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SEETAGE: Die Lust am Untergang
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eBook690 Seiten10 Stunden

SEETAGE: Die Lust am Untergang

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Über dieses E-Book

An seinem 33. Geburtstag wird die vertraute Welt von Alex Bergmann auf den Kopf gestellt. Nach einem feuchtfröhlichen Gelage in seiner Stammkneipe wacht er völlig derangiert in einer fremden Wohnung auf und weiß weder, wo genau er ist, geschweige denn wie er dorthin gekommen und wer die Frau ist, die neben ihm liegt. Geburtstagsüberraschung Nummer zwei ist das Geschenk seiner Tante, der alleinstehenden Schwester seines Vaters: eine Südseereise auf einem Luxus-Kreuzfahrtschiff. Dass er in der für ihn ungewohnten Umgebung von einem Fettnäpfchen ins nächste tappt, könnte man als Lehrgeld verbuchen. Dass er aber durch die ständig brodelnde Gerüchteküche an Bord des Luxusschiffes von kleinen Anzeigenleiter zum Enthüllungsjournalisten eines Hamburger Nachrichtenmagazins katapultiert und plötzlich sogar in einen internationalen Waffenschmuggel verwickelt wird, ist schon schwerwiegender. Vor allem, weil er null Ahnung hat, wie er aus dieser Sache wieder herauskommen soll.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Dez. 2015
ISBN9783732374885
SEETAGE: Die Lust am Untergang

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    Buchvorschau

    SEETAGE - Werner K. Fischer

    POSITION 52°22’33N – 9°43’55E –

    HANNOVER/DEUTSCHLAND

    EINS. WIE IMMER.

    ALLES WAR WIE IMMER. Das Aufwachen war wie immer. Die Stimmung war wie immer. Der Gedanke an den Job war wie immer. Und der aussichtslose Kampf gegen den inneren Schweinehund sowieso. Öde. Ein besseres Wort dafür gab es nicht. Vielleicht noch langweilig oder freundlos. Aber öde traf es am besten.

    Es war Mitte Januar. Montag. Kurz vor halb acht. Der Wecker hatte ihn aus seinem Dämmerzustand gerissen, und der Tag versprach genau das, was ein verregneter, trüber, winterloser Januarmorgen in Hannover zu bieten hat. Nichts. Rein gar nichts. Vielleicht gerade noch so die Erkenntnis, dass Aufstehen Energieverschwendung war und ein so schnöder Montag einfach nichts Gutes bringen konnte. Aber das war es denn auch schon. Zumal Alex’ komplizierte Gefühlswelt mal wieder Achterbahn fuhr und nirgendwo ein Haltepunkt in Sicht war. Aber auch das war wie immer. Genau wie die übliche Folge dieser Null Bock-Stimmung. Null Antrieb, null Motivation, null Perspektive.

    Alex durchforstete seine träge Gehirnmasse und beschloss, genau das Gegenteil von dem zu tun, was die meisten Menschen montagmorgens taten. Nicht aufzustehen. Nicht anziehen. Nicht zur Arbeit zu gehen. Im Grunde war es doch vorprogrammiert. Alex würde sich heute diesen ganzen Stress ersparen und dann morgen einen einleuchtenden Grund finden, warum er heute unpässlich gewesen war. Unerträgliche Gliederschmerzen vielleicht. Oder dieses beängstigende Zerren im Unterbauch mit lebenserhaltender Blaulicht-Fahrt in die Notaufnahme. Oder noch besser, die Klassiker: Badewanne übergelaufen und/oder Stromausfall in der Tiefkühltruhe. Warten auf den Handwerker, der sich natürlich mal wieder alle Zeit der Welt genommen hatte. Dies würde vermutlich auf das meiste Verständnis stoßen. Diese Situation kannte jeder. Montags war eben der Tag mit den meisten Aus-, Un- und Zufällen. Und heute war er mal dran, heute würde er mitmischen. Aus die Maus! Völlig erschöpft von diesem schweren Entscheidungsprozess kuschelte er sich in seine Decke und versuchte, wieder einzuschlafen. Es blieb bei dem Versuch. Jetzt war es die Natur, die Aufmerksamkeit forderte. Die Blase wollte Entladung. Und je mehr er dagegen arbeitete, desto intensiver drängte sie, bis sie schließlich ein allerletztes Warnsignal gab, weil sie kurz davor war, das Problem selbst zu lösen. Alex stöhnte auf wie ein verwundeter Stier, sprang aus dem Bett und stolperte gerade noch rechtzeitig mit zusammengekniffenen Beinen ins Bad. Nachdem er den letzten Tropfen abgeschüttelt hatte, fühlte er sich noch mutloser und ließ sich wieder aufs Bett fallen.

    Obwohl die neue Woche in ihrer wabernden Langweiligkeit gerade erst begonnen hatte, fühlte sie sich schon an wie abgestandenes Bier. Weit und breit kein Kick, diese Öde zu versüßen. Kein spontanes Herzklopfen bei dem Gedanken an eine Frau. Keine Vorfreude auf eine besondere Verabredung. Keine Spontan-Erektion bei der Erinnerung an den letzten One-Night-Stand. Kein wildes Wochenenderlebnis, um die nächsten Tage davon zehren zu können.

    Im Gegenteil. Es war ein typisches Alex-Wochenende gewesen. Startschuss: Freitagabend. Kampftrinken bei Manni, in seiner alkoholgeschwängerten Stammkneipe gleich um die Ecke in der Marienstraße. Alex konnte sich bis heute nicht erklären, was es genau war, das ihn so magisch dorthin zog. Entspannung nach der Arbeitswoche? Ganz sicher nicht. Das wichtigtuerische Gelabere, das Gegröle und die jede Woche neu erfundenen Heldentaten? Ganz sicher auch nicht. Das fand er im Grunde sogar abstoßend. Genuss? Auch nicht unbedingt. Das, was am Anfang des Abends noch schmeckte, ging mit jedem weiteren Glas in Routine und Gleichgültigkeit über. Und üblicherweise hatte eine Nacht bei Manni sehr viele Gläser. Die Mittrinker? Bestimmt nicht. Obwohl er sie zu fortgeschrittener Stunde manchmal sogar als Freunde bezeichnete. Waren das Freunde? Oder einfach nur Gefrustete wie er, die sich aus reiner Gewohnheit zum nächtlichen Besäufnis trafen, weil sie a immer Durst hatten, b auch nicht allein sein wollten und c nichts Besseres vorhatten. Aber dieses Vorhaben hatte er jedes Mal in die Schublade „später erledigen" geschoben, den Deckel fest zugedrückt und weiter getrunken. Wenn er ehrlich war, hatte Alex null Ahnung, was ihn freitagabends in diese Kneipe zog. Einsamkeit? Bequemlichkeit? Gewohnheit? Die Jagd auf einen One-Night-Stand? Im Grunde hatte er wenig Lust, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Wozu auch?

    Die Konsequenz der durchzechten Nacht war meist das samstagvormittägliche Koma, von dem sich Alex nur mit allergrößter Anstrengung und selten vor Mittag erholt hatte. Um den langweiligsten Teil des Sonnabends, die Mittagsstunden, totzuschlagen, hatten sich im Laufe der Zeit zwei Varianten herauskristallisiert. Im Bett liegenzubleiben, zu gammeln und Fernzusehen. Was allein aber wenig prickelnd war. Oder aufeinen Kaffee in die Hannoversche City zu fahren. Zum einen, um unter Menschen zu sein, zum anderen, um, na ja, um zu spannen. Er fand es prickelnd, Menschen zu beobachten. Vor allem Frauen. Natürlich nicht wie ein perverser Spanner. Eher wie ein Zuschauer auf dem besten Logenplatz eines Provinztheaters. Für ihn hatten Frauen, so lange er denken konnte, etwas Besonderes. Etwas Geheimnisvolles. Etwas Unnahbares. Nie im Leben würde er seine Hauptdarstellerinnen ansprechen. Er gab sich damit zufrieden, sie aus sicherer Entfernung bei Kaffee und Croissant anzuschauen und sie in sein Stück einzubauen. Wie ein Regisseur, der die Schauspieler auf den Platz setzt, auf dem sie ihre Stärken ausspielen können. Die Hübschen, die sowieso mitten im Scheinwerferlicht standen und bei denen die Fantasie gar nicht anders konnte, als spontan Purzelbäume zu schlagen, bekamen die Hauptrollen. Die Unauffälligen, die nur für einen Nano-Moment das Kleinhirn aktivierten, mussten schon im nächsten Augenblick die Bühne räumen und erfroren schnell in Vergessenheit. Wobei Alex schon einige Male erkennen musste, dass sie ein zweiter Blick plötzlich in ganz anderem Licht erscheinen ließ. Er konnte dann gar nicht anders, als ihnen doch noch eine der Hauptrollen in seinem Traum-Theater zu geben. Und dann waren da noch diese ganz Besonderen. Die, die glaubten, zu wenig aus der Wundertüte des Lebens mitbekommen zu haben und glaubten, dieses vermeintliche Manko unbedingt kompensieren zu müssen. Durch ein gewagtes Outfit, das nahezu alles enträtselte, nur nicht das, was sie eigentlich enthüllen wollten. Durch einen schrillen Material- oder Farbmix, der dem zufälligen Beobachter einen Paradiesvogel versprach, aber nur ein Entlein lieferte. Oder durch eine besonders raffinierte Interpretation von Weiblichkeit, die aber genau das Gegenteil von dem bewirkte, was sie eigentlich bewirken sollte. Oder die mit dem „Verdammt noch mal, lass mich gefälligst in Ruhe-Blick", der dann auch genau das signalisierte, obwohl es vielleicht gar nicht so gemeint war.

