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Liebesgeschwüre
Liebesgeschwüre
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eBook278 Seiten4 Stunden

Liebesgeschwüre

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Über dieses E-Book

Manchmal wäre es besser, wenn es keine Hoffnung mehr gäbe, dann könnte man einfach sterben und das Leid hätte ein Ende.

Wer gewonnen hat, ist mir egal! Davon verstehe ich sowieso nichts … Aber ich entscheide mich jetzt!

Ein Junge, der eigentlich nie eine Chance hatte. Ein Junge, der allein durch den Glauben an seine geliebte Schwester sein Leben erträgt.
Diese Liebe frisst ihn am Ende auf wie ein Metas-tasen bildender Krebs.
Ina Brinkmanns zweiter Roman ist ein sprachlich sowie erzählerisch beeindruckendes Werk, in dem zwei Erzählstränge kunstvoll zu einer Geschichte verwoben sind. Damit bringt die Autorin uns den menschlichen Abgründen der Liebe näher, einer Liebe die uns aber auch dazu antreiben kann, weiterzugehen.
SpracheDeutsch
HerausgeberUBOOKS
Erscheinungsdatum1. Juni 2013
ISBN9783939239819
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    Buchvorschau

    Liebesgeschwüre - Ina Brinkmann

    Ina Brinkmann

    – Anti-Pop –

    1. Auflage März 2013

    Titelbild: Mlenny | istockphoto.com

    ©opyright 2013 by U-Line und Ina Brinkmann

    Lektorat: Franziska Köhler

    E-Book-Konvertierung: nimatypografik

    ISBN: 978-3-939239-81-9

    Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

    eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher

    Genehmigung des Verlags gestattet.

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    U-Line UG (haftungsbeschränkt)

    Neudorf 6 | 64756 Mossautal

    www.u-line-verlag.de

    Inhalt

    Prolog Treibgut

    1. Weiter als die Welt ist und längerals die Zeit dauert

    2. Wer ist jetzt schuld?Ich, du oder die Tür?

    3. Sterben macht Spaß –wenn man es nicht wirklich muss!

    4. Riria, ich würde lachen!

    5. Wenn sie dich fragen, wo wir war'n – sag:«Da, wo wir nicht hingehören ...»

    6. Ob mir das Leben passiertoder ob ich ihm passiere

    7. Die Realität der letzten Monate wiegt ... 00,00 kg

    Epilog Das ist, was du willst,aber nicht, was du brauchst

    Jetzt wird abgerechnet

    Geboren am 28.05.1986 in Berlin.

    Aufgrund einer schweren angeborenen Sehbehinderung in den ersten Lebensjahren zahlreiche Krankenhausaufenthalte. Dort verlernte die junge Autorin sogar das Laufen.

    Nach dem Tod des Vaters Umzug nach Wilhelmshaven und die Schule beendet, danach Praktika, u.a. bei einem Bestatter im Bereich Trauerbegleitung, einer Buchhandlung und beim Radio.

    2011 Erfolgreiche Ausbildung zur Psychologischen Beraterin HP. Im gleichen Jahr erschien ihr vielbeachtetes Debüt Herzmassaker.

    An dich, Manuel W. – mein liebes Zwergenkind

    a vida agora!

    So frag ich leis, ist’s bald vorbei?

    Und bleib verwaist, allein …

    Vorbei? – Anna Brormann

    Prolog

    Treibgut

    Das Nass perlt auf meinem Rücken, rollt bedächtig auf die Rundungen der Rippenbögen zu, nimmt unangenehm kitzlig Tempo auf und stürzt sich dann über die Körperkante in zuverlässig unregelmäßigem Rhythmus. Wie der Bach im Wäldchen hinter dem Haus, der stetig leise vor sich hin dümpelt, dann – in der Nähe unseres Gartens - an Kraft gewinnt und sich am Ende selbst ausufert, chaotisch gezielt über Erdbruchkanten saust und in kleinen, laubbedeckten Pfützen versickert, fällt Tropfen um Tropfen, landet mit einem leisen Plong auf dem Laken, dringt in die Fasern ein, versinkt im Stoff, breitet sich gemächlich aus zu düsteren kleinen Tümpeln, die irgendwo tief in der schwitzenden, modernden, müffelnden Matratze gründen.

