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Alles geschieht heute
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eBook269 Seiten3 Stunden

Alles geschieht heute

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Über dieses E-Book

"Wo bist du?"
Das weiß Wes selbst nicht immer so genau bei seinem intensiven Leben in Roman- und Vorstellungswelten. Aber am vergangenen Abend ist er von Lucy gefunden worden - gegen seinen Willen. Oder doch nicht ganz? Wie war das auf der Party, die er am liebsten verdrängen möchte? Wer und wo ist dieser Wes vierundzwanzig Stunden später?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Juli 2014
ISBN9783772540172
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    Buchvorschau

    Alles geschieht heute - Jesse Browner

    Jesse Browner

    Alles

    geschieht

    heute

    Deutsch von Anne Brauner

    Für Sophie und Cora

    Erhasche jeden Glücksmoment, lass dich lieben, verliebe dich selbst! Das ist das einzig Wahre auf der Welt – alles andere ist Unsinn. Und nur damit sind wir hier beschäftigt.

    Lew Tolstoi,

    Krieg und Frieden

    Inhalt

    Inhalt

    Wenn man den weiten Weg von der Upper East Side nach Greenwich Village zu Fuß gelaufen ist, und das mitten in der Nacht, sollte man sich eigentlich freuen, wenn man endlich zu Hause ist. Davon war Wes weit entfernt, als er sich die Treppe vor dem Haus hochschleppte. Er hatte vergeblich gehofft, dass ihm der lange Spaziergang durch die dunkle stille Stadt einen Weg aufzeigen würde. Unter anderen Umständen hätte es ein Abenteuer sein können, doch jetzt fand er sich wie im Nebel; seine Gedanken waren so windig wie Plastiktüten und gehörten ebenso wie sie in den Müll. Wäre er eine Figur in einem Roman gewesen – zum Beispiel Fürst Andrej in Krieg und Frieden –, hätte er sich die Gelegenheit zu einer Runde herber, aufrichtiger Gewissensprüfung nicht entgehen lassen, die zwangsläufig zu einer umwerfenden neuen Erkenntnis bezüglich der menschlichen Natur im Allgemeinen und seiner eigenen schwachen moralischen Haltung im Besonderen geführt hätte. Doch er war nicht Fürst Andrej – er war nur Wes, der Idiot Wes, der Junge, der gerade sein Leben für immer ruiniert hatte, und er war noch genauso verwirrt und unglücklich wie vor zwei Stunden, als er Lucys Wohnung verlassen hatte. Auf der Türschwelle blieb er stehen und holte Luft, doch auch das half nicht: Die Traurigkeit ging nicht weg. Schlimmer noch, sie trieb ihm eine Träne ins Auge und er legte die Stirn an den kalten, klammen Lack der Haustür.

    Wes wusste, wie schrecklich es war, wenn jemand in seinem jugendlichen Alter so traurig war. Es war eine Mischung aus Erschöpfung, Scham, Hoffnungslosigkeit und einem Gefühl von Verlust. Ein Teenager sollte sich nicht so fühlen. Er hatte damit zwar nicht viel Erfahrung, doch instinktiv spürte er, dass seine Traurigkeit die eines viel älteren Menschen war, entstanden aus Reue, verklärten Erinnerungen und den vertanen Chancen eines halben Lebens. Es war die Sorte Gefühl, die ein Loser mittleren Alters bei der Feststellung empfinden könnte, dass er zwanzig Jahre zuvor eine schlechte Entscheidung getroffen hat und alles, was seitdem schiefgelaufen ist, darauf zurückzuführen ist. Es war die Sorte Gefühl, die sich Wes ohne Weiteres bei seinem Vater vorstellen konnte. Eine weitere Träne rollte aus seinem Auge und blieb in den Wimpern hängen, sodass er alles verschwommen sah. Obwohl er den Schlüssel bereits ins Schloss gesteckt hatte, änderte Wes jetzt seine Meinung und setzte sich auf die oberste Stufe.