    Sie waren die eigentlichen Heldinnen in seinem Samstags-Drehbuch. Es faszinierte ihn, diese Frauen in ganz normale Alltagsszenen zu stellen. Die Extrem-Korpulente zum Beispiel in die Enge eines Flugzeug-Economy-Mittelplatzes im Frühflug nach Frankfurt. Eingeklemmt zwischen mindestens genauso schwergewichtige, schwitzende und schnappatmende Männer in dunkelblauem Zwirn, unterarmnassem Hemd, überquellendem Bauchlappen und Fake-Gürtel mit Designer-Schnalle. Die einen eigentlich aussichtslosen Kampf um die Armlehnen führen mussten, sich dann aber dank einer ausgeklügelten Hartnäckigkeit doch durchsetzten und ihren schwer erkämpften Triumph damit dokumentierten, dass sie mit weit aufgeschlagener Bild-Zeitung vor den Gesichtern ihrer Opfer herumwedelten. The winner takes it all. Oder die Sommersprossige, die sich trotz strömendem Regen hinter einer überdimensionalen Sonnenbrille versteckte, mit dem Handtaschen-Arm ihren wagenradgroßen Hut gegen den böigen Wind verteidigte, mit dem anderen Arm den sich unförmig aufblähenden Wettermantel bekämpfte und obendrein Rumpelstilzchen spielte, weil sie mit ihren knallroten Lackstiefeln geschickt die unzähligen Regenpfützen austanzte. Den stirnrunzelnden Blicken begegnete sie mit verschmitztem Lächeln. The winner takes it all. Oder Mini. Körperbetonter, selbstbewusster, extrovertierter Auftritt. Aber eben klein. Trotzdem fest davon überzeugt, sich mit abenteuerlich gestylten Plateauschuhen in die Liga der Supermodels schummeln zu können, damit aber genau das Gegenteil von Eleganz, Leichtigkeit und Charme präsentierte. Elefant statt Antilope. Aber sie stand dazu und zeigte es der Welt. The winner takes it all. Oder die total Verschleierte, für die Alex nicht auf Anhieb die passende Rolle gefunden hatte, weil sie so gar nicht auf seine Bühne passte und die bei dem einen oder anderen Passanten merklich Unwohlsein auslöste. Die mit ihrer selbst gewählten Anonymität unter ihrer Burka und der vermeintlichen Unterwerfung genau das verkörperte, was europäische Frauen seit Jahrzehnten bekämpften. Die aber mit ihren dunklen geheimnisvollen Augen hinter dem Sehschlitz ein Feuer versprühte, das Leben, Erfahrung und Wissen bündelte. Und deren stolze, überlegene Bewegungen eine deutliche Botschaft an alle Frauen schickte. The winner takes it all.

    Samstagnachmittag war Golf-Time, jedenfalls von April bis Oktober. In den anderen Windermonaten bekam Alex den Hintern nicht hoch. Es wurde ihm zu spät hell und zu früh dunkel, um noch 18 Loch zu schaffen. Er hatte sich sein fehlendes Talent zum begnadeten Golfer allerdings schon früh eingestehen müssen. Zu wenig Ausdauer, zu wenig Charisma, zu wenig kommunikativ, zu wenig sendungsbewusst, zu wenig handicapgeil. Er würde nie einer sein, der durch Topleistungen auf dem Golfcourt auffiel oder der beim Eintreten in einen Raum sofort im Mittelpunkt stand und dem man bewundernd an den Lippen hing. Alex war eher der Hintergrund-Mensch. Die Beschreibung irgendwo zwischen unauffällig und langweilig würde es wahrscheinlich auf den Punkt bringen. Obwohl er durchaus ein guter Typ war. Fand er jedenfalls. Beinahe einsneunzig groß. Schlank, na ja, vielleicht eher schlaksig mit einem kleinen Bauchansatz. Volle dunkle Haare, die er gern etwas länger trug, so dass sie sich über Ohren und Kragen kräuselten. Das hatte etwas Verwegenes, beinahe Verruchtes. So wie Antonio Banderas, dieser spanische Schauspieler. Dunkelbraune Augen, die – das hatte er immer wieder vorm Spiegel geübt – lieb, mitfühlend und überzeugend in die Welt blickten und Zuverlässigkeit signalisierten. Alles in allem also durchaus passabel. Fand Alex. Typ Schwiegersohn. Was sich auch daran ablesen ließ, dass es eher die mittelalten bis älteren Frauen waren, die sich von ihm umgarnen ließen. Nur dieser Hang zum Selbstmitleid, den er von seiner Mutter hatte, stand ihm im Weg und warf ihn manches Mal um Lichtjahre zurück. Alle anderen hatten es super getroffen. Nur Alex nicht. Alle anderen schrieben Erfolgsgeschichte. Nur er nicht. Alle anderen meisterten problemlos die Tücken des Alltags. Nur er nicht. Alle anderen hatten Affären. Nur er nicht. Alle anderen waren Sportskanonen. Nur er nicht. Alle anderen kamen mit ihrem Geld aus. Nur er nicht. Das Sahnehäubchen war dann noch dieser verkappte Ödipuskomplex. Mit seinen beinahe 33 Jahren hatte er immerhin eine eigene Wohnung, es aber immer noch nicht geschafft, sich dem Diktat seiner Familie zu entziehen. Wobei seine Famili. in erster Linie aus Tante Thea bestand. Wenn er mit seinem dunkelblauen BMW, dessen Kennzeichen und Ausstattung den typischen Firmenwagen verrieten, auf dem Parkplatz des Golfclubs auftauchte, interessierte das keine Sau. Wenn doch, war es ein Tabak-Junkie, der in diesem Moment zufällig vor der Eingangstür des Clubhauses seiner einsamen Sucht nachhing und gar nicht anders konnte, als ihn beim Einparken, Abschließen und dem Gang zum Clubhaus zu beobachten. Das gehauchte „Hallo" beim Passieren war dann mehr desinteressierte Höflichkeit als extatische Begeisterung über sein Auftauchen. Diese durchaus schmerzende Ignoranz begegnete ihm auch im Cluballtag. Bei der Zusammensetzung der Flights für die nicht vorgabewirksamen Club-Turniere zum Beispiel. Hier fand er sich regelmäßig bei den weniger erfolgreichen, weniger talentierten und weniger illusteren Clubmitgliedern wieder, so dass ihn weder die sportliche Herausforderung noch die zähen Gesprächsthemen bei den Walks zwischen den Löchern weiterbrachten und er demzufolge mittlerweile jede Hoffnung aufgegeben hatte, sein 54er Handicap je verbessern zu können. Glücklicherweise wurde über dieses Manko bei den abendlichen After-Golf-Meetings gnädigerweise hinweggesehen. Nicht, dass Alex, als Kompensation für seine spielerischen Defizite, seine Herkunft in die gesellschaftliche Waagschale werfen konnte, sondern weil er sich schlicht und ergreifend durch unzählige Aperol-Spritz-, Champagner- und Whisky-Runden die Gesellschaft der Club-Elite erkaufte. Allerdings brannte das jedes Mal tiefe Löcher in seine Tasche, weil ein solcher Abend ein Vielfaches einer Kneipenrunde kostete und somit nicht unbedingt eine Alternative zu den Exzessen in seiner Stammkneipe war. Unbestritten stand zwar die soziale Schichtung die eine oder andere Stufe über der seiner Saufkumpane, was seine Bank allerdings nicht davon abhielt, regelmäßig um unverzüglichen Ausgleich seines Kontos zu bitten.