    Ich presse mein Gesicht fest hinein in die federnde Oberfläche, atme den klebrigen Geruch, meinen angesammelten eigenen Ausdünstungsschlamm, sauge ihn schwerfällig in meine Lungen, die sich auch anfühlen wie Feuchtbiotope, in denen es surrt und rasselt mit jedem Japsen, die sich mit jedem neuen Atemzug hart gegen mein angespanntes Rippenfell drücken wie zu fest aufgeblasene Luftballons, dann wieder erschlaffen, in sich zusammenfallen, sich hängen lassen wie meine rechte Hand, mit der ich fast den Boden berühren kann. Hin und wieder spüre ich den rauen Untergrund, eine feine feste Spur an den Fingerkuppen in all dem niedergedrückten Schweben.

    Mein Blut huscht ebenso aufgeschreckt durch meinen Körper. Der Schmerz krampft von den Fußballen in die Nackenmuskulatur mit jedem weiteren Ruck, den der gewaltige Schatten hinter mir, über mir durch mich hindurchjagt. Kalt und steinern und routiniert.

    Das Nass kollidiert mit dieser ausgetrockneten Gestalt. Sie wischt über mich hinweg, kratzig rau und erdet mich wieder, gerade als ich dachte, ich würde mit dem Fluss in den Tümpel getragen wie ein dürres, zerbrechliches Stück Treibgut, das an einem massiven Felsen hängen geblieben ist und nun vom Strom hin und her geworfen wird.

    Er legt klirrende Kälte mit der einen Hand auf meinen Rücken und füllt mich aus mit purem Schmerz. Reibt mir Splitter ein. Ich merke, wie sie in mir und durch mich hindurchkratzen. Lauwarm verklebt mir Blut die Mundwinkel. Meine Zunge fühlt sich trocken und dick an und gerät immer wieder zwischen meine Zähne, meine Hände greifen ins Tümpellaken und finden keinen Halt. Ich bin so ausgefüllt mit Schmerz und Wut und Fremdheit, dass ich denke, gleich muss ich zerspringen. Einfach platzen und mich in einem zerstäubenden Holzraspelmatschregen überall verteilen. Aber der Felsschatten hinter mir bleibt stur bei der Sache.

    Ich öffne die Augen erst wieder, als ich die zarte Wärme der Sonnenstrahlen spüre, die durch das kleine matte Fenster auf mein Bett sickert und mich endlich wieder erreicht. Der Schatten ist gewichen und das Tosen des Baches entfernt sich, bis ich es nur noch ganz sachte erahnen kann.

    «Die Regeln sind klar?»

    «Klar!»

    «Deine Spielfigur steht?»

    «Steht.»

    «Wer gewinnt, hat gewonnen?»

    «Was für eine dämliche Frage …»

    «Das sind die Regeln des Spiels, Mann!»

    «Der Film?»

    «Manchmal denke ich, du bist dümmer als ein Stück Brathering, echt …»

    «Reizend. Können wir dann anfangen? Umso schneller habe ich diesen Schwachsinn hinter mir.»

    «Yeah, Mann. Dieses Mal fickst du mich nicht!»

    1.

    Weiter als die Welt ist und länger

    als die Zeit dauert

    Das erste Mal wurde ich als kleines Kind gefickt. Aber nicht mit einem Pimmel, sondern mit dem Griff einer Klobürste. Einer olivgrünen aus dem Ein-Euro-Laden. Damals war es, als müsste es mich zerreißen.

    Der steinerne Mann ist seit ein paar Stunden weg. Ich liege auf dem Bett, starre an die Decke und zähle die Sekundenabstände zwischen dem Schmerzpochern. Nur noch ein kleiner Nachhall im Vergleich zu den wie Kanonenkugeln durch meine Gliedmaßen zischenden Schmerzsalven von kurz danach.

    Roswitha hat mir Saft reingebracht, und Bo versucht schon eine ganze Stunde lang einen Grund zu finden hereinzukommen, aber er traut sich nicht. Ich höre seine schweren Schritte im Treppenflur auf und ab schlurfen, wie er die Türen zu den Zimmern neben dem meinen öffnet und wieder schließt, ohne den jeweiligen Raum betreten zu haben. Ich ignoriere das.

    «Jetzt komm da weg, Dickerchen. Der Kleine lebt noch!», ruft Rosi von unten herauf, und Bos Schritte entfernen sich, bis sie die alte Holztreppe knarzend belasten.

    «Heute Abend kommt keiner mehr. Bis morgen um Mittag haste frei», hatte die alte Frau mit den knochigen Händen, die ich in der Öffentlichkeit Ma nennen muss, gesagt, meinen Körper gecheckt und gemeint, es wäre nicht so schlimm. «Bist morgen wieder arbeitsfein, ja!? Morgen kommt ein Neuer.»

