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Der Kuss der Medusa: Phantastischer Roman aus der Eifel
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Der Kuss der Medusa: Phantastischer Roman aus der Eifel
eBook254 Seiten3 Stunden

Der Kuss der Medusa: Phantastischer Roman aus der Eifel

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Über dieses E-Book

Eigentlich scheint Malte Wallbusch bereits in jungen Jahren alles erreicht zu haben, was man sich nur erträumen kann: Die eigene Firma, den Porsche, die ehemalige Miss Eifel an seiner Seite und ein romantisches altes Haus auf dem Lande. Sein vierzigster Geburtstag soll ein rauschendes Fest werden - aber es erscheinen nicht nur willkommene Gäste. Brigitte, die er vor Jahren hat sitzen lassen, brüskiert die Gesellschaft und hinterlässt bei ihrem Abgang unbemerkt eine kleine metallene Medusenplakette
Unmerklich kriechen von da an finstere Schatten über Wallbuschs Leben, aber erst als er bei der Renovierung seines alten Hauses auf die die Plakette stößt und sie entfernt, verwandelt sich sein Leben vom einen auf den anderen Moment in eine Hölle ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Juli 2019
ISBN9783954415038
Der Kuss der Medusa: Phantastischer Roman aus der Eifel

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    Buchvorschau

    Der Kuss der Medusa - Uwe Voehl

    Auferstehung

    I. Erweckung

    Brigitte sah einfach umwerfend aus. Sie saß im Schneidersitz auf dem Kies, nur einen Meter von mir entfernt. Zum ersten Mal konnte ich sie völlig ungeniert betrachten – wenn auch nur von hinten. Ihre wilde, rote Haarmähne leuchtete, weil die Flammen des Lagerfeuers darin tanzten.

    Ihre Haare waren es, die mich von Anfang an fasziniert hatten. Sie waren fein wie gesponnene Seide und in ständiger Bewegung, als würde der Wind sanft über sie streichen. In Wahrheit waren sie wohl so filigran, dass sie jede noch so kleine Regung ihrer Trägerin mitvollzogen.

    Brigitte summte vor sich hin. Ich kannte die Melodie nicht. Aber sie hörte sich sehr sinnlich an. Vor allem aus Brigittes Mund.

    Mein Blick wanderte weiter hinab, ihren schlanken Hals entlang, der leicht gebräunt war und auf dem kurze, helle Härchen wuchsen. Ein kleines Muttermal setzte sich deutlich von ihrer Haut ab. Ich verliebte mich sofort in dieses Muttermal, das ich immer und immer wieder mit meinen Gedanken einkreiste.

    Ihre Schulterblätter zeichneten sich unter ihrem engen Shirt deutlich ab. Ebenso deutlich war zu sehen, dass sie keinen BH trug. Nicht wie die anderen Mädchen …

    Ich stellte mir vor, wie ich näher rückte und wie selbstverständlich einen Arm um diese schmalen Schultern legte. Wie sie sich an mich schmiegte und wir gemeinsam der Musik lauschten, die aus Axels nagelneuem Blaupunkt-Cassettenrecorder dröhnte.

    T-Rex. Da wurden alle Mädchen schwach, wenn Marc Bolans hypnotische Samtstimme sie umschmeichelte. Von Axel hatte ich gehört, dass Brigitte in Marc Bolan verknallt war und dass sie sich deshalb immer diese Glitzer-Tattoos aus der BRAVO auf die Wangen klebte.

    Das, was ich am liebsten gesehen hätte, konnte ich leider nicht erkennen: ihre unendlich langen, wohlgeformten Beine. Sie trug heute Abend wieder ihre grünen Hot Pants, die ihr sicher eine Nummer zu klein waren, was sie für mich nur noch interessanter machte.