    Sonntag war Tante-Thea-Tag. Tante Thea war die Schwester seines Vaters. Unverheiratet. So unverheiratet, dass sie allergrößten Wert darauf legte, auch im jetzt doch fortgeschrittenen Alter von 60+ mit „Fräulein" angesprochen zu werden. Wobei das + energetisch gesehen als mindestens ++ definiert werden musste. Tante Thea hatte es sich nach dem Unfalltod seiner Eltern mangels eigener Kinder zur Lebensaufgabe gemacht, doch noch was Anständiges aus Alex zu machen. Anständi. nach ihrem Verständnis, versteht sich. Dieses Ziel verfolgte sie mit der ihr eigenen penetranten Hartnäckigkeit und vielen, aus ihrer Sicht, innovativen Ideen. Deren Einfallsreichtum allerdings kaum Grenzen gesetzt waren, weil Tante Thea zur wohlhabenden Linie des Bergmann-Clans gehörte. Darüber hinaus hatte sie nach und nach auch eine Spürnase für den Geldmarkt entwickelt und ihren ohnehin schon beeindruckenden Sparstrumpf durch hochspekulative Wetten mit Hebelprodukten noch weiter gefüllt. Das war dann auch, wie sie oft und in den unmöglichsten Momenten betonte, der eigentliche Grund, warum sie immer noch Fräulein und ledig war. Ihrer festen Überzeugung nach waren die Kerle immer nur hinter ihrem Geld her gewesen und hatten ihre inneren Werten völlig ignoriert. Wobei das, schoss es Alex respektlos durch den Kopf, in gewisser Hinsicht sogar verständlich war, denn ihre ausgeprägte Knollennase, ihre grobporige Haut, ihre Körperfülle und ihr sehr dominantes Wesen benötigten schon eine gewisse Kompensationsmasse, um das Gesamtpaket ein wenig freundlicher zu gestalten. Nur wegen dieser penetranten Ignoranz hatte sie bisher keinen von diesen „Nichtsnutzen" in ihre Nähe gelassen. Zumindest nicht in eine gesetzlich geregelte. Denn ihr schelmisches Lachen, ihre einnehmende Art und ihr immer noch jugendlich wirkender Charme ließen vermuten, dass sie in jüngeren Jahren nichts hatte anbrennen lassen.

    Alex‘ Schicksal war es, dieses Männer-Vakuum ausfüllen zu müssen, indem er seine Tante sonntags in die feinen Restaurants der Stadt zum Lunch ausführen und als Sahnehäubchen den Nachmittagskaffee in ihrer antiquarisch anmutenden Sieben-Zimmer-Wohnung im vornehmen Hindenburg-Viertel einnehmen durfte. Ihre Gespräche endeten dann beinahe immer in der für Tante Thea elementar wichtigen Auseinandersetzung über Alex’ nicht zu erkennende berufliche Perspektive, seinen unsteten Lebenswandel und seine offensichtlichen Bindungsängste. Bevor er überhaupt eine Chance hatte, sie zu unterbrechen und seine Sicht der Dinge darzulegen, hatte Tante Thea schon den Zeigefinger in die Luft gereckt und begonnen, ihre Idealvorstellungen kundzutun. Jede Woche andere, aber immer in einem schrill-bunten Kaleidoskop utopischster Ausblicke. Das Spektrum ging von den wichtigsten Mindeststandards, über den erstrebenswerten gesellschaftlichen Status bis zu den must. einer standesgemäßen Idealfrau und einem geordnetes Familienleben, in dem selbstverständlich der Mann das Sagen hat. Na ja, und sie natürlich. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verspürte er jedes Mal einen heftigen Drang, sich zu verdünnisieren, ganz schnell wieder in sein eigenes, vielleicht wirklich nicht ideales, Leben zu verkrümeln, sich vor den Fernseher zu lümmeln und sich mit einer Tüte Chips der vergleichsweise leichten Entscheidung zwischen Traumschiff, Tatort oder Pilcher hinzugeben.

    Und nun war schon wieder Montag. Und Alex würde heute liegenbleiben.

    POSITION 52°22’33.21N – 9°43’55.24E –

    HANNOVER/DEUTSCHLAND

    ZWEI. ALEX.

    ALEXANDER K. BERGMANN, ODER WIE ER SEIT FRÜHESTER KINDHEIT GERUFEN WURDE, ALEX, WAR HANNOVERANER. Und das seit nun schon beinahe 33 Jahren. Genau genommen war er sogar Lindener, was für einen echten Hannoveraner so was wie der Ritterschlag ist, weil dieser Stadtteil die stolze Arbeitertradition der niedersächsischen Landeshauptstadt hochhielt. Ungeachtet dessen, dass dieses Image eigentlich nur noch gern strapazierte Historie war. Denn das Areal zwischen Lindener Berg und der Ihme, einem der beiden Flüsse, die Hannover durchfließen, war inzwischen von den Jungen und Hippen erobert worden, und denen war Vergangenheit herzlich egal. Nicht, dass Alex seine Herkunft als Makel empfunden hätte, aber es schien irgendwie einfacher zu sein, beispielsweise Hamburger Wurzeln zu haben. Die Hansestädter waren weltoffener, großstädtischer, wissender. Behaupten die Hamburger jedenfalls von sich selbst. Und das nahm man ihnen witzigerweise widerspruchslos ab. Genauso wie die viel belächelte Antwort auf die provokante Frage nach dem herausragenden Bauwerk der niedersächsischen Landesmetropole, die von den Hansestädtern gern bissig mit der „Autobahn nach Hamburg beantwortet wird. Als ob es keine Marktkiche, keine Herrenhäuser Gärten, keinen Maschsee oder kein Neues Rathaus gäbe! Der verbale und zugegebenermaßen ein wenig hilflos wirkende Gegenangriff, nämlich die Behauptung, dass Hannover demnächst Hafenstadt wäre, weil Hamburg eingemeindet würde, erntete dann ungerechterweise nur mitleidiges Lächeln und ein gönnerhaftes Schulterzucken. So nach dem Motto „Na ja, der kann ja nichts dafür ….

    Alexander, das . stand für Kurt, so hatte sein Vater geheißen, hatte die meiste Zeit seines Lebens in Hannover verbracht. Nur einmal war er kurz ausgebrochen, um in besagter Hansestadt Karriere zu machen. War aber schnell zurückgekommen, weil ihm die Hafenmetropole zu groß, die Menschen zu traditionsbewusst, das Leben zu anonym und sein neuer Arbeitgeber zu popelig schien. Und weil der Karrierezug auf freier Strecke stecken geblieben war. Alex’ hannoversche Prägung war nicht unbedingt mit dem Hamburger Selbstverständnis vereinbar. „Grau bleibt grau hatte sein Chef unwillig hinter ihm hergerufen, nachdem er ihm noch während der Probezeit die Kündigung auf den Tisch gelegt hatte. Alex hatte dann überhastet sein Ein-Zimmer-Apartment in Billstedt geräumt und sich auf besagter Autobahn laut singend zurück auf den Weg nach Hannover gemacht. In dem für Nicht-Hannoveraner kaum nachvollziehbaren Bewusstsein, endlich wieder frei zu sein. Seine wahren Wurzeln lagen eben in der Hauptstadt. Na, zumindest in der niedersächsischen. Hier waren sie alle so wie er. Hier war er zur Handelsschule gegangen, hier hatte er sein Abi gemacht, und hier hatte er nach dem Studium seinen ersten Job bekommen. Anzeigenberater in einer Verlagsanstalt. Das Unternehmen hieß tatsächlich so. Schröder’sche Verlagsanstalt. Er war verantwortlich für die Abwicklung von Anzeigenaufträgen in den unterschiedlichsten Fachpublikationen des Hauses wie „Die hohe Kunst des Druckens, „Der Eisenwarenhändler, „Der norddeutsche Tierarzt oder „Kultur einer Weltstadt". Damit war natürlich Hannover gemeint. Nicht, dass die Kollegen, wie man es bei einer Verlagsanstalt vermuten würde, noch mit Ärmelschonern und Abacus am Schreibtisch saßen. Nein, da war man schon à jour. Es war eher die verstaubte Gutsherrenart, mit der das Unternehmen geführt wurde, die den Namen des Hauses rechtfertigte. Handwerkliche Tradition, unbestechliche redaktionelle Qualität und kaufmännische Ehrbarkeit standen in der Unternehmensbroschüre und der Verlags-Website, es gab tatsächlich schon eine Firmen-Website, ganz weit oben. Aber bekanntlich kann man auch die marodeste Fassade bunt anpinseln. Die Innensicht war, wie so oft, eine ganz andere. Strikte Klassentrennung zwischen Herrschenden und Arbeitsdrohnen. Die gelebte These, dass Planung die Wandlung von Zufall in Irrtum ist. Dazu ein brodelndes Haifischbecken voller Häuptlinge, deren wichtigste Aufgabe es schien, Stellen abzubauen, um dann anschließend die wenigen verbliebenen Indianer zu Höchstleistungen zu peitschen. Und über allem wachte der unfehlbare Patriarch, der Verleger.

