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Alle spinnen. Ich stricke.: Geschichten
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eBook180 Seiten2 Stunden

Alle spinnen. Ich stricke.: Geschichten

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Über dieses E-Book

Kleine Alltagsgeschichten ganz groß! Neues von einem der Mitbegründer der deutschen Lesebühnenszene: Mit satirischem Blick und feinem Gespür ür die Kuriositäten des Augenblicks strickt "Frühschoppen"-Urgestein Andreas Scheffler aus den Spinnereien seiner Mitmenschen oder eigenen Eseligkeiten wunderbar lakonische Geschichten.

Wenn wandernde Rentner, überfürsorgliche Mütter oder besoffene Fußballfans im Zugabteil ihr Unwesen treiben, einem der Kumpel eine junge, hübsche Freundin aufschwatzen will oder der Nikolaus auf dem Weihnachtsmarkt Amok läuft; wenn man auf der Toilette von Nora Roberts und in seinen Träumen von Thomas Mann behelligt wird, dann bleiben einem nur noch der Wahnsinn oder der Galgenhumor. Andreas Scheffler hat sich für den Humor entschieden, denn am Ende ist doch meistens derjenige der Dumme, der viel zu weit und zu oft um die Ecke gedacht hat.
SpracheDeutsch
HerausgeberSatyr Verlag
Erscheinungsdatum28. Aug. 2017
ISBN9783944035994
Alle spinnen. Ich stricke.: Geschichten

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    Buchvorschau

    Alle spinnen. Ich stricke. - Andreas Scheffler

    Maurenbrecher

    I. IN VOLLEN ZÜGEN

    DIE ANSAGERIN UND DIE VORLESERIN

    Ich reise gern mit dem Zug. Im Gegensatz zum Auto kann man sich darin entspannen, ein gutes Buch lesen und dabei ein Getränk seiner Wahl zu sich nehmen. Vorausgesetzt, alle Mitreisenden denken so wie ich.

    Es ist Sonntagabend. In Gütersloh betrete ich den Intercity nach Berlin-Spandau. Der Großraumwagen ist überfüllt, aber glücklicherweise habe ich eine Platzreservierung. Ich muss auch gar nicht viel Theater machen, bis sich die Oma von meinem Sitz erhebt und mit ihrem Rollkoffer davonschlurft. Der Intercity ist wesentlich weniger geräumig als der ICE, aber ich habe nur kleines Gepäck und genügend Beinfreiheit, um es mir mit meiner Reiselektüre und einem Bier halbwegs gemütlich zu machen.

    In Bielefeld steigt ein junger Mann mit einem riesigen Rollkoffer und einer akustischen Gitarre zu. Er sucht verzweifelt nach einer Abstellfläche für seinen Hausrat, lagert das Zeug schließlich auf dem Gang und hockt sich mit seiner Klampfe zwischen den Beinen auf einen gerade frei gewordenen Sitz.

    »Ja«, tönt eine Frau, »das sage ich den Leuten von der Bahn auch immer wieder. Dass sie nie genügend Platz für Gepäck zur Verfügung stellen.« – Oha, denke ich, da ist jemand wichtig. Eine Frau in den Sechzigern, die ihre langen, grauen Haare offen trägt; die so viel Natürlichkeit aufbringt, ihre Haare nicht zu färben, aber gleichzeitig ihren faltigen Hals unter einem Seidenschal verbirgt.

    Ein Mann hat gerade den Wagen Richtung Toilette verlassen, da kommt von der anderen Seite ein Teenie und will sich auf seinen Platz setzen.

    »Hier ist besetzt!«, schallt es durch den Wagen »Der Herr ist vermutlich nur mal eben auf die Toilette gegangen.« – Das Weib kümmert sich um anderer Leute Kram. Wahrscheinlich befürwortet sie auch Auslandseinsätze der Bundeswehr. Weil sie wichtig ist und den Überblick hat. Es ist die Frau, die im überfüllten Supermarkt laut vernehmlich bemerkt, es wäre jetzt an der Zeit, noch eine Kasse aufzumachen; die nicht etwa brüllt: »Kasse bitte!« Dazu ist sie zu vornehm; die explizit ihre Meinung kundtut, für alle deutlich hörbar, und erwartet, dass sie zur Kenntnis genommen wird und man Konsequenzen daraus zieht. Einfach nur, weil sie wichtig ist. – Oh, wie ich diese snobistischen Schreckschrauben verabscheue!