    Heißt so viel wie: Geh duschen, jammre nicht rum und sieh zu, dass du morgen ausgeruht bist, wenn der nächste Kunde kommt.

    Vorsichtig wackle ich mit den Zehen, spüre die Kälte der Luft aus dem geöffneten kleinen Dachbodenfenster über die Knöchel streifen und setze mich ächzend auf. Unten schaltet Bo den Fernseher ein und das Gebrabbel irgendeiner Moderatorin surrt durch die Dielen.

    Ich vermisse meine Schwester und sogar ihren dummen Freund Mario und frage mich, ob man im Gefängnis fernsehen darf und sie sich dasselbe ansieht wie Bo, der seinen massigen Körper wahrscheinlich in einem der alten Cordsessel im muffigen Wohnzimmer des Werfthauses geparkt und sich bereits über eine Tüte getrockneter Speckschwarten hergemacht hat.

    Der schmuddelige Holzboden ist rau an den nackten Füßen und die kleine, hässliche Tischlampe mit beigefarbenem Stoffschirm wirft ein unheimliches Zwielicht in den Raum. Sachte bewege ich mich, die Beine nicht zu weit auseinander beim Gehen und den Po ein wenig angespannt, um dieses Kackgefühl zu unterdrücken.

    Die verzogene Tür quietscht, als ich sie öffne, um nach nebenan zu huschen. Mir ist jetzt doch ein wenig kalt. Das ausgebaute Obergeschoss ist immer zugig. Außer im Sommer, wenn das Kondenswasser an den massiven Balken herunterrinnt, die das marode Dach tragen, das sonst wohl ohne große Mühe direkt auf uns herabkrachen würde. Zusammen mit ein paar verwaisten Schwalbennestern, in denen allerhöchstens noch die Larven von irgendwelchen Fliegen schlüpfen. Davon gibt es hier nämlich genug.

    Das Badezimmer ist gelbgrün gekachelt, ein bisschen so wie unser Bad in dem Mietshaus, in dem Sarina, Mario und ich gewohnt haben. Sofort als ich mich auf die Klobrille sinken lasse, läuft die braunrote Flüssigkeit, die schon ein bisschen über meine Oberschenkelinnenseiten geplätschert ist, in die Schüssel und ein schlimmes Brennen zieht an meinen Eingeweiden. Es ist nicht viel, vielleicht ein Schnapsglas voll, aber es kommt mir vor, als liefen ein paar Liter Säure aus meinem Po.

    Wieder fange ich an zu weinen, rutsche nervös auf der Brille hin und her und stütze die spitzen Ellenbogen auf die genauso spitzen Knie. Das Bad hat kein Fenster. Nur eine Duschkabine mit einer altmodischen kalkigen Sitzwanne, deren Rand mir bis zu den Knien geht, ein Waschbecken und die Toilette.

    Über dem Becken hängt ein alter Alibertschrank, in dem die Dinge verstaut sind, die ich brauche oder die Roswitha gekauft hat, weil sie meint, dass man sie braucht, wenn man regelmäßig auf Zeit vermietet wird. Zahnbürsten zum Wechseln, ein paar Seifen und Salben, Schmerztabletten, die ich nicht mehr nehme, seit ich mich an einen kompletten Nachmittag nur noch schemenhaft erinnern kann, dann noch Haargel und Mädchen-Make-up, was ich mir unter Garantie nicht ins Gesicht schmiere, Deo, Parfum und Vaseline. Die wirklich wichtigen Sachen sind aber drüben im Nachtschrank.

    Die Dusche kommt schwerfällig in Gang, nachdem es in den Rohren gebrummt und gebollert hat, und nach ein paar Augenblicken ist das Wasser auch erträglich warm. Also klettere ich über den Rand, setze mich hin und lasse mich sauber regnen.

    Alles brennt, aber das ist in Ordnung. Viel schlimmer sind die Erinnerungen. An drahtige behaarte Männerbrüste, an die mein Kopf gedrückt wird, an schwer atmende und Wasser spuckende Stöhnmenschen und an meinen Körper - an die kalten Fliesen gepresst. An die Schmerzen.

    Meistens bestehen die Kunden darauf, dass ich dusche vor dem Bett. Als ob ich mich nicht eh nach jedem Mal sauber waschen würde … Nur die, die schon zu hart sind und nicht warten wollen, kommen gleich zur Sache, und dann noch ein paar der Stammfreier.