    Immerhin hatte er es in der Anstalt beinahe zwei Jahre ausgehalten. Was ihm dadurch versüßt wurde, dass seine Abteilung hauptsächlich aus Frauen bestand. Und er als Hahn im Korb freie Auswahl hatte. Und diese als gut aussehender Nachwuchsmanager zugegebenermaßen auch nutzte. Schon nach einem Jahr wurde er zum Anzeigenleiter befördert. Und hatte nun noch mehr Frauen unter sich. Wobei diese Ausdrucksweise möglicherweise falsch interpretiert werden könnte. Klar, gab es da einige Kolleginnen, die mehr Aufmerksamkeit bekamen als andere. Und beim jährlichen Betriebsfest wurde auch schon mal die eine oder andere Grenze überschritten. Alex hatte ziemlich schnell rauss wie das System funktionierte. Morgens unbedingt allein in die Firma kommen. Wenn es denn gar nicht anders ging, musste das Nacht-Gschmusi eben drei Straßen vorher aussteigen. Tagsüber den Chef raushängen lassen. Auf keinen Fall zu erkennen geben, wen er aktuell favorisierte. Abends immer als Letzter das Haus verlassen. Und – schweigen. Seine absolute Favoritin war Conny, eine dunkelhaarige Schönheit mit rehbraunen, abgrundtiefen Augen, in denen man sich problemlos verirren konnte. Nicht besonders groß, aber alles perfekt proportioniert. Sie verstand es meisterlich, ihre Reize in genau der richtigen Dosierung zu präsentieren. Mal züchtig in hochgeschlossener Oberinnen-Bluse und strengem, abweisendem Blick. Mal aufreizend lasziv mit einem Ausschnitt, der kaum noch Geheimnisse zusammenhalten konnte. Conny war eine Frau, die genau wusste, was sie wollte und dies auch konsequent durchsetzte. Privat jedenfalls. Beruflich lief sie eher im Sparmodus, zögerlich und total motivationsresistent. Perfekt lackierte Fingernägel in täglich wechselnden Farben waren nun mal wichtiger als funktionierende Job-Abläufe. Das Toupieren der Frisur zur Untermalung ihrer rassigen Erscheinung dauerte eben seine Zeit und musste verständlicherweise auch während der Arbeitszeit laufend überprüft und gegebenenfalls nachgearbeitet werden. Und shoppen in der 30-minütigen Mittagspause ging schon gar nicht. Das verstand sich von selbst. Und wer das nicht begriff, der hatte, jedenfalls ihrer Meinung nach, keinen blassen Schimmer vom wahren Leben. Perfekt war es natürlich, wenn man den Chef näher kannte. Mathematisch gesehen, galt dann eine ganz einfache Gleichung: je näher die Beziehung, desto größer der Freiraum. Wobei Conny ganz sicher viele Talente hatte, die Logik mathematischer Gleichungen gehörte aber ganz sicher nicht dazu. Sie agierte nicht logisch, mehr intuitiv. Schließlich gab es genug Kolleginnen, die weniger gut aufgestellt waren und auf die die Arbeit verteilt werden konnte. Wichtig war nur, dass man wusste, wie dieser Hebel zu bedienen war. Und Conny wusste das. Zumal sie noch einen weiteren Vorteil zu bieten hatte, den Chefs jeder Karrierestufe immer schon zu schätzen wissen. Sie wohnte außerhalb, in einem Vorort von Hannover, so dass es relativ unwahrscheinlich war, bei einem Tete-a-tete mit ihr von Kollegen erwischt zu werden. Was die Spielmöglichkeiten ganz enorm erweiterte. Und morgens, nun ja, dann konnte man sie eben 3 Straßen vor der Anstalt absetzen.

    Alex’ Karriere in der Verlagsanstalt war dann ziemlich schlagartig zu Ende gegangen. Er hatte mit dem Werbeleiter vor den Pissoirs auf der Männertoilette gestanden und heftigst über die Qualitäten des Verlegers und seiner Vasallen hergezogen. Nicht ahnend, dass eben dieser hinter ihnen auf einer der Brillen saß und wie jeden Morgen ausgiebig seine Zeitung las. In dem zwangsläufig folgenden „Gespräch mit Klärungsbedarf" hatte Alex dann auch keine Chance, sich aus der Sache herauszureden. Der Kerl hatte offensichtlich jeden Spruch wortwörtlich mitgeschrieben und brachte nun, je nach Verhandlungsstand, genüsslich das passende Zitat. Wobei Alex sich und seine Gesichtszüge bei der Vorstellung seines mit heruntergelassenen Hosen auf der Klobrille sitzenden, lauschenden und schreibenden Chefs nicht immer beherrschen konnte und an Stellen lachte, an denen er besser nicht hätte lachen sollen. Die Folge war eine einvernehmliche Trennung zum nächsten Ersten. Mit Abfindung, versteht sich. Tschüss Verlagsanstalt, tschüss Conny, tschüss Mädels.

    Im Nachhinein stellte sich diese Trennung als Glücksfall heraus, denn nun heuerte er bei einem Verlagshaus an, das in dem attraktiven Markt der Publikumszeitschriften mitmischte. Alex wurde Anzeigenleiter so bedeutender Titel wie „You, „Yvonne, Annalena, „Daheim Wohnen, „Besser leben, „Fit im Alter und einem Stadtmagazin namens „Duke". Er wurde oberster Anzeigenverkäufer und verantwortete plötzlich einen Umsatz von über 150 Millionen Euro. Was schlagartig eine Verdoppelung seines bisherigen Einkommens, Bahnfahrten 1. Klasse, Fliegen in der Business, einen größeren BMW und Altersvorsorge bedeutete. Und ein neues Leben. Denn nun wurde er zu Events eingeladen, von denen er vorher nicht mal ahnte, dass es so etwas gab, fand seinen Namen häufiger in der Fachpresse wieder und saß im engeren Dunstkreis des Verlegers. Man suchte jetzt seine Meinung. Und er hatte immer noch Frauenriegen unter und neben sich, aber es waren jetzt wesentlich mehr, und die spielten in einer ganz anderen Liga. Ein herrlicher Tummelplatz für schlüpfrige Gedanken. Was für Alex der Start in ein bedeutenderes Leben war, war für seine Tante Thea allerdings nur ein Fliegenschiss, ein unbedeutender Mini-Schritt. Zwar, wie sie betonte, in die richtige Richtung, aber mehr auch nicht. Folglich ließ sie sich auch nicht in ihren Bemühungen beirren, ihren Neffen endlich in das Leben zu schieben, das ihr vorschwebte.

    POSITION 52°22’33.21N –9°43’55.24E –

    HANNOVER/DEUTSCHLAND

    DREI. DREIUNDDREISSIG.

    ENDE JANUAR HATTE ALEX GEBURTSTAG. Seinen 33. Und der fiel in diesem Jahr auf einen Sonntag. Also wurde klassisch reingefeiert. Er hatte seine Clique in die Stammkneipe eingeladen, und es wurde eine Sause, die er so schnell nicht vergessen würde. Jeder neue Gast wurde mit lautstarkem Hallo – je nach Geschlecht – maskuliner Umarmung mit dreimal Auf-die-Schulter-Klopfen oder Küsschen links, Küsschen rechts begrüßt und mit einem Aperol-Spritz auf ex in die Runde eingeführt, so dass Alex schnell diese unendliche Leichtigkeit verspürte, die Grenzen verschwimmen lässt und Helden produziert. Die Geburtstags-Mitbringsel bewegten sich zwischen gar nichts, Prosecco-Flaschen der untersten Preisklasse und Präservativen in allen möglichen Varianten. Wobei besonders Letztere jedes Mal mit anzüglichen Kommentaren und verstehendem Gelächter begleitet wurden. Der Abend lief! Alkohol in allen Prozent-Varianten floss reichlich, die Macho-Sprüche wurden von Minute zu Minute deftiger, die Aussprache feuchter und die Kommunikation lalliger. Auch die Mädels ließen nichts anbrennen und hielten konsequent mit. Schon bald hatten sich die Geburtstagsgäste und die übrigen Kneipengänger verbrüdert, und alle fanden es geil, auf lau essen und trinken zu können. Das regelmäßige „Hoch soll er leben", immer verknüpft mit einem kräftigen Schluck Stoff, steigerte sich im Laufe der Nacht von einigermaßen melodiösem Gesang bis zu stakkatoartigem Gegröle, das mit dem eigentlichen Geburstagssong nur noch wenig zu tun hatte.

