaus. Dr. Conradi ist die ganze Prozedur viel zu zeitaufwendig, hält sie ihn doch nur in überflüssiger Weise von seinen naturwissenschaftlichen Studien ab.

    Nach jeder der üppigen Mahlzeiten genehmigt sich der Kreis der Auserwählten einen Kümmel. Zu besonderen Anlässen, wie dem Geburtstag des Kaisers, der mecklenburgischen Herzöge und ihrer adligen Anverwandten auch mal einen französischen Cognac. Dass dieser im Land des Erzfeindes erzeugt wird, das tut der Kaisertreue keinen Abbruch. Wichtig sind einzig und allein die verdauungsfördernde Wirkung des Alkohols und der wunderbare Geschmack des Hennessy, der mit den gereichten Zigarren zu einem einzigartigen Genuss verschmilzt. Wie gut, dass es reichlich Anlässe dafür gibt. Der Alkohol löst außerdem die Zungen. Es wird deshalb viel und ausgiebig politisiert. Bis auf Wachtmeister Rambow, der als ehemaliger Berufssoldat interessanterweise mit seinen Ansichten diesbezüglich sehr zurückhaltend ist, sind alle anderen der gleichen Auffassung.

    Nun gelte es! Den Serben und den mit ihnen verbündeten Russen müsse man es endlich zeigen. Der Mord in Sarajevo hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Kaiser Franz Josef von Österreich habe ein Anrecht auf volle Genugtuung. Wenn Frankreich den Russen Beistand gewähre, bitte schön! Auch einen Zwei-Fronten-Krieg gegen beide zusammen könne das Kaiserreich leicht gewinnen. Mit Österreich-Ungarn und den Italienern zusammen sei auch das kein Problem, wenn auch die Italiener unsichere „Kantonisten" seien. Wie schwach das russische Militär sei, habe der Krieg 1904/05 gegen Japan bewiesen. So oder so ähnlich äußert man sich seit vier Wochen an den Stammtischen in ganz Deutschland seit dem Mord am österreichischen Thronfolger im Juni 1914. Rambow behagen solche Gespräche ganz und gar nicht. Sie erinnern ihn an die Zeit der Balkankonflikte. Und die sind erst einige Monate her. Die letzten Kriegshandlungen dort sind erst Anfang 1914 eingestellt worden. Aber noch immer kocht und rumort es dort unten. Dieser Unruheherd ist einfach nicht kontrollierbar. Dieses Gemisch unterschiedlicher Völker, Religionen, Kulturen und Lebensweisen macht Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich politisch und wirtschaftlich schwer zu schaffen. Zum Glück ist Deutschland bisher nicht in diese politischen Raufhändel verwickelt worden. Auch, wenn die deutsche Presse alles daran gesetzt hat, einen solchen Krieg regelrecht herbeizuschreiben, sind der Kaiser und die Reichsregierung unter von Bülow vernünftig geblieben, haben sich militärisch nicht eingemischt und so den Frieden für Deutschland erhalten. Rambow erinnert sich an sein letztes Manöver im Herbst 1912. Damals hatte er zum ersten Mal die Wirkung der neuen Maschinengewehre erlebt und eine Ahnung davon bekommen, welche Vernichtungskraft von ihnen ausgeht. Von diesen Dingen haben die anderen, deren Dienstzeit teilweise schon mehr als 20 Jahre zurückliegt, keine Ahnung. Sie haben auch keine Kenntnis von dem seit 1906 geltenden Exerziereglement, welches vom einfachen Soldaten das Vorwärtsstürmen um jeden Preis verlangt und vor dem Anlegen einer Deckung während des Angriffes warnt, weil dieses zu einer Lähmung des offensiven Geistes führe! Die größte Kriegsbegeisterung zeigen ausgerechnet diejenigen, die wegen irgendwelcher vorgetäuschter Wehwehchen gar nicht erst gezogen worden sind oder den größten Teil ihrer dreijährigen Wehrpflicht in den Schreibstuben der Armee verbringen durften. Auch die ersten Flugapparate hat Rambow im Manöver noch erlebt. Sie wurden dabei als Aufklärer eingesetzt. Da Franzosen und Russen ebenfalls über solche Kriegswerkzeuge verfügen, wird nichts mehr geheim bleiben. Der Feind wird Ideen und Absichten der deutschen und österreichischen Heeresleitung sofort erkennen können. Der nächste Krieg wird eine mörderische, seine Soldaten gierig verschlingende und vernichtende Angelegenheit werden und ihn wird es im Schützengraben wegen seiner Körpergröße als einen der Ersten erwischen. Also hofft er auf die Einsichtsfähigkeit und Weisheit von Kaiser und Reichsregierung und dass die Kriegsgefahr, wie schon so oft vorher, vorübergehen möge.