    Es war so verdammt frustrierend. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie flüchtig das Glück sein kann. Ich musste nur den Arm ausstrecken, um es zu berühren. Aber ich wagte es nicht. Wahrscheinlich würde sie gleich aufstehen, und ich hatte die Chance wieder mal verpasst. Wie bisher jedes Mal in diesem viel zu kurzen Sommer …

    Es waren noch sechs Tage bis zu meinem vierzigsten Geburtstag. Etwas war anders als in den Nächten zuvor. Ich lauschte. Der Wind pfiff ums Haus. Genau wie schon in den vergangenen Nächten. Die Balken des uralten Hauses ächzten, vor allen Dingen im Dachstuhl. Doch auch daran hatte ich mich längst gewöhnt. Es war stockdunkel. So dunkel, dass farbige Schatten vor meinen Augen tanzten, weil ich sie zu angestrengt aufriss. Meine Finger tasteten sich zur Nachttischlampe, doch ich zögerte. Neben mir hörte ich Hannas ruhige, gleichmäßige Atemzüge. Sie schlief tief und fest. Aus irgendeinem Grunde wollte ich nicht, dass sie etwas mitbekam. Doch auch dieser Gedanke löste bei mir gleich wieder eine Flut neuer Gedanken aus. Wovon sollte Hanna nichts mitbekommen? Wovor hatte ich Angst? Schließlich und endlich bestand nur die Gefahr, mich lächerlich zu machen.

    Ein weiteres Mal, dachte ich.

    Die Leuchtdioden des Weckers standen auf 23.23 Uhr. Genau wie in der letzten Nacht. Ich glaubte nicht an Zufälle. Wohl aber an die untrügliche Macht des Unterbewusstseins. Wahrscheinlich hatte es mich exakt wieder um diese Zeit geweckt, damit ich meinen Reinfall der letzten Nacht wettmachen konnte. Ich entschloss mich, Hanna schlafen zu lassen. Schon, damit wenigstens sie sich keine Sorgen machte.

    Langsam lüftete ich die Bettdecke. Das Lattenrost knarrte kaum. Das Bett war neu. Meine nackten Füße berührten die kalten Holzdielen. Ich glaubte sogar, die einzelnen Vertiefungen darin spüren zu können. Wenn Hanna jetzt aufwachte, würde ich behaupten, zur Toilette zu müssen. Und wenn ich ehrlich war, ich hätte noch immer nicht sagen können, was mich wirklich umhertrieb.

    Während ich mich behutsam vorwärtsbewegte, lauschte ich auf Hannas Atem. Unwillkürlich atmete ich in dem gleichen Rhythmus wie sie. Ein. Und aus. Und wieder ein … Dabei hatte ich das Gefühl, dass auch der Wind in unseren Takt einfiel. Sich erhob. Und wieder verebbte. Sich erhob … und verebbte. Irgendetwas störte mich selbst daran. Auch dies, sicherlich nicht mehr als ein Zufall, ließ merkwürdige Assoziationen in mir auferstehen. Das Auf und Ab des Windes erschien mir wie ein Voyeur oder ein lästiger Besucher, der sich zwischen Hanna und mich zu drängen versuchte.

    Ich hielt den Atem an. Der Wind schwieg.

    Auch Hannas Atem hatte für einen Moment ausgesetzt. Im Schlaf drehte sie sich im Bett herum. Sie murmelte etwas, wahrscheinlich im Traum. Es klang wie »weit weg«. Das konnte ich nur unterstreichen. Wir waren weit weg. Der nächste Nachbar wohnte einen Kilometer weit entfernt. Die Straße, die zu ihm führte, schlängelte sich an unserem Haus vorbei und führte noch tiefer in den Wald hinein. Auch rechts und links befanden sich nur Wälder. Nur nach Süden hin ging es schroff den Fels hinab. Unter unseren Füßen lag Mürlenbach.

    Ich wartete, bis Hannas Atem wieder eingesetzt hatte. Obwohl ich noch immer nichts erkennen konnte, wusste ich ungefähr, wo ich mich befand. Ich tastete mich weiter vorwärts, und meine Finger bekamen die Tür zu fassen. Rasch ertastete ich die Klinke, drückte sie hinunter und öffnete die Tür nach innen. Die Scharniere waren gut geölt. Auch sie gaben keinen Laut von sich. Draußen auf dem Korridor schloss ich die Tür hinter mir. Ich atmete auf und spürte mein Herz klopfen. Der Wind war nicht mehr zu hören. Sogar das Knarren im Gebälk war verstummt. Wieder hatte ich das Gefühl, als würde das, was auf mich wartete, nur den Atem anhalten. Mehr noch als zuvor fühlte ich mich belauert.