    An was sich Alex über diese Fragmente hinaus noch erinnern konnte, war eigentlich nichts. So hatte er auch keinen blassen Schimmer, wie spät es war, wo er war und wie er an diesen Ort gekommen war, als ihn ein penetrantes Gedudele aus dem Koma riss. Immerhin erkannte er „Dirty Picture". von Taio Cruz. Aber es dauerte einige weitere Sekunden, bis er realisierte, dass es sein Handy war, das da nervte, weil er sich gerade erst gestern den neuen Klingelton runtergeladen hatte. Mühsam stützte er sich hoch und versuchte, einäugig und zitternd, sich auf den Button mit dem grünen Telefon zu konzentrieren. Und ihn zu drücken. Was er immerhin schon beim vierten Mal schaffte.

    „Hallo, wer stört?" Mehr war nicht drin, weil seine Zunge am Gaumen klebte und jedes weitere Wort nur unverständliches Gekrächze wurde.

    „Herzlichen Glückwunsch, mein Junge. Alles Gute zu deinem Geburtstag."

    Tante Thea! Mühsam öffnete er auch das andere Auge und erkannte im Suff-Nebel einen altmodischen Radiowecker, der links von ihm auf einer Art Nachttisch stand und von Unmengen von Zeitschriften, Büchern, Pillen und anderem Sammelsurium umzingelt war. Was ihm ebenso wenig bekannt vorkam wie die Ansammlung von Ikea-Möbeln, die herunterhängende einsame Birne als Lampenersatz, die herumliegenden Klamotten, der intensive Chanel No. 5-Duft – und die Frau, die neben ihm in zerwühlten Kissen und Laken auf dem Bauch lag. Nackt. Der Elektroschocker, der bei dieser Erkenntnis durch seinen Körper zuckte, machte ihn schlagartig wach. Er riss ungläubig beide Augen auf und sah noch mal hin. Und noch mal. Kein Zweifel. Sie war nackt. Und zeigte ungeniert, was sie zu bieten hatte. Und das war, fand Alex, so viel, dass es ihm im Moment völlig egal war, dass Tante Thea immer ungehaltener versuchte, sich bemerkbar zu machen. Die Unbekannte war auch durch das Handy wach geworden und reckte sich demonstrativ lautstark. Und zeigte dabei noch mehr. Jetzt verschlug es Alex auch noch die restliche Sprache.

    „Warum antwortest du denn nicht? Und was ist das für ein komisches Geräusch im Hintergrund? Hast du jetzt einen Hund?" Tante Thea hatte supergute Ohren, die im Laufe der Jahrzehnte zwar immer größer, aber leider kein bisschen schlechter geworden waren. Er riss sich von dem Wahnsinnsbild los.

    „Ach nichts, Tantchen. Alex musste sich mehrfach räuspern, um wieder normal sprechen zu können. „Das ist gar nichts. Auch kein Hund. Ich war nur noch im Halbschlaf, und darum habe ich wahrscheinlich gegähnt. Entschuldige bitte.

    „Aber es ist halb drei. Da sind doch anständige Menschen längst aufgestanden. Und du lümmelst dich noch im Bett herum. Und das an deinem Geburtstag! Schämst du dich nicht?" Tante Theas Stimme bekam wieder diesen gnadenlosen Gouvernanten-Ton, den er so hasste.

    Die Unbekannte hatte sich inzwischen aufgesetzt und präsentierte ein attraktives Gesicht mit wunderbar intensiven Augen, eine strubbelige Löwenmähne und, auch von der Vorderseite, einen irre reizvollen Body. Er schaute sie an, legte den Zeigefinger auf den Mund und zeigte auf das Handy. Sie schaute ihn verständnislos an und blubberte trotz dieses eindeutigen Zeichens so schrill los, dass er zuerst unwillkürlich den Kopf einzog, dann die Augen zukniff und als Zeichen des beinahe körperlichen Schmerzes sein Gesicht verzog. Schön ist eben eine Seite, doof die andere.

    „Du, Alex, das war eine geile Nacht. Du warst zwar ein bisschen breit, aber so richtig wuschig." Dabei machte sie eindeutige Bewegungen, was sie unter wuschi. verstand, und Alex befürchtete schon, dass sie über ihn herfallen würde. Und das, wo Tante Thea alles mithörte. „Wollen wir es uns heute nicht so richtig gemütlich machen und im Bett bleiben?" Immerhin, schoss es ihm durch den Kopf, hatte sie ihm eines voraus. Sie kannte seinen Namen, während er nicht mal ansatzweise wusste, mit wem er es zu tun hatte und wie er mit ihr hierher gekommen war.

    „Ist da wer bei dir? Tante Thea meldete sich wieder zu Wort. Misstrauisch. „Da ist doch wer! Eine Frau, oder? Das ist doch eine Frau!

    „Nein, nein, Tantchen, da ist niemand. Wie kannst du so was auch nur annehmen? Das muss eine Störung in der Leitung sein. Ich habe auch schon vermutet, dass du Besuch hast."

    „Papperlapapp. Natürlich habe ich keinen Besuch. Schließlich sind wir doch zum Kaffee verabredet."

    In diesem Moment begann die unbekannte Schönheit, seinen Körper zu erforschen. Nicht mal eben berührend, sondern systematisch und im Doppelpack. Per Hand und per Zunge. Zone für Zone, Körperteil für Körperteil. Vertiefung für Vertiefung. Normalerweise hätte er das total geil gefunden, sich abwartend entspannt auf den Rücken gelegt und mit geschlossenen Augen verfolgt, wo genau seine Nervenbahnen verliefen und wohin die Stimulation ihn trieb. Aber jetzt, mit Tante Thea am Ohr und der Beautyqueen an den übrigen Stellen seines Körpers, kämpften Empfinden und Pflichtbewusstsein erbittert gegeneinander. Und das war ein total unfairer Fight. Unter Aufbietung des letzten bisschens Energie stieß er sie weg und versuchte gleichzeitig, dies mit Gesten zu erklären. Die Streichelkatze sah ihn aber nur verständnislos an, drehte sich weg und kuschelte sich beleidigt in ihre Ecke. Blöd gelaufen.

    „Du weißt schon, dass wir um drei zum Kaffee verabredet sind, nicht wahr, mein Junge?"

    Tante Thea zeigte sich erbarmungslos. Vielleicht auch, weil sie ahnte, dass er entgegen seiner Beteuerungen doch nicht allein war und sie immer schon so penetrant ehrlich und gewissenhaft war. „Verabredung ist ein Versprechen, hatte sie ihm immer eingetrichtert, „und Versprechen muss man einhalten. Egal was es kostet. Und Pünktlichkeit gehört nun mal dazu. Das ist einfach so.

    Alex startete einen letzten Versuch, dem unerbittlichen Diktat seiner Tante zu entkommen. „Du, Tantchen, können wir das nicht verschieben? Auf nächsten Sonntag zum Beispiel. Dann hätten wir doch auch viel mehr Zeit für uns."

    „Weißt du, mein Junge, ich habe schon auf unser sonntägliches Mittagessen verzichtet, weil ich ja verstehe, dass du feiern wolltest und es gestern Abend etwas später werden würde. Aber zu unserer Kaffee-Verabredung erwarte ich dich! Ich habe extra einen Kuchen gebacken. Und ein Geschenk habe ich natürlich auch. Das wird dir gefallen. Ganz sicher. Also. Alex sah förmlich vor sich, wie Tante Thea ihre alte Kuckucksuhr anpeilte und den weiteren Ablauf des Nachmittags durchging. „Es ist jetzt zehn nach halb drei. Bitte sei um halb vier hier. Und nächsten Sonntag sehen wir uns doch sowieso zum Mittagessen. Wie jeden Sonntag. Bis gleich, mein Junge. Und bitte sei pünktlich.

    Damit legte sie auf, und Alex’ Blick wanderte ratlos zwischen seinem Handy und der Schönheit hin und her, die ihm jetzt wieder ihren makellosen Rücken plus aufregender Verlängerung nach unten präsentierte. Wenn ihm je eine Entscheidung schwergefallen war, dann diese. Er ergab sich Tante Thea.

    POSITION 52°22’33.21N – 9°43’55.24E –

    HANNOVER/DEUTSCHLAND

    VIER. TANTE THEA.