    »Herr Schaffner«, wird kurz darauf der Zugbegleiter von ihr begrüßt, »ich gehe doch davon aus, dass ich meinen Anschlusszug in Spandau erreiche.«

    »Wir liegen genau in der Zeit«, erklärt er geduldig.

    »Ja. Noch«, tönt die Drachenlady. »Aber es kann ja noch viel passieren.«

    Ich schlucke meinen Ärger mit einem Bier herunter und realisiere gleichzeitig mit Schrecken, dass ich die Schrapnelle noch eine ganze Weile am Hals haben werde.

    Eine knappe halbe Stunde, in der ich mich in mein Buch vertiefe, herrscht Stille, bis eine Mutter beginnt, aus einem Kinderbuch vorzulesen. Sie flüstert nicht, sie liest laut, als wäre sie hier zu Hause. Alle Leute im Abteil können der Geschichte über ein Mädchen, das mit allen gut Freund sein will, zuhören. Aber wollen sie das? – Ich nicht!

    »Da sagte das kleine Mädchen zu dem Marienkäfer: ›Wenn du mir nichts tust, tue ich dir auch nichts.‹«

    Ich beuge mich ein wenig vor. Das Kind, dem vorgelesen wird, ist etwa fünf Jahre alt. In dem Alter konnte ich schon selbst lesen. Na ja, das ist nicht jedem gegeben, und an sich ist Vorlesen ja auch eine schöne Sache. Aber doch nicht im öffentlichen Raum! Wofür gibt es Tonträger und Kopfhörer?

    »Da sagte das kleine Mädchen zu dem Kaninchen: ›Wenn du mir nichts tust, tue ich dir auch nichts.‹«

    So ein Schwachsinn! Was sollen ein Kaninchen und schon gar ein Marienkäfer einem kleinen Mädchen schon antun? Ich versuche, mich auf mein Buch zu konzentrieren, aber es geht nicht.

    »Da sagte das kleine Mädchen zu der Kuh: ›Wenn du mir nichts tust, tue ich dir auch nichts.‹«

    Ich lege mein Buch weg. Es hat keinen Zweck. Niemand beschwert sich, ich auch nicht. Wenn eine Störung mit kleinen Kindern in Zusammenhang steht, ist einzuschreiten immer eine ganz heikle Angelegenheit. Schnell steht man als Kinderhasser da. Dabei kann das Kind gar nichts dafür. Die Mutter ist hier die rücksichtslose Zippe.

    »Da sagte das kleine Mädchen zu dem großen Bären: ›Wenn du mir nichts tust, tue ich dir auch nichts.‹«

    »Da lachte sich der große, böse Bär kaputt und fraß das kleine Mädchen auf«, sage ich laut.

    Schlagartig herrscht im gesamten Waggon eine atemlose Stimmung entsetzter Fassungslosigkeit.

    »Was haben Sie da gesagt?«, fragt die Mutter konsterniert in meine Richtung.

    »Dass das Blut nur so spritzte«, ergänze ich.

    Das Kind schaut interessiert zu mir herüber, alle anderen im Abteil starren mich feindselig an. Die Schrapnelle deklamiert: »Manche Menschen wollen einfach nicht begreifen, dass Kinder unser höchstes Gut sind.«

    Ich sage nichts weiter, mache mir ein neues Bier auf und wende mich wieder meinem Buch zu. Für den Rest der Reise habe ich Ruhe. Als die letzten in Spandau aussteigen, würdigt mich niemand eines Blickes. Die Wichtigtuerin hat den gleichen Anschlusszug wie ich. Aber sie steigt bewusst in einen anderen Wagen. – Sehr schön.