    Ich machte Licht.

    Augenblicklich fühlte ich mich wohler. Der Korridor lag in seiner vertrauten Art vor mir. Keine wispernden Schatten, keine Gespenster. Wenn das so weiterging, würde ich noch beim Nervenarzt landen. Vielleicht lag es einfach daran, dass ich bald vierzig wurde. Unwillkürlich musste ich grinsen. Vierzig! Es hatte tatsächlich Momente im letzten Jahr gegeben, da hatte ich es mir auf grausamste Art ausgemalt, vierzig zu werden. Die Schwelle, die in meinen Augen endgültig die Tür zum Altenheim öffnete. Wenigstens hatte ich früher so gedacht. Doch je näher der Zeitpunkt rückte, desto entspannter wurde ich. Vielleicht lag es auch an Hanna. Mehr als einmal, wenn ich auf meine Ängste zu sprechen kam, hatte sie mir zu verstehen gegeben, dass sie auf alte Knacker wie mich stand. Hanna war dreiundzwanzig und bildschön. Ich konnte verstehen, dass die Männer sie vor zwei Jahren zur Miss Eifel gewählt hatten. Dabei hatte ich das Gefühl, dass sie mit jedem Jahr noch begehrenswerter wurde.

    Ich konzentrierte meine Gedanken wieder auf die Gegenwart. Eigentlich hätte ich mich nun umwenden und wieder zurück ins Schlafzimmer gehen können. Der Gedanke, mich an Hannas schlafwarmen Körper zu kuscheln, war verlockend. Aber ich wusste, dass ich dann noch immer nicht würde schlafen können. So einfach ließen sich die Schatten nicht bändigen.

    Ich ging die gewundene Treppe hinab und durch das Wohnzimmer in die Küche. Auch dort knipste ich zuerst das Licht an. Im Gegensatz zu den anderen Räumen erstrahlte hier helles, klinisches Neonlicht von den Röhren unter der Decke. Bisher hatte ich es als praktisch empfunden, doch in dieser Nacht trug es zu meiner Beunruhigung bei. Die Ecken, in die es nicht reichte, waren ebenfalls mit Schatten gefüllt, doch anders als bei normalem Licht, wenn selbst den Schatten etwas Wärme innelag, wirkten diese kalt und ihre Konturen wie mit dem Seziermesser geschnitten. Ich nahm mir vor, gleich am nächsten Tag in den Baumarkt zu fahren und für ein anderes Licht zu sorgen. Warum war uns das nicht vorher schon aufgefallen? Wahrscheinlich, weil wir bisher nicht viel Zeit in der Küche verbracht hatten. Sie war der einzige Raum, den wir weitgehend von den Vorbesitzern übernommen hatten. Bei Tageslicht wirkte die Küche sogar recht wohnlich. Die schwarz-weißen Kacheln, der riesige Kohlenofen und die altertümlich wirkenden, weißen Emaille-Waschbecken erinnerten an eine Zeit, in der wahrscheinlich noch Personal auf diesem Anwesen gelebt und für die Großgrundbesitzer gekocht hatte.

    Hanna und ich hatten bisher kaum Zeit zum Kochen gehabt. Unsere ganze Energie hatten wir in den letzten Monaten darauf verwandt, dieses Gebäude halbwegs wieder bewohnbar zu machen. Und abends waren wir meist so kaputt gewesen, dass es höchstens für den Pizzadienst oder für einen Besuch in der Dorfkneipe gereicht hatte. Zumal Hanna sowieso nicht gerade eine leidenschaftliche Köchin war. Dafür hatte sie andere Vorzüge. Sie konnte Tapeten anbringen, streichen und sogar Kabel verlegen und Lampen anschließen.