    ZWANZIG NACH VIER. Endlich stand Alex Bergmann vor der hochherrschaftlichen Gründerzeit-Villa, aus dessen Obergeschoss heraus seine Tante, jedenfalls solange Alex denken konnte, die Familie regierte. Wer in dieser Gegend wohnte, war aus dem Gröbsten raus und in der Lage, sein Leben nach eigenem Gusto zu gestalten. Geld spielte da am allerwenigsten eine Rolle. Und genau das lebte Tante Thea. Immer Grand Dame. Immer etepetete. Immer wichtig. Früher hatte sie seine Eltern vereinnahmt. Jetzt ihn. Dabei ging sie nicht wirklich dominant vor, eher subtil. So spielte sie die Rolle der hilflosen alten Dame unbestritten oscarreif. Und die perfekt inszenierte Leidensmiene aktivierte garantiert innerhalb kürzester Zeit jedes schlechte Gewissen eines Gesprächspartners. Und wenn das alles nichts half, wurde eben laut darüber sinniert, dass sie gerade gestern noch darüber nachgedacht hätte, ihr Erbe neu zu ordnen. Die umfangreiche Spende für den Tierschutzbund fiel ihr eigentlich jedes Mal ein. Manchmal auch Greenpeace, die „doch wirklich eine anspruchsvolle Aufgabe hätten." Und spätestens dann zeigte das Wirkung. Natürlich hatte jeder Verständnis für die Notwendigkeit, diese Organisationen großherzig zu unterstützen, aber musste es gleich diese Größenordnung sein? Und gab es nicht auch noch andere Bedürftige? In der Familie zum Beispiel.

    Die letzte Stunde war Stress pur gewesen. Zunächst hatte er Sabine – irgendwie hatte er dann doch noch rausbekommen, dass die Schöne der Nacht Sabine hieß und eigentlich mit seinem besten Freund Andreas gekommen war – erklären müssen, warum seine Erbtante ausnahmsweise wichtiger war als sie. Was ihn zwar viel Zeit gekostet hatte, aber letztlich nicht besonders überzeugend gelungen war. Denn trotz aller Erklärungen und Vertröstungen hatte sie sich sogar geweigert, ihn zu seinem Auto zu fahren, das, ein bisschen Erinnerungsvermögen war inzwischen zurückgekommen, noch vor seiner Stammkneipe in der Südstadt stand. Danach hatte er kostbare Minuten vertändelt, seine Klamotten zusammenzusuchen, denen er sich in der letzten Nacht ganz scheinbar ziemlich überhastet und ungeschickt entledigt hatte. Jedenfalls markierten sie wirr verstreut den Weg von der Eingangstür zum Schlafzimmer. Sabine hatte geschmollt. Immerhin hatte sie ihm noch einen Zettel mit einer Telefonnummer aufs Bett geworfen und „kannst mich ja mal anrufen" gemurmelt, bevor sie im Badezimmer verschwunden war, um ihn für den Rest seiner Anwesenheit mit Abwesenheit zu bestrafen. Der linke Strumpfwar verschollen geblieben, so dass er schließlich den rechten in die Hosentasche gestopft hatte und ohne Strümpfe in die Schuhe geschlüpft war. Das Problem intensiver Ausdünstungen war in der Eile allerdings nicht mehr zu lösen, zumal er nicht mal genau orten konnte, ob sie aus der Kleidung, aus dem Hals oder aus seinen Poren strömten. Schwer war auch die erste Orientierung gewesen, da er nach wie vor keinen blassen Schimmer gehabt hatte, wo er eigentlich gelandet war. Erst nach diversen Runden durch kleine, kuschelige Wohnstraßen hatte Alex eine der grünen Straßenbahn-Haltestellen gefunden und festgestellt, dass Sabine ihn nach Laatzen entführt hatte. Was eigentlich äußerst praktisch war, weil er so auf dem Weg zu Tante Thea an seiner Wohnung vorbeigekommen war und seinen Wagen mitnehmen konnte.

    Was sich allerdings in der praktischen Umsetzung als böse Falle erwiesen hatte. Die Bahn war glücklicherweise schon nach wenigen Minuten gekommen, und die Fahrt nur kurz gewesen. Er hatte quasi schon die Fahrertür seines Wagens aufgeschlossen und beim Blick auf die Uhr erleichtert festgestellt, dass er doch noch einigermaßen pünktlich bei Tante Thea aufschlagen würde, als ein Mann im Sturmschritt auf ihn zugewalzt kam. Typ Neandertaler. Verfilzte, schulterlange Zottelhaare, zusammengehalten durch eine speckige lederne Ernst-Thälmann-Mütze, asymmetrisch sprießender Drei- bis Fünf-Tage-Bart, entgleiste Gesichtszüge mit wutgeröteten Augen, bis zum Bauchnabel offen stehendes Hemd, das einen Waschbrettbauch in der Variante „stark behaarte XXL-Fettwülste" präsentierte, die Hose unterm ausgeprägten Bauchlappen schlabbernd und kurz davor, ganz runterzurutschen. Dazu Badelatschen an grauen, ungepflegten Füßen mit ausgeprägter Hornhaut und gelbbraunen, verbogenen Fußnägeln. Dafür Oberarme wie überdimensionierte Schraubzwingen und ein Hals, der in Form und Ausdehnung durchaus als Stütze einer Autobahnbrücke dienen könnte. Spätestens aber an der dicken Goldkette mit dem schwingenden Adler, die ihm um den Hals schlabberte, hatte ihn Alex erkannt. Manni. Der Wirt seiner Stammkneipe, in der er letzte Nacht seine Geburtstagsorgie gefeiert hatte. Blöderweise war der wohl genau in dem Moment am Fenster gewesen, als Alex erleichtert seinen Wagen entdeckt hatte, um dann wie ein Berserker quer über die Straße zu schießen und mit der ihm eigenen rauchigen, versoffenen Stimme so durchdringend seinen Namen zu grölen, dass jeder zufällig vorbei schlendernde Passant zusammengezuckt war, den Kopf zwischen die Schultern gezogen und Gummi gegeben hatte.

    „Na, Alter. Haben wir’s vielleicht ein bisschen eilig, wie? Alex sah ihn total überrascht und überrumpelt an. „Nix da, Alter, du bleibst hier und rührst dich erst wieder vom Fleck, wenn ich es sage, verstanden?

    Bevor Alex überhaupt reagieren und dem ersten Fluchtimpuls folgen konnte, hatte der Wirt ihn mit seinem rechten Schraubzwingen-Arm bereits an seinem BMW festgenagelt, während er in der linken Faust ein zerfleddertes Blatt Papier hielt und ihm damit unbeherrscht vor der Nase herumwedelte. Alex hatte noch versucht, mit schlangenartigen Bewegungen aus der Fesselung freizukommen, damit aber lediglich bewirkt, dass die Schraubzwinge ein paar Pound stärker angezogen wurde und ihm jetzt Mannis Achselschweiß scharf in die Nase stieg.

    „Wenn ich es sage. Capito?"

    Alex hatte in dem ihm gewährten engen Bewegungsradius auf das Papier geschielt, um zu erkennen, um was für ein Schreiben es überhaupt ging, aber als er es dann erkannt hatte, war es ihm nur noch siedendheiß über den Rücken gelaufen. Die Rechnung von letzter Nacht! Die hatte er total ausgeblendet.

    „Na, Alter. Hast du nicht was vergessen? Manni hatte immer noch gewedelt. „Die Kohle! Die von letzter Nacht vielleicht? Oder hast du etwa gedacht, das geht alles aufs Haus? D-r-e-i-t-a-u-s-e-n-d-e-i-n-h-u-n-d-e-r-ta-c-h-t-u-n-d-a-c-h-t-z-i-g Mäuse und ein paar Zerquetschte, mein Lieber. Ohne Trinkgeld, versteht sich.

    Na super. Dieser Chaos-Sonntag war wohl noch nicht zu Ende. Das war so ein richtiges Sahnehäubchen, hatte er gedacht, und im gleichen Moment die Zähne zusammengebissen, weil Manni seinen Schraubzangengriff noch mal nachgezogen hatte und der Schmerz bis in die Schulter geschossen war. Einen kleinen Moment lang hatte er wirklich geglaubt, der Wirt wollte ihn verarschen und einen seiner bekannten, aber immer irgendwie missglückten Jokes machen. Aber spätestens, als er ihm in die Augen gesehen hatte, war es klar gewesen. Das Ganze war bitterer Ernst. Der Typ hatte wirklich die Kohle von ihm gewollt. Und zwar ganz offensichtlich sofort. Scheinbar hatten letzte Nacht alle gemeint, eingeladen zu sein und ungeniert auf seine Kosten gefressen und gesoffen.

    „Na Alter, sach mal was. Oder hat es dir die Sprache verschlagen? Dreitausendeinhundertachtundachtzig Mäuse. Die paar Zerquetschten schenke ich dir. Aber der Rest ist fällig. Und zwar sofort. Eher kommst du hier nicht wech."