    Wie Rosi immer sagt: «Heute kommt dein bester Kunde. Dieter/Peter/Argül … freut sich schon auf dich. Sei bloß immer brav zu den Stammfreiern, die zahlen am besten.»

    Und Steinmann gehört leider dazu …

    Während kribblig und langsam wieder Leben in meine Glieder fährt, überlege ich fieberhaft, was ich mit den paar freien Stunden anfangen könnte. Mir geht es nicht gut. Meine Beine fühlen sich steif an, auf meinem Bauch bildet sich ein blasslilaner Bluterguss und dieses doofe Kackgefühl will einfach nicht verschwinden. Das Kackgefühl ist das Schlimmste. Noch lange Zeit, nachdem nichts mehr in mir drinsteckt, denke ich dauernd, es wäre doch noch etwas da. Als müsse man ganz dringend mal groß, aber wenn man es versucht, kommt sowieso nichts. Das macht einen wahnsinnig.

    Sarina hatte früher öfter mal Blasenentzündung und meinte, das Schlimmste sei, dass man dauernd das Gefühl habe, mal Pipi zu müssen. Damals habe ich das nicht verstanden. Jetzt weiß ich genau, was sie meint. Riria. Gut, dass du hiervon nichts weißt …

    Sarina fuhr mit ihren langen, dunkelblonden Locken über seinen Körper. Von den kleinen Zehen bis hoch zum spitzen Jungenkinn, das neugierig nach oben gereckt wurde. Ihr nackter Busen berührte mit den hellrosanen kleinen Nippeln seinen Bauch und seine Brust.

    «Mein kleiner süßer Do …», säuselte sie leise und stupste ihre Nase gegen seine. Der Junge gluckste kichernd und griff ihr in den Nacken. «Dorian. Brüderchen. Wach auf.»

    Ihre Stimme füllte den kleinen Körper mit einer warmen Welle zufriedener Sicherheit. «Riria!», rief er aus, kniff ihr ein wenig in die Haut am Nacken und zog sich an seiner Schwester hoch. «Riria? Geschenke!»

    Die kleinen Wangen glühten. Von irgendwoher roch es nach Kaffee und der Duft vermischte sich verlockend mit dem des Badeschaums, der noch von Sarinas Schultern glitt. Sarina trocknete sich nicht gerne ab. Do verstand das gut, denn auf der zartweißen Haut seiner Schwester hinterließ der Kratzestoff sowieso nur rosarote Reizstellen.

    Meistens waren die Handtücher eh nicht sauber und lagen wild verstreut auf dem Fußboden, bis sie irgendwann von Riria in die Wanne geworfen und eingeweicht wurden, nachdem sie baden war, zusammen mit der anderen Schmutzwäsche. Solange es nicht zu kalt wurde, lief sie dampfend herum und hinterließ dunkle Stapfen auf dem Boden des Zimmers, durch das man immer musste, um ins Bad zu kommen.

    Gespielt überrascht legte das Mädchen die Hand auf den Mund und sog die Luft ein, sodass ein scharfer Pfeifton entstand. «Oh Scheiße! Do! Das hab ich ja ganz vergessen! Du hast ja Geburtstag!»

    «Vergessen??», stieß der Kleine hervor, warf sich auf seine Schwester und schlug ihr mit geballten Fäusten auf den feuchten Rücken.

    «Ja. Vergessen. Aber ist doch egal, Do. So wichtig ist das ja nun wirklich nicht», erwiderte sie, während sie versuchte, die kleinen Fäuste mit den Handflächen sachte abzuwehren.

    «Wohl schlimm!», kreischte er, ließ sich auf die Matratze, die auf dem ranzigen Teppich lag, zurückfallen und schmollte.

    «Was hat die Ratte denn jetzt schon wieder?»

    Dorian drehte sich sofort zur Wand, als der Freund seiner Schwester - ebenso nackt wie sie - aus dem Badezimmer schlurfte und Wassertropfen aus seinem krausen Haar ebenso dunkle Flecken auf dem Boden hinterließen.

    Do wollte es nicht zugeben, aber das, was Mario da zwischen den Beinen mit sich rumtrug und das um so viele Nummern größer war als das, was er selbst vorzuweisen hatte, flößte ihm größten Respekt ein. Vor allem nachdem Sarina ihm mal erklärt hatte, wozu das «Ding» im Grunde da war.

    «Er stellt sich an, weil ich seinen Geburtstag vergessen habe», antwortete Sarina gehässig und überfiel den Jungen mit einer Kitzelattacke, die ihn aus der Reserve und mit dem Blick wieder in Richtung Marioding lockte.