    Das kalte, neongrelle Licht spiegelte sich in den Fensterscheiben, die dadurch noch schwärzer wirkten – wie pechschwarze Spiegel, in die man versinkt, wenn man sie zu lange betrachtet. Gleichzeitig hatte ich das unbehagliche Gefühl, dass etwas mich daraus anstarrte. Etwas, das sich im Schutze der Dunkelheit verbarg. Ich musste wieder an das Geräusch denken, von dem ich geweckt worden war.

    Ich zwang mich, die Fenster zu ignorieren. Sie lagen ebenerdig, und in dieser Nacht war ich zum ersten Mal froh darüber, dass sie mit starken Gitterstäben gegen mögliche Einbrüche gesichert waren. Auch dies hatte der Vorbesitzer veranlasst; das wäre uns wahrscheinlich nicht in den Sinn gekommen.

    Ich selbst neigte dazu, sämtliche Gefahren der Welt als übertrieben zu betrachten – solange sie mich nicht selbst tangierten. Ich war in Köln geboren, aufgewachsen und hatte dort fast vierzig Jahre gelebt. Außer an den Karnevalstagen war ich nie in irgendwelche Auseinandersetzungen verwickelt gewesen. Von Einbrüchen hatte ich nur von Bekannten gehört. Ich hatte mich bisher ziemlich aufgehoben und sicher gefühlt. Um wie viel sicherer würde es da erst in der Eifel sein, hatte ich gedacht. Hanna, die in jeder Hinsicht noch weit sorgloser war als ich, hatte sogar gewitzelt, dass die häufigsten Verbrechen hier wahrscheinlich Wilddieberei und Schwarzbrennerei seien. Es war leicht, bei Tage darüber Späße zu machen. Jetzt befand ich mich in meiner eigenen Küche, es war 23.27 Uhr in der Nacht, und die nächste Polizeistation gab es wahrscheinlich erst in Gerolstein.

    Ich versuchte mich zu beruhigen. So langsam ging mir meine eigene Ängstlichkeit auf die Nerven. Wenn sich dort draußen irgendjemand herumtrieb, so hieß das nicht, dass auch irgendeine Gefahr von ihm ausging. Doch während ich zum Kühlschrank schlich und eine Afri-Cola herausholte, musste ich mir eingestehen, dass es das nicht war: Es waren keine realen Ängste, die mich aus dem Bett getrieben hatten. Nach wie vor fand ich den Gedanken, dass dort draußen möglicherweise Einbrecher herumschlichen, lächerlich.

    Es war etwas anderes, und es hatte etwas mit mir zu tun.

    Als ich in den Schubladen nach dem Flaschenöffner suchte, setzte unvermittelt der Wind wieder ein. Ich zuckte zusammen, so unverhofft begannen die Geräusche abermals ihr nächtliches Konzert. Irgendein loses Brett klapperte, der Wind pfiff und heulte, das Gebäude ächzte erneut und erinnerte an einen asthmakranken, alten Mann. Aber das alles war es nicht, was mich wie schon in der letzten Nacht aufgeweckt hatte. Es war etwas anderes – und jetzt vernahm ich es erneut. Und das Schlimmste war: Obwohl ich genau wusste, dass ich dieses Geräusch kannte, wusste ich es weder einzuordnen noch zu bestimmen. Vielleicht war es auch einfach zu leise oder zu weit weg. Doch es war laut genug, dass ich glaubte, die Haut auf meinem Rücken würde sich plötzlich in eine hauchdünne Eisschicht verwandeln. Es hörte sich an, als würde jemand summen. Eine Frauenstimme. Doch der Wind schien die Melodie wie ein Wirbel aus tanzenden Messern zu zerhacken. Meine überreizten Gehörgänge gaukelten mir vor, dass das Summen im nächsten Moment wie das eines Mannes klang, dann wieder wie die Schreie eines Babys. Konnte das sein? Lag dort draußen vielleicht irgendwo ein Säugling? Man hörte und las ja öfters davon. Zumindest in Köln. Aber meistens wurden die Neugeborenen von ihren Müttern vor irgendwelchen Krankenhäusern oder Krippen abgelegt und nicht vor einem Wohnhaus in der tiefsten Vulkaneifel. Dennoch, ich wusste, dass ich nicht wieder würde einschlafen können, bevor ich mich davon überzeugt hatte, dass ich mich irrte.