    Es hatte diverse Wortwechsel, Verhandlungsrunden, Beschimpfungen und Beschwichtigungsversuche gedauert, bis sich Manni endlich bereit erklärt hatte, einen Schuldschein zu akzeptieren. „14 Tage und keinen Tag länger gab er Alex Zeit, die 3148 Euro +1 % Zinsen pro Tag zu bezahlen. „Danach Alter… Manni hatte zwar eine typische Handbewegung quer über den Hals gemacht, aber letztlich offen gelassen, was danach folgen würde. Aber vorstellen konnte Alex sich eventuelle Konsequenzen schon. Allerdings nicht, wie er innerhalb von 14 Tagen das Geld aufbringen sollte. „Nichts für ungut, Alter, das verstehst du doch, oder? Schließlich muss ich ja auch leben," hatte der Wirt noch genuschelt, bevor er ganz zufrieden mit sich in seine Kneipe zurückgeschlurft war.

    Immerhin hatte er dann direkt vor Tante Theas Haus im Hindenburg-Viertel einen Parkplatz gefunden und die wie immer auf Hochglanz polierte Messingklingel malträtiert. Die Reaktion hatte dann nicht lange auf sich warten lassen. Tante Thea musste direkt neben dem Türdrücker gewartet haben.

    „Alexander? Alexander nannte sie ihn immer, wenn sie sauer war. Oder wenn er mal wieder was anderes tat, als sie sich vorgestellt hatte. „Ach bist du auch schon da? Hatten wir nicht halb vier gesagt? Oder vielleicht doch zwanzig nach vier? Wann lernst du es endlich, pünktlich zu sein. Bei deiner Arbeit kannst du doch auch nicht kommen und gehen, wann du willst. Oder? Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige, mein Lieber.

    Seine Tante hasste Unpünktlichkeit. Das passte nun mal nicht in ihr sehr konservativ angehauchtes Weltbild, das sie hingebungsvoll pflegte. „Ich bin aufgehalten worden, Tantchen. Unbewusst hatte er sich so weit vorgelehnt, dass seine Lippen fast das unsichtbare Mikrophon der Gegensprechanlage berührten. „Ich konnte wirklich nichts dafür. Das war höhere Gewalt. Ehrlich. Immerhin war das keine Lüge, denn schließlich waren es wirklich erschwerte Bedingungen gewesen, die seinen Weg bis hierher gesäumt hatten.

    „Nun schrei doch nicht so. Oder meinst du, ich bin schwerhörig?" Irgendwie hatte Alex das Gefühl, dass Tante Thea trotz ihrer Meckerei in sich hinein grinste. Wahrscheinlich versuchte sie mal wieder, ihm deutlich zu machen, dass er sie vernachlässigte. Was ja im Grunde stimmte.

    „Willst du eigentlich da unten Wurzeln schlagen?" Alex war so sehr in Gedanken versunken, dass er nicht mitbekommen hatte, dass seine Tante bereits den Türöffner drückte. Er stieß die Tür auf und stand in dem beeindruckenden Flur aus altehrwürdigen Fliesen, künstlerisch gestalteten Wandkacheln, Stuck, Spiegeln und kristallenen Lüstern. Ohne jegliches Staubkorn. Hier funktionierte das Personal noch. Alex fühlte sich j edes Mal wieder in ein Museum versetzt und suchte automatisch nach filzenen Museums-Puschen. Der Fahrstuhl in den zweiten Stock war zwar altersschwach und ratterig, hatte aber die gleiche penibel-elegante Ausstrahlung wie alles hier.

    Oben angekommen, stand Tante Thea bereits erwartungsvoll in ihrer Wohnungstür. Dunkelblaues, knielanges Kostüm, Rüschenbluse mit perfekt gebundener Schleife, sorgfältig gepflegte Pumps natürlich mit Absatz, perfekt frisiert, Haarknoten mit mordinstrumentartiger Brilli-Haarnadel, Sonntags-Brosche, mit farblich zum Kostüm passendem Halbedelstein. Würdevoller ging es nicht.

    „Noch mal, herzlichen Glückwunsch, mein Junge. Alles erdenklich Gute zu deinem Ehrentag. Sie war im Begriff, ihn an ihren üppigen Busen zu ziehen, stockte aber mitten in der Bewegung und beäugte kritisch sein zerknittertes Outfit. „Wie siehst du denn aus? Und wo kommst du eigentlich her? Missbilligung wäre ein Kosewort für den Blick gewesen, mit dem sie ihn strafte.

    „Und dieser Gestank! Bist du in die Müllgrube gefallen, oder was? Da war er wieder, dieser missbilligende Gouvernantenblick. „Alexander, ich verstehe dich nicht. Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du mehr auf dein Äußeres achten musst. In diesem Aufzug zu deiner Tante zu kommen. Ich glaube es einfach nicht! So wirst du es nie zu was bringen!

    Sie zog ihn mit spitzen Fingern in den Flur. „Du duschst jetzt erst mal! Und dann lege ich dir ein paar Sachen von Onkel Herrmann hin. Die muss ich noch irgendwo haben. Onkel Herrmann war ihr Bruder, der sich vor über zehnJahren von dieser Welt verabschiedet hatte. „Aber beeil dich, der Kaffee wird sonst noch ganz kalt.

    Eine Viertelstunde später kam Alex wohlduftend ins Wohnzimmer und war sich bewusst, dass er wahrscheinlich wie ein Clown aussah. Onkel Herrmann war ungefähr zwanzig Zentimeter kleiner als er gewesen, dafür aber doppelt so dick. Aber Oversize, so hatte er gerade in einem Männermagazin gelesen, war absolut in. Und dass die Hose nur durch den Gürtel gehalten wurde, konnte man ja nicht erkennen, weil er Onkel Herrmanns abenteuerlich gestreiftes Holzfällerhemd über der Hose trug. Und dass sie viel zu kurz war, konnte schließlich ein neuer Modetrend sein. Hatte das nicht auch in dem Fashion-Teil gestanden?

    „Na, das sieht doch schon viel besser aus. Der Blick seiner Erbtante ruhte wohlwollend auf ihm. „Jetzt siehst du auch aus wie 33. Und nicht wie ein Penner vom Hauptbahnhof. Ich habe dir übrigens ein frisches Taschentuch in die Hosentasche gesteckt.

    Tante Thea hatte drei große Schwächen. Die erste waren frische Stofftaschentücher, die sie ihm zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen schenkte, und zwar grundsätzlich im Sechser-Pack. Sie war fest davon überzeugt, dass ein Gentleman – sie sagte immer Schentelmä. und verpackte das Sc. gern in sprühende Spucketropfen – als Allererstes an einem frischen Kavalierstüchlein zu erkennen war. Und darum ließ sie es sich auch nicht nehmen, ihren Teil dazu beizutragen, dass Alex als solcher zu erkennen war. Allerdings „vergaß" er dann doch ziemlich häufig, eines dieser blütenweißen Stoffteile einzustecken, weil es ihm irgendwie peinlich war, so ein Ding rauszuholen und zu benutzen. Schentelmä. hin oder her. Er glaubte einfach nicht daran, dass ein ganz normales Taschentuch derart magische Kräfte hatte, als Eintrittskarte zum Großbürgertum zu dienen. Und er konnte sich das Gejohle vorstellen, das aufheulen würde, wenn er in seiner Stammkneipe eines davon rausholen würde. Allerdings bezweifelte er, dass seine Kumpels überhaupt wussten, was so ein edles Taschentuch war. Und so stapelten sich diverse 6er-Taschentuchpackungen ungebraucht im hintersten Teil seines Kleiderschranks. Vermutlich gehörte auch das Taschentuch, das jetzt sorgfältig gefaltet in Onkel Herrmanns Altmänner-Hosentasche steckte, zur erlesenen Auswahl seiner Geburtstagsgeschenke. Die restlichen fünf waren wieder fein säuberlich eingepackt worden und warteten nun auf feierliche Übergabe.

    Ihre zweite große Schwäche war er, Alex. Im Grunde war er sogar ein Großteil ihres täglichen Lebenselixiers. Bei jedem Telefonat oder Besuch spürte er, wie wichtig er für seine Tante war, auch wenn sie das nie zugeben würde. Es waren die kleinen Gesten, Blicke und Worte, die sie verrieten. Und auch, wenn ihm viele ihrer gepredigten Ideale auf den Geist gingen, fühlte er sich umgekehrt auch zu ihr hingezogen. Schließlich war sie, ausgenommen ein paar versprengte und sehr weit entfernte Verwandte, seine Familie.

    „Aber nun setz dich doch erst mal. Und während sie aus der Maria-Weiß-Kanne dampfenden Kaffee einschenkte, ging sie ihm mit ihrem typischen Gefrage weiter auf die Nerven. „Wie war denn dein Geburtstag bisher? Hast du schön gefeiert? Haben viele Freunde angerufen und gratuliert? Und war auch die eine oder andere Frau dabei?