    Er war wie gelähmt, weil er in seiner Erschöpfung zu keinem Entschluss kam. Er hatte die Nacht durchgemacht, doch müde war er nicht. Er könnte zum Fluss gehen, der nur fünf Minuten entfernt war; er könnte sich in der aufgehenden Sonne vom frischen Wind durchpusten lassen und an diesem reinigenden Balsam gesunden. Die Chancen waren gering. Wes bezweifelte, dass er sich je wieder sauber fühlen würde. Normalerweise mochte er diese Tageszeit am liebsten und ging oft schon vor Sonnenaufgang mit Crispy Gassi. Er liebte die Straßen im Village, wenn noch niemand vor der Tür war und er sich wie auf einer leeren Bühne fühlte, die ihm allein gehörte, doch jetzt hatte er sich das verdorben. Die Morgendämmerung erschien ihm verhängnisvoll und düster, als würde der neue Tag die nächtlichen Ereignisse in Stein meißeln – die sich, wenn die Nacht kein Ende nähme, vielleicht noch ungeschehen machen ließen. Solange er draußen im Dunkeln verharrte, beschränkten sie sich auf die Welt der Träume, doch wenn er ins Haus ging und die Tür schloss, würde er die Ereignisse sich selbst überlassen und ihnen ein Eigenleben ermöglichen, das ihm einen anderen Ausgang des Geschehens verweigerte. Egal wie, er saß in der Scheiße.

    Werktags kurvten die Pendler auch um diese Uhrzeit auf der Suche nach einem freien Parkplatz um den Block, doch an einem Samstagvormittag waren die Straßen in diesem Viertel leer und verlassen. Fernes Grummeln von der Allee; der Wind, der vom Fluss aufkam, raschelte mit den wenigen welken Blättern, die noch an den Ginkgos hingen, dass sie zischten und seufzten wie Schieferstücke in der Flut. Einige Spätherbstwolken, die von der City angestrahlt wurden, hoben sich vom purpurroten Himmel ab und färbten sich zusehends von Gelbweiß nach Rosa. Ein Mann im Kapuzenshirt, die Schultern hochgezogen, Hände in den Taschen, sah zu Wes hoch, ging aber nicht langsamer und war gleich außer Sicht. Wes fragte sich, wie er auf einen Passanten wirkte, der nichts über ihn wusste. Würde er ihn fälschlicherweise für einen Junkie halten, einen verschmähten Liebhaber, einen obdachlosen Irren? Wes stellte sich gerne vor, wie andere ihn sahen, ganz egal ob Freunde oder Fremde; manchmal stand er vor dem Spiegel und versuchte, sich so zu sehen, doch es funktionierte nicht. Für sich selbst war er vollkommen unsichtbar. Kurz überlegte er, ob sich so ein Vampir fühlte – aller Hoffnung beraubt, die Ewigkeit vor Augen, die sich wie ein lebloses gefrorenes Meer vor ihm erstreckte. Alle Mädchen in seinem Umkreis lasen Bis(s); er würde stets einen großen Bogen um ein solches Buch machen, aber wetten, dass er ihnen eine Menge über Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit erzählen konnte? Wes stöhnte und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Eins war klar: Kein Fremder, der auf dem Bürgersteig an seinem Haus vorbeilief, würde ihn sehen, wie er wirklich war: ein Siebzehnjähriger, der gerade seine Unschuld verloren hatte. Er stand auf, drehte sich wieder zu der schwarz glänzenden Tür, schloss auf und ging ins Haus.