    Vielleicht war es Zufall, aber im dem Augenblick, da ich den Entschluss fasste, draußen nachzusehen, bekamen meine noch immer nach dem Flaschenöffner tastenden Finger den Knauf eines Messers zu fassen. Es gab viele Messer in den unzähligen Schubladen. Und die meisten gehörten ebenfalls dem Vorbesitzer.

    Ich zog es hervor. Der Knauf war abgegriffen und zeugte von unzähligen Einsätzen. Doch die Klinge schien nagelneu. Sie war so scharf, als sei sie gerade erst geschliffen worden und funkelte im Neonlicht gleißend auf. Das Irritierende an ihr waren jedoch die rotbraunen Flecken. Es handelte sich nicht um Rost. Vielmehr erinnerten sie an Blut. Sie waren längst getrocknet, wahrscheinlich schon mindestens ein Jahr alt, aber nichtsdestoweniger ließ meine Entdeckung die Eisschicht auf meinem Rücken dicker werden. Ich verzichtete darauf, weiter nach dem Öffner zu suchen. Stattdessen packte ich das Messer fester. Ich drehte mich um. Einen Moment lang glaubte ich, dass ein Schatten in eine der Ecken flüchtete. Und wieder schwor ich mir, die Neonröhren gleich am nächsten Tag auszuwechseln.

    Das Messer fühlte sich gut an in meiner Hand. Ich war froh, dass Hanna schlief. Wenn sie mich sehen könnte, würde das, was mir allein selbstverständlich erschien, nur lächerlich wirken. Aber war nicht die Lächerlichkeit der Anfang der Schutzlosigkeit? Nur weil wir annahmen, dass es keine Gefahren gab, mochten doch welche über unser Leben entscheiden. – Fünf Minuten zuvor hatte ich noch ganz anders darüber gedacht.

    Um nach draußen zu gelangen, musste ich noch nicht einmal zurück ins Wohnzimmer und durch den Korridor. Von der Küche aus führte eine kleine Tür in den Kräutergarten. Als wir das erste Mal die Küche inspiziert hatten, war uns gleich der muffige Geruch aufgefallen. Wir hatten die Tür zum Garten geöffnet und den ganzen Tag für Durchzug gesorgt. Der Kräutergarten selbst war uns nur eine kurze Begutachtung wert gewesen. Ich erinnerte mich an Hannas Begeisterung: »Tollkirsche, Stechapfel, ich glaub es nicht! Hier wächst sogar Bilsenkraut! Das ist kein Kräutergarten, das ist ein Hexengarten!«

    »Seit wann kennst du dich denn damit so gut aus?«

    »Tja, ich habe noch längst nicht alle Facetten meiner Persönlichkeit vor dir enthüllt«, hatte Hanna lächelnd erwidert. Dabei war sie rot geworden. Als hätte ich sie bei einer peinlichen Handlung erwischt. »Jedenfalls werde ich mir den Garten in Ruhe vornehmen, wenn wir erst mit dem Haus fertig sind.«

    »Und was willst du dann machen? Hexenkräuter und -salben daraus herstellen und vertreiben?«

    »Wer weiß? Vielleicht brauche ich es ja, um dich zu verhexen?«

    Ein paar Tage später hatte Hanna mir beiläufig am Frühstückstisch erzählt, dass sie sich tatsächlich als Jugendliche für Hexenkräuter interessiert hatte. Es war in ihrer sogenannten »Gothic-Phase« gewesen. Außer einigen Rauschzuständen hatten sie jedoch nichts weiter bewirkt, und Hanna hatte bald die Finger davon gelassen. Dennoch hatte sie sich ihr Faible für, in meinen Augen, esoterischen Unsinn bewahrt.