    Das willst du gar nicht wirklich wissen, Tantchen, dachte Alex, denn dann würdest du mich wahrscheinlich mit Schimpf und Schande aus dem Haus jagen. Dann laut: „Angerufen nicht. Aber Glückwünsche habe ich jede Menge bekommen. Ich habe ein paar Freunde und Freundinnen", Freundinne. betonte er besonders deutlich, „eingeladen und reingefeiert. Es ist dann ein wenig später geworden. Und darum auch mein ramponiertes Outfit, fügte er entschuldigend zu, „so ’ne Feier ist schon ziemlich anstrengend. Ewig klopft dir einer auf die Schulter, und immer musst zu mittrinken. 33 ist eben eine Schnapszahl. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und darum, ließ er ganz unterschwellig einfließen, „war der Abend auch ziemlich teuer. Über 3000 Euro. Kannst du dir das vorstellen, Tantchen? 3000 Euro. Die haben scheinbar alle geglaubt, sie könnten sich auf meine Kosten volllaufen lassen und sich den Bauch vollhauen."

    „Na ja, Alex, zum Glück verdienst du ja gut, sonst würdest du dir ja solche Feiern nicht leisten können."

    Alex schluckte. Das lief in die falsche Richtung! Und das Blödeste war, dass er mal wieder nicht einschätzen konnte, ob sie sein Problem nun unbewusst überhört oder bewusst ignoriert hatte. Der kritische Blick sollte ihm aber wohl wieder mal verdeutlichen, dass sie ja immer schon gewusst hatte, dass sein Weg nicht der richtige war. Denn sonst wären die 3000 Euro ein Fliegenschiss. So ganz nebenbei hatte sie ihm also mal wieder verklickert, warum er von ihr abhängig war, aber auch, dass sie ihn schon auf den richtigen Weg schicken würde. Genial, Tantchen, genial. Elegant ging sie über das kurze, aber vieldeutige Schweigen hinweg.

    „Ach, ihr jungen Leute. Ihr habt es gut. Wenn ich damals so was gemacht hätte, hätte mich mein Vater mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt." Sie untermauerte ihre Erinnerungen mit ausladenden Gebärden, so dass man nicht besonders viel Fantasie brauchte, um erraten zu können, welche Maßnahmen ihr Vater sonst noch ergriffen hatte, um seine aufmüpfige Tochter in den Griff zu bekommen.. Dann stand sie ächzend auf, nahm die wie immer griffbereite Eierlikörflasche – Eierlilör war ihre dritte große Schwäche – und zwei Gläser vom Vertiko und stellte beides vor Alex auf den Tisch. Dabei umschiffte sie elegant den DIN-A4-Umschlag, der vor ihr lag und der offensichtlich im Laufe des Nachmittags noch eine Rolle spielen würde. Alex hatte schon die ganze Zeit möglichst unauffällig zu ihm rübergeschielt, aber so sehr er sich auch bemühte, der Aufdruck auf dem Umschlag verriet nicht das Geringste über den Inhalt. Alex öffnete den Schraubverschluss, klopfte, um die Fließgeschwindigkeit zu erhöhen, auf den Flaschenboden und schenkte dann, als die gelbe, zähe Flüssigkeit endlich floss, reichlich ein. Schon, um sich nicht wieder den Vorwurf anhören zu müssen, dass nicht voll gefüllte Gläser Geiz signalisieren würden. Und hier im Hindenburg-Viertel war Geiz ein ungern gesehener Gast.

    „Noch mal herzlichen Glückwunsch, mein Junge. Alles Gute. Vor allem hoffe ich, dass du es schaffst, deinen Weg zu finden. Der Eierlikör zauberte Tante Thea wie immer diese unwiderstehliche Jungmädchen-Röte ins Gesicht. So als ob die sündigen Erinnerungen an die Eierlikör-Sausen früherer Tage im Zeitraffer vor ihr ablaufen würden. „Ach komm, mein Junge, einen können wir noch. Du hast es ja schon gesagt. 33 ist eine Schnapszahl, und da darf man doch mal über die Stränge schlagen.

    Tante Thea wurde jetzt richtig übermütig und konnte es kaum erwarten, auch noch das zweite Eierlikörchen zu vernichten. Dabei folgte sie jedes Mal dem gleichen Procedere: Erst nippen, dann kippen und die Neige schließlich mit der Zunge rausschlürfen, bis das Glas schliefenfrei rein war. Und natürlich musste er dann auch noch einen dritten einschenken, bevor endlich der geheimnisvolle Briefumschlag dran war. Sie nahm ihn in beide Hände und hielt ihn vor sich wie die Heiligen Drei Könige ihre Gastgeschenke im Stall von Bethlehem. Irgendwie hatte Alex das Gefühl, dass sie noch was sagen wollte, aber sie ließ es und legte ihn würdevoll vor Alex auf den Tisch. Das strahlende, erwartungsvolle Lächeln formten dabei ihre diversen Gesichtsfalten zu einem liebenswürdigen Gesamtkunstwerk.

    „Das, mein Junge, das ist dein Geburtstagsgeschenk. Nun mach’s schon auf!"

    Alex drehte den ziemlich dicken Umschlag von links nach rechts und wog ihn in der Hand, hatte aber keinen blassen Schimmer, was das sein könnte. Ein Buch? Ne, zu dünn. Ein Brief? Ne, zu dick. Eine CD? Zu groß.

    „Nun mach schon! Tante Thea war deutlich ungeduldiger als er und fuchtelte hektisch mit einem Brieföffner vor seiner Nase herum, so dass er instinktiv in Deckung ging. „Nun mach schon!

    Bereits ein wenig genervt, setzte er das künstlerisch verzierte Metallteil an, schlitzte den Umschlag auf und zog eine sonnengelb-blaue Sammelmappe heraus. Als er sie öffnete, fiel ihm eine Postkarte entgegen und segelte auf den überdicken Orientteppich. Stönend bückte sich Alex nach ihr, und prompt rutschte ihm auch noch der Rest des Umschlags vom Schoß. Er ging in die Knie, sammelte alles zusammen und legte den Stapel Papier auf den Tisch. Oben drauf lag die Postkarte. Sie zeigte die Abbildung eines Bootes. Na ja, eher die eines Schiffes. Eines Kreuzfahrtschiffes. Strahlend weiß mit sonnengelben Streifen. Und einem Riesen-Schornstein, auf dem das gleiche Logo prangte wie auf der Mappe, die sein Geburtstagsgeschenk sein sollte. Er versuchte, den Schiffsnamen zu entziffern. E-U-P-O-R-I-A. Noch immer konnte Alex sich nicht vorstellen, was das Ganze sollte. Er nahm die tiefblaue Mappe, offensichtlich der Grund dafür, dass der Umschlag so dick gewesen war, und blätterte darin. Langsam begann ihm zu dämmern, was Tante Thea ihm da geschenkt hatte. Eine Reise. Die Reise auf einem Kreuzfahrtschiff. Gott wie grässlich. Allein unter scheintoten und kranken Menschen. Jeden Tag vier Mal umziehen. Abends Smoking und so. Ständig Konversation treiben. Und immer seekrank. Nein, nicht auch das noch. Der Tag hatte es wirklich in sich. Dicker Kopf. Traumfrau Sabine. Albtraum Manni. Und jetzt auch noch eine Kreuzfahrt!

    Kaum dass er seine Gedanken sortiert hatte, meldete sich Tante Thea wieder zu Wort. „Mein Geschenk für dich ist eine Kreuzfahrt, mein Junge. Eine Kreuzfahrt auf dem besten Kreuzfahrtschiff der Welt. Auf der MS EUPORIA. Von Lautoka nach Honolulu. Das liegt im Südpazifik. Und das Allerbeste: es geht schon in drei Wochen los. Da wirst du endlich mal unter Menschen sein, die wirklich zu dir passen. Und von denen du viel lernen kannst. Sie sah ihn erwartungsvoll an und war offensichtlich enttäuscht, dass er nicht vor Freude an die Decke sprang. „Freust du dich denn gar nicht?

    „Aber ich habe doch gar keinen Urlaub, Tantchen, versuchte Alex das offensichtliche Unglück abzuwenden. „Vielleicht können wir ja die Reise auf später verschieben. Und außerdem, so eine Reise ist doch furchtbar teuer.

    „Ach was, mit deinem Chef habe ich schon gesprochen. Der ist einverstanden. Und das andere lass man meine Sorge sein. Sie stand wieder auf und holte noch einen Umschlag vom Vertiko. Kleiner und dünner als der erste. „Und hier ist noch ein bisschen Geld. Schließlich musst du ja auch noch Bares haben. Für Nebenkosten, Landausflüge und so. Sonst macht so eine Kreuzfahrt doch gar keinen Sinn.

    Alex ergab sich und warf einen kurzen Blick in den Umschlag. Drei violette 500er leuchteten ihm entgegen. Na, das war doch mal was.

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