    Selbstverständlich war niemand aufgeblieben, um auf ihn zu warten. Im Flur war es dunkel, nur ein Schranklicht leuchtete trüb in der Küche, und ein Klecks vormorgendlicher Helligkeit schien durch das bleiverglaste Oberlicht. Totale Stille bis auf das Knarren der Dielen und das Brummen des Kühlschranks – sogar der Boiler im Keller war noch nicht angesprungen. Wes war zu Hause. Jetzt war die Nacht wirklich vorüber und er konnte nicht mehr vor ihrer Wahrheit davonlaufen oder ihren Folgen ausweichen, weil sie nicht länger ihm gehörte. Das, was er getan hatte, die Fehler, die er begangen hatte, zählten von nun an für immer zu der manifestierten Vergangenheit – jener Vergangenheit aus Schulbüchern, Wikipedia-Einträgen und Tweets. Er konnte nicht so tun, als wäre nichts passiert; spätestens am Montagmorgen würde die ganze Schule Bescheid wissen, und er würde niemals, nie wieder – und wenn er noch so lange lebte, ganz unabhängig von allem, was er tat oder wohin er flüchtete, bis zu seinem Todestag – derjenige sein, der er noch am Freitagmorgen gewesen war: jemand, der zwei Versionen der Zukunft zur Auswahl hatte, beide strahlend vor berechtigter Hoffnung. Fast alle Jungen, die er kannte oder die er sich in seiner Situation vorstellen konnte, hätten an seiner Stelle gejubelt. Wie viele Filme hatte er schon gesehen, in denen Nerds mit einem goldenen Herzen verzweifelt versuchten, ihr erstes Mal zu erleben? Und wenn es dann passierte – und es passierte natürlich am Ende immer –, war alles anders. Besser natürlich. Alle Leute, die er kannte, verließen sich auf diese Filme – vorher geil und verpickelt, nachher männlich und diskret. Und das Traurigste an diesem ganzen Durcheinander war, dass er selbst an diese Initiationsnummer geglaubt hatte – als krassen Ausdruck von Selbstbewusstsein, eine Quelle angenehmer Erinnerungen aus dem ewig sprudelnden Brunnen der Jugend. Also wirklich, sagte er sich, habe ich nun die Nacht mit einem schönen willigen Mädchen verbracht, das mich auserkoren hat und nach dem ich noch immer rieche, oder nicht? Bin ich nun noch unberührt oder nicht und werde ich in meinem Leben je wieder unberührt sein oder nicht? War es überhaupt wichtig, dass sie das allerletzte Mädchen war, das dafür infrage kam?

    Doch es nützte alles nichts, und das wusste Wes. Je länger er gegen das Gefühl ankämpfte, dass er gerade jegliche Aussicht auf Glück und moralische Orientierung zerstört hatte, die ihm je gegeben war, umso fester schnürte es ihm das Herz zu – eine chinesische Fingerfalle, allerdings eine, aus der man nicht durch Zusammendrücken befreit werden konnte. Wes zog die Sneakers aus und stellte sie leise an die Garderobe. Er war schon mit den Zehenspitzen auf der ersten Stufe, als in der Küche jemand mit Papier raschelte.

    Dort traf er seinen Vater an, barfuß, in Jogginghose und T-Shirt, beide Hände auf die Arbeitsplatte gestützt. Das bläuliche Licht des Einbauschranks betonte den Ansatz einer kahlen Stelle unter seinem schütteren Haar und beleuchtete die Architektenpläne in seinen Händen. Wes kannte diese Entwürfe für eine Kernsanierung der Küche, die wegen der Krankheit seiner Mutter auf unbestimmte Zeit verschoben worden war. Im Aquariumslicht der Schranklampe wirkte sein grübelnder Vater wie ein ungeschickter Verbrecher, den man auf frischer Tat ertappt hatte, erst recht, als er, überrumpelt von seinem unvermuteten Auftritt, die Pläne hektisch zusammenfaltete und zur Seite legte.

    «Hey, du bist früh dran.»

    «Du auch.»

    «Ich konnte nicht schlafen. Schlechtes Gewissen, wahrscheinlich.» Es lag auf der Hand, dass der Witz nicht ankam.

    «Ich auch nicht.»

    «Kommst du oder gehst du?»

    «Bin gerade gekommen.»

    «Musst du nicht zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein?»

    «Nein.»

    Sein Vater nickte, legte den Kopf in den Nacken und trank einen großen Schluck aus dem Wasserglas, um das peinliche Schweigen zu überspielen. Merkwürdig: Sein Vater war kerngesund, soweit Wes wusste, und auch nicht nervös oder ungeschickt, doch seine Hand zitterte immer sichtlich, wenn er etwas trank. Dadurch wirkte er wie ein Alkoholiker oder zumindest wesentlich älter, als er war. Wes stellte sich vor, wie in einer zukünftigen Welt seine einzige Erinnerung an seinen Vater sein würde, dass seine Hand beim Trinken gezittert hatte. Das oder wie ihm stets die Tränen kamen, wenn Brown-Eyed Girl im Radio gespielt wurde.

    «Wie war’s?»

    «Wie war was?»

    «Deine Party oder so.»

    «Ach, das.»