    Die Tür zum Hexengarten hatten wir seitdem nicht wieder geöffnet. Wir hatten einen Handwerker damit beauftragt, ein sicheres Schloss einzubauen und einen Riegel anzubringen. Wegen der Versicherung.

    Meine Gedanken kamen zurück in die Gegenwart. Der Schlüssel zur Tür hing an einem Nagel rechts daneben. Ich ergriff ihn. Es war ein schmaler, silberner Schlüssel an einem Lederbändchen, und das Schloss, zu dem er gehörte, ein spezielles Sicherheitsschloss. Warum nicht?, dachte ich. Was sprach dagegen, mitten in der Nacht auszuprobieren, ob der Schlosser auch gute Arbeit geleistet hatte? Ich legte den Riegel um, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal herum. Dann stieß ich die Tür nach außen auf und ließ die Nacht herein.

    Der Wind schlug mir so heftig entgegen, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich ihm endlich Einlass gewährte. Er kam mir nicht wie ein Naturereignis vor, sondern tatsächlich wie eine stoffliche Erscheinung. Ich hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Er zerteilte sich, raste links und rechts an mir vorbei und stieß irgendetwas in der Küche um.

    Ich stolperte vorwärts. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie unvorbereitet ich war. Der holprige Boden war feucht und nachgiebig. Meine Hausschuhe versanken im Matsch. Viel schlimmer aber war, dass ich nichts sah. Es war stockdunkel hier draußen. Und zum ersten Mal erlebte ich, was Dunkelheit in der Eifel wirklich bedeutete.

    Ich tappte blind vorwärts, immer an der Hausmauer entlang. Der Wind heulte und schrie, die lose Latte schlug den Takt dazu. Vor meinen Augen entstand ein Orchester aus lauter Skeletten, die auf schauerlichen Instrumenten den Lärm erzeugten. Und wieder war inmitten des Lärms diese Melodie zu hören. Vielleicht war sie auch nur in meinem Kopf. Die anderen Geräusche waren so laut, dass ich nicht hätte schwören können, dass ich da tatsächlich etwas hörte.

    Ich überlegte, ob ich nicht wieder reingehen und eine Taschenlampe holen sollte, als die Außenbeleuchtung anging. Ich atmete einmal tief durch. Ich hatte den Hof erreicht, und der Bewegungsmelder hatte die Lichter anspringen lassen.

    Ich schaute mich um. Hier war nichts, was irgendwie verdächtig aussah. Das holprige Pflaster des Hofs war mir inzwischen vertraut. Ebenso wie die Ruinenmauern vis-à-vis, die unser Grundstück begrenzten. Rechts befand sich das Seitenschiff, das ebenfalls mehr einer Ruine glich. Wir hatten noch nicht entschieden, was wir damit anstellen würden. Es abzureißen verbot die Denkmalbehörde. Daraus Gästezimmer zu machen, wie es Hanna vorschwebte, würde ein Vermögen kosten. Also hatten wir es erst mal so gelassen, wie es war. Gleich dahinter ging es steil hinunter nach Mürlenbach.

    Ich schaute nach links. Wenigstens diese Mauer hatten wir inzwischen instandgesetzt. Die aus Bruchsteinen errichtete Abgrenzung war mannshoch. Ein Torbogen führte nach draußen. Die Holzpforte stand offen, wie immer. Sie führte zum angrenzenden Weg.

    Es gab mehrere Gründe, warum wir kein Schloss anbrachten. Zum einen mochten es weder Hanna noch ich, uns zu verbarrikadieren. Also war die Tür zum Hof immer geöffnet. Außerdem hatte uns ein Herr Kehlmann von der Denkmalbehörde zu verstehen gegeben, dass das Anwesen durchaus auch Allgemeinbesitz war – zumindest was den Hof anging. Und dass es nur in unserem Interesse sein konnte, etwaigen Besuchern die Tür nicht zu verschließen. Da wir mit nicht unerheblichen Zuschüssen rechneten, hatten wir eingewilligt. Aber bisher hatte sich nicht ein Tourist oder Geschichtsprofessor hier blicken lassen.

    Langsam bewegte ich mich auf das

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