    Der Junge wurde unvermittelt rot, und der Dunkelhäutige grinste ein breites, weißzahniges Grinsen. «Neidisch, wa?»

    Do sprang auf, um sich Sarinas Händen zu entziehen, hastete an Mario vorbei und in die Küche. Auf der Holzplatte, die Mario von irgendeiner Baustelle geklaut hatte, standen drei Plastikbecher, die einladend dampften. Außerdem sah er einen Kuchen in Zellophanpapier und sogar ein in Zeitungspapier eingewickeltes Bündel auf seinem Platz. Mit einem Stift hatte jemand eine wackelige Fünf daraufgemalt und eine halb heruntergebrannte Kerze auf einem Pappdeckel glimmte mit tanzender Flamme.

    Dorian schrie und hüpfte um die Platte herum wie ein wild gewordenes Eichhörnchen, riss das Zeitungsbündel an sich und ließ die Fetzen quer durch den Raum fliegen. Sarina, die nach ihm in die Küche gekommen war, griff nach der Kerze, ebenso lachend, wobei ein wenig vom Wachs in Dos Kakaobecher plumpste. «Du brennst uns hier ja noch die ganze Bude ab, kleiner Penner!»

    Mario ließ sich, nun in ein altes Handtuch gewickelt, auf den Boden sinken und machte sich im Schneidersitz über den Kuchen her.

    «He, du Affe! Das ist mein Purzelkuchen!», protestierte Dorian.

    Das hatte Anna immer gesagt. Purzelkuchen fürs Purzelkind. Also warf Dorian das Geschenk zur Seite und sich Mario ins brachiale Kreuz und grapschte nach dem Kuchenbrocken, den dieser sich gerade zwischen die wulstigen Lippen schieben wollte. «Finger weg!»

    Mario wischte den Jungen problemlos vom Rücken, und Dorian knallte mit einem dumpfen Pock mit dem Hinterkopf auf den Teppich.

    «Ey, sei vorsichtig!»

    Sarina half ihrem Bruder auf, wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht und zog ihn zu sich heran, setzte ihn sich zwischen die Beine und brach ihm ein noch größeres Stück vom Kuchen ab.

    «Soll doch purzeln, der Zwerg», muffelte ihr Freund, während Do sich noch näher an seine Schwester drängte, deren immer noch nackter Schambereich eine interessante Wärme auspulsierte.

    Riria war wundervoll weich, vor allem wenn sie nackt war. Nicht so knorrig wie seine Mutter Anna. Seit einem Jahr war sie nun tot und meistens vergaß er sowieso, sie zu vermissen. Er hatte ja seine Riria und irgendwann würde er den mächtig bestückten Schwarzen bestimmt auch loswerden. Spätestens, wenn er selbst etwas gewachsen wäre. Vor allem «da unten». Zwar fand er die Vorstellung, das mit seinem Ding zu tun, was Mario bei Sarina damit anstellte, ziemlich komisch, auch ein bisschen eklig, aber er hatte schon ein paar Mal zugehört, und so wie es klang, hatte seine Schwester daran großen Spaß.

    «Willste dir nicht dein Geschenk angucken, Scheißer?», fragte Mario kauend und schob das zerknitterte Päckchen zu Do rüber.

    Ein wenig verwundert über die Fast-schon-Freundlichkeit, die der unliebsame Freund Sarinas ihm zukommen ließ, griff er danach und fingerte eine kleine blaugelbe Umhängesporttasche heraus. Nicht ganz das, was er sich als Geburtstagsgeschenk vorgestellt hatte, aber immerhin.

    «Die, mein Süßer, ist, weil du bald zu einer … Schatz, wie heißt das?» Sarina schaute über den Kaffeebecher zu ihrem Freund, der leicht die Augen verdrehte.

    «Vorschule.»

    «Genau. Weil du bald zu einer Vorschule gehen sollst. Da lernt man tolle Sachen und so.»

    Do drehte die Tasche ein paar Mal in den Händen hin und her. «Was denn zum Beispiel?»

    «Mädchen kennen vor allem!», witzelte Mario und schob sich noch mehr Kuchen in den Mund. «Woll’n wir jetzt mal einen Rauchen, Babe, oder wie sieht das aus?

    Sarina zog die Bong – Do wusste genau Bescheid – aus dem Spalt zwischen dem E-Herd und der siffigen Spüle und nickte.