    Ein inniger Wunsch, den er aber nicht laut kundtut. Einstweilen genießt er so gut wie möglich die heißen Sommertage und lässt sich seine Besorgnis nicht anmerken. Vor der sengenden Hitze hat er sich in die Kühle seines Dienstzimmers zurückgezogen, um sein übliches Mittagsschläfchen zu halten. Aber heute soll ihm diese verdiente Ruhepause nicht vergönnt sein. Der gleichmäßige Rhythmus der Schnarchgeräusche setzt immer wieder aus, wird ständig von einem gurgelnden, gluckernden Röcheln unterbrochen, dem eine unbewusste, ungezielte Wischbewegung des linken Armes folgt. Ursache dafür ist ein Insekt, eine Fliege, die ihren Schabernack mit ihm treibt. Zuerst hat sie sich das Symbol seiner Treue zum Kaiser ausgesucht, jenen perfekt mit der Drogistenpomade in Form gezwirbelten Bart Rambows, den sie als Landeplatz missbraucht, auf dem sie entlang flaniert, als sei er ihr Bürgersteig. Immer dann, wenn der Schnarcher zu jener vom Unterbewusstsein gesteuerten Wischbewegung ansetzt, ist das lästige Flügeltier bereits wieder in der Luft, in Sicherheit, gleichsam als könne es die Bewegung der Hand des Schläfers vorausahnen. Dann zieht es einige, von störendem Summen begleitete Kreise über dem Kopf des Wachtmeisters, um sich schließlich, in sicherer Entfernung in der anderen Ecke des Raumes auf dem Uniformkragen des Wachtmeisters niederzulassen und sich ausgiebig zu putzen. Sobald diese Notwendigkeit erledigt ist, startet es erneut. Missbraucht nacheinander Kopf, Handrücken, Nacken und die bestrumpften Beine des Riesen als Start- und Landeplatz, wo sie entlang spazierend jenen Juckreiz auslöst, der die Erholsamkeit des Schläfchens dauerhaft zerstört. Schimpfend und verärgert kämpft sich Rambow mit einem mehrfach laut gefluchten „Schiet, Schiet, verdammter Hundschiet" aus dem Unterbewusstsein in die Wirklichkeit zurück.

    Noch nicht ganz wach sucht er nach der Fliegenpatsche, findet sie jedoch nicht gleich. Greift sich seine Dienstkladde, um dem flinken Flügler den Garaus zu machen. Mehrere erfolglose Versuche, dem Plagegeist zu Leibe zu rücken, verschlechtern seine Laune noch mehr. Als dann auch noch ein zweimaliges, zaghaftes Klopfen seine Jagd unterbricht, schnauzt er aufgebracht in Richtung Eingangstür: „Jaa, ganz vergessend, dass er nur unvollständig bekleidet mitten im Raum steht. Die Tür des Raumes wird aufgestoßen. Ein sommersprossiger Zwölfjähriger reißt sich seine speckige Kopfbedeckung herunter, ein feuerroter Haarschopf wird sichtbar. Große Schweißperlen glänzen im erhitzten Gesicht des Kindes. Noch leicht verschlafen ist sich Rambow zunächst gar nicht bewusst welches Erscheinungsbild er da gerade vor dem Jungen abgibt. Halb angezogen, auf Strümpfen, mit der Kladde in der Hand auf Fliegenjagd. Erst dessen spöttisches Grinsen macht ihn auf die Lächerlichkeit seiner Situation aufmerksam. Ausgerechnet Jens Klentjes, der Sohn dieses Sozi-Aufwieglers, steht da in der Tür. Instinktiv sucht Rambow durch einen besonders barschen Tonfall von dieser Peinlichkeit abzulenken, seine Autorität wieder herzustellen: „Heff ik inträden sechtt? Nee heff ik nich!, antwortet er sich selbst. „Mak dei Dör tau, ick raup di, wenn du kamen sast", schnauzt er.

    Dieser Auftritt zeigt Wirkung. Eingeschüchtert schließt Jens schleunigst die Tür. Rambow lässt ihn warten. Lange, sehr lange sogar. Denn, das ist ihm klar: Er muss jetzt nicht nur ein tadelloses Erscheinungsbild als Gendarm in Uniform abgeben, sondern er muss auch zeigen, wer hier in dieser Stadt die Autorität ist. In der Unterstadt wird sich sein missglückter Auftritt wie ein Lauffeuer herumsprechen und Anlass zu allerhand Spott und Tratsch sein. Aber auch von den

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