    KLARE ANSAGEN

    Ein Sonntagvormittag in jener gedämpften, aber nicht unangenehmen Stimmung, die man hat, wenn einem am Abend vorher diverse erlesene Single-Malt-Whiskys in die Geschmacksknospen fahren durften. In dieser Verfassung des In-sich-Ruhens ist einem Aufregung und Krawall ein Graus.

    Um 11:36 Uhr erreiche ich den Bahnhof Königs Wusterhausen und warte auf den Regionalexpress nach Berlin. Heute sind keine Fußball- oder Eishockeyfans unterwegs, und das ist gut so. Plötzlich aber wird die Ruhe auf andere Weise empfindlich gestört. Ein Mann in den Fünfzigern in Jogginghose und Badelatschen mit einem Flachmann in der Hand beginnt, am Bahnsteigrand zu lamentieren: »Die verarschen einen doch alle! Ständig wird man verarscht. Dauernd wird alles teurer, und was kriegt man? – Zwei Mark fuffzich mehr Rente!« Der Mann ist offenbar Frührentner und lebt noch in der Zeit vor 2002. »Und dieser Fusel ist auch zum Kotzen!«, tobt er, nimmt aber trotzdem einen kräftigen Hieb aus dem Flachmann.

    »Ich will euch mal was sagen«, krakeelt er weiter und wendet sich einer Gruppe von Menschen zu, die erschrocken zurückweicht. »Hitler, Adenauer und Merkel – die sind alle gleich, das ist alles eins.«

    Oha, denke ich, das ist aber ein sehr gewagter Vergleich. Na ja, bei allen dreien fühlte sich ein Großteil des deutschen Volkes in guten Händen. Aber die in einem Atemzug zu nennen, das kann man nicht machen. Der Mann geht schimpfend den Bahnsteig auf und ab. Wo immer er hinkommt, weichen die Menschen zurück. Keiner sagt was. Ich auch nicht. Wer weiß, ob er dann nicht noch furchtbarer wütet. Dabei wäre die versammelte Bahnsteiggemeinde gegenüber diesem tönenden Troll eindeutig in der Überzahl. Aber man will nicht involviert werden, nicht in Berührung kommen mit dieser spektakulär unseriösen Empörung, die die Sonntagsruhe stört und dem Beginn eines Ausflugs in die große Stadt einen dissonanten Ton verleiht. Schon gar nicht möchte man Subjekt sein an einem Tag, an welchem man geplant hat, allein Objekt und Empfänger der Attraktionen von Deutschlands Hauptstadt zu sein, und dazu schon im Vorhinein weggeblendet hat, welches Pandämonium einen an den Berliner Großbahnhöfen erwartet.

    Mir wird es trotzdem langsam zu bunt. Meine schöne, entspannte Stimmung ist wie weggeblasen. Ich fahre nicht zu meiner Unterhaltung nach Berlin, nicht wegen des Reichstages, des Olympiastadions oder des einkaufsfreien Sonntags. Ich weiß, was mich an der Friedrichstraße erwartet, und das ist sehr viel unangenehmer als diese eine bedauernswerte Nervensäge, der ihre Wut aus dem Ruder gelaufen ist. Als der Mann an mir vorbeikommt und anfängt, über seine nicht anwesende Exfrau zu schimpfen, gehe ich einen Schritt auf ihn zu und sage laut: »Warum halten Sie nicht einfach mal die Klappe!?«

    Nach einem kurzen Moment der Überraschung höre ich, wie hinter mir applaudiert wird; von wenigen nur, aber ich fühle mich bestätigt. Der Wüterich dagegen hält kurz inne, dreht sich zu mir um, verbeugt sich und ruft: »Danke! Danke! Endlich sagt mal einer was. Vielen Dank!« Dann setzt er sich still auf eine Bank, trinkt noch einen Schluck und wartet wie alle anderen auf den Zug.