    «Riria, gehen wir in den Zoo? Ich will Zebras sehen!»

    Dorian lag in die Wolldecke eingewickelt und genoss die Streicheleinheiten seiner Schwester. Es war schon spät und die Müdigkeit zog an seinen Lidern.

    «Vielleicht bald. Im Moment haben wir kein Geld.»

    «Warum nicht?»

    «Weil wir keins kriegen. Mama hat doch alles ausgegeben und so.»

    «Und warum gehst du nicht arbeiten?»

    Sarina schwieg und strich dem Kleinen übers Ohr. «Mach ich schon bald.»

    «Und Mario?»

    Do rümpfte die Nase, als er den Namen aussprach.

    «Der arbeitet doch. Der verdient alles, was wir haben. Du weißt das Amt …»

    «… können wir nicht nach Geld fragen, weil die nicht wissen dürfen, was mit uns ist».

    «Genau. Sonst kommst du in so’n Kinderheim, willst du das?»

    «Nee. Ich will bei dir bleiben!»

    «Dann leb damit. Mario hat morgen wieder eine Arbeit bei Tom. Der kommt auch gleich. Vielleicht gehen wir dann nächste Woche in den Zoo.»

    «Versprochen? Oder müsst ihr das wieder alles dem Dicken von oben geben?»

    Der Dicke von oben jagte Do einen Schauer über den Rücken. Der Mann stank nach Alkohol und seine dunkelgrüne Bomberjacke stand vor Schmutz. Außerdem war er gemein und nahm ihnen oft das Geld ab. Wahrscheinlich, weil Mario manchmal so bekloppt war. Dann schrie er laut und trat gegen Sachen und tat Sarina weh.

    Sie erklärte Dorian oft, dass Mario krank sei, weil er Heimweh nach seinem zu Hause hatte, wo immer die Sonne scheine und alle Menschen dunkle Haut hatten und alle Männer so riesige Dinger. Dann täte ihm alles weh und er würde traurig und sauer werden. Und Mario brüllte oft, dass es Dos Schuld wäre, dass er ihn nicht «mit durchziehen» wollte – und könnte, dass Sarina ihn weggeben oder aussetzen oder sogar verkaufen sollte. Aber das tat sie nicht. Weil sie sich liebten. Weiter als die Welt ist und länger als die Zeit dauert. Japs.

    Aus der Küche hörte Do wildes Stimmengewirr. Irgendjemand spielte schräg Mundharmonika und Mario redete laut von «zu Hause» – wo alles geil ist.

    Noch ein letzter Kuss auf die Schläfe. «Versprochen!», dann glitt Sarina aus dem Raum und verschwand hinter dem nikotingelben Bettlaken, das als Türersatz im Rahmen hing.

    Der morgendliche Geburtstagskuchen war das Letzte, das Do gegessen hatte. Der Hunger zwickte ihn im Magen, aber dann schlief er doch ein. Dachte nicht mehr an Anna, die Hyäne. Und irgendwie war er trotz allem recht glücklich.

    Als er wieder aufwachte, hörte er Schreie. «Riria!?», rief er verschlafen in den Raum, in dem es außer der Matratze keine Einrichtung gab.

    Wieder ein Schrei, dann ein Rumpeln. Wackelig stand er auf, hielt sich an der Wand fest und rieb sich die Augen.

    «Macht die verfickte Scheißtür auf!», dröhnte die Stimme des Dicken aus dem Treppenhaus herein. Dann ein lautes Krachen, als von draußen wieder Fäuste gegen die Tür schlugen.

    «Riria? Mario?»

    Angst machte sich in ihm breit und der Junge wagte es kaum, in den schmalen Flur zu gehen. Langsam und auf Zehenspitzen schaute er zuerst ins Bad, wo außer ein paar Fetzen Alufolie, die er auf Marios Heimweh zurückführte, nichts Ungewöhnliches zu finden war. Dann schlich er doch durch den Flur in die Küche. Das Tischbrett war chaotisch. Überall standen leere oder umgeworfene Bierdosen und Gläser herum. Ein paar Reste einer Tiefkühlpizza, die Tom wohl mitgebracht haben musste, klebten an der Wand, auf Dorians Augenhöhe, und wirkten fast wie zwei skurrile Monsteraugen, die aus der Küchentapete blinzelten.

    Erschrocken machte er einen leichten Satz zurück und eines der «Augen» rutschte herunter, um platschend auf dem Boden zu landen - und auf der Spitze seines großen Zehs. Er japste auf, und

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