    Das hatte ich nicht erwartet. War ich hier zusammen mit allen anderen Bahnkunden Objekt eines soziologischen Experiments geworden? Unter dem Motto: »Schwellenängste. Wie stark und wie lange muss man dem Normalbürger auf den Keks gehen, bis dieser einschreitet?«

    Als ich aber wenige Minuten später im Zug an dem Mann vorbeigehe, rieche ich deutlich seine Schnapsfahne und verwerfe den Gedanken. Meine eigenen Überlegungen schließe ich mit dem Fazit: Menschen, die es gelegentlich an sozialer Kompetenz vermissen lassen, brauchen zu gegebener Zeit einfach mal eine klare Ansage.

    KONTROLLIERTE DEFENSIVE

    Samstagabend. Es ist der Tag des Revierderbys Dortmund gegen Schalke. Dortmund hat am Nachmittag mal wieder zu Hause gegen den Nachbarn gewonnen; kein Zittersieg, sondern eine klare Sache, locker mit 2:0 drei Punkte eingefahren.

    Vorm Bielefelder Bahnhof spricht mich ein älterer Bettler mit einer Flasche Gorbatschow-Wodka in der Hand an und fragt nach zwei oder fünf Euro für »was zu essen«. Wir sind in Ostwestfalen. Da ist mit einem Euro kein Staat zu machen. Ich gebe ihm drei und den Rat, beim nächsten Einkauf eine andere Wodkamarke zu wählen, da Gorbatschow neben der in Kauf genommenen Zirrhose auch noch Kopfschmerzen verursache. Er nickt und fragt mich, wo ich denn mit meinem Koffer hinwolle. Als ich Berlin angebe, hellt sich sein bärtiges Gesicht auf: »Ah, Reichshauptstadt, Hitler …«

    Ich sage, dass ich davon nichts hören möchte, und verschwinde im Bahnhofsgebäude. Es ist eindeutig nicht die Zeit für eine intellektuelle Auseinandersetzung.

    Am Bahnsteig trifft ein Zug aus Dortmund mit Bielefelder Borussia-Fans ein. »Bambule, Randale – Dortmund kriegt die Schale!«, schallt es über den Perron. – Wieder so eine für mich schwer verständliche Äußerung. Was für einen Grund gibt es zu randalieren, wenn die eigene Mannschaft gerade locker gewonnen hat? Oder ist so ein Reim tatsächlich alles?

    Ein total besoffener Bielefelder im schwarz-gelben Trikot spricht mich aus einem fast zahnlosen Mund an: »Dortmund wird Meister!«

    »Das ist gut möglich«, sage ich und verschweige, dass nach einer halben Saison noch viel möglich ist.

    »Weißt du, wie Bielefeld gespielt hat?«

    »Bielefeld hat 1:0 gewonnen«, sage ich und verkneife mir die spöttische Bemerkung, dass Arminia Bielefeld trotz des heutigen Sieges im unteren Drittel der zweiten Liga herumdümpelt.

    »Du bist in Ordnung«, lacht er und schlägt mir auf die Schulter. »Wo willst’n hin?«

    »Passau«, fällt mir spontan ein, obwohl auf der Anzeigetafel am Bahnsteig eindeutig »Berlin, Hauptbahnhof« steht.

    »Polen?«, fragt er interessiert.

    »Ja, genau«, sage ich, »zum Zigarettenkaufen.«

    Er haut mir noch mal lachend auf den Rücken, und da kommt endlich mein Zug.

    Ich hatte schon einen Monat vorher gebucht. Mit Platzreservierung im Ruhebereich. Mir gegenüber sitzt ein Mann in den Sechzigern mit schütterem Haar, einem rot-grauen Bart, randloser Brille und einem Thomas-Mann-Erzählband vor sich. Ohne aufzusehen, grüßt er mich automatisch murmelnd zurück, als ich »Guten Abend« sage. Auf dem Platzreservierungskärtchen lese ich, dass er auch bis nach Berlin will. Immerhin scheint er ein ruhiger Mensch zu sein.

    Der Waggon ist überfüllt

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