    Als ein porzellanhelles Klirren aus dem Gartenzimmer erklang, als rutsche eine Teetasse auf einer Untertasse, drehten sie sich beide zu der angelehnten Tür um. Dort unten hatte sein Vater eine eigene kleine Wohnung. Wes erhaschte einen Blick, oder dachte es zumindest, auf einen Schatten, der über die Wand an der Treppe glitt, und sah seinem Vater direkt in die Augen. Doch nur ganz kurz, denn es hatte keinen Sinn, und das wussten sie beide. In dieser Nacht würde es keine Geständnisse geben.

    «Crispy wahrscheinlich.»

    «Ich gehe mit ihr raus, wenn ich aufgestanden bin. Nacht.»

    «Nacht, Wes.»

    Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock blieb Wes lauschend stehen, um etwaige Anzeichen widerspenstiger Wachheit aufzufangen. Seine Mutter hatte einen unruhigen Schlaf und wurde oft von leisen Geräuschen oder ihrem eigenen Missbefinden geweckt. Selbst um diese Zeit konnte es passieren, dass sie etwas von einem wollte, falls man sie störte. Wes war gerne früh dran, doch an Werktagen hörte er oft, wie sie Narita mit ihrer kleinen Glasglocke weckte, noch bevor er aufgestanden war. Narita war das egal – dafür wurde sie bezahlt –, und theoretisch machte es ihm selbst auch nichts aus. So schlimm war es nun auch wieder nicht, dass er einmal in der Woche für seine Mutter zuständig war und ihr beispielsweise etwas zu essen machen musste – aber trotzdem. Obwohl er wusste, dass es nicht stimmte, kam es ihm manchmal so vor, als wache seine Mutter samstags extra früh auf. An diesem Tag übernachtete Narita bei ihrer Familie in Ozone Park und die Glasglocke schellte nicht für sie, sondern für ihn, Wes. In der aufbrechenden Dunkelheit konnte er sich leicht vorstellen, wie seine Mutter auf der anderen Seite der Zimmertür an die Decke starrte und Wellen bohrenden Bewusstseins bis in die letzte Ecke des Hauses sandte. Jetzt tat sie es jedoch nicht; ihre Tür stand einen Spalt offen und aus ihrem Zimmer hörte er, wie sie gleichmäßig verschnupft atmete. Dennoch würde sie ihn bald brauchen. Wes ging an Naritas Zimmer vorbei in den zweiten Stock, wo sein Zimmer lag.

    Der oberste Treppenabsatz unter der Kuppel des Oberlichts war die hellste Stelle im Haus, doch die Scheibe war so lange nicht geputzt worden, dass selbst an einem strahlenden Sommertag nur bleiches, beschädigtes Licht hindurchdrang. Der gräuliche Fleck, der jetzt die Morgendämmerung ankündigte, spiegelte Wes’ Stimmung perfekt wider, als würde er nicht nach einer langen anstrengenden Nacht in New York City ins Bett gehen, sondern als sähe er einem Tag hoffnungslosen Schuftens in einem sibirischen Kohlebergwerk entgegen. Er wankte in sein Zimmer und warf sich aufs Bett, weil er auf der Stelle einschlafen wollte. Doch fast sofort fand er, dass die Kleidung an ihm klebte und er sich irgendwie schmutzig fühlte; also stand er auf, zog sich bis auf die Unterhose aus und legte sich auf die Bettdecke. Aber sogar seine Boxershorts, die er erst vor zwölf Stunden aus dem Trockner genommen und angezogen hatte, noch warm und duftend wie frisch gebackenes Brot, fühlte sich unangenehm und verunreinigt an. Nachdem er sie im Liegen abgestreift hatte, wühlte er sich nackt unter die Decke. Doch nun war es sein Körper, der vor fauligen Ausdünstungen zu pulsieren schien, seine eigene Haut mit ranzigem Öl beschmiert, darüber eine Schicht aus Straßendreck, Zigarettenrauch, abgestandenem Wodka und biologischem Verfall. Innerlich seufzend begriff er, dass er nicht in den Schlaf finden würde, solange er sich so schmutzig fühlte. Er wälzte sich aus dem Bett und schlurfte ins Bad. In der antiken Badewanne mit den Klauenfüßen nahm er Noras Lavendelduschgel, stellte sich unter den Duschkopf und drehte das Wasser auf. Während er sich von Kopf bis Fuß einseifte und Shampoo und Spülung ins Haar massierte, versuchte er an nichts zu denken und daran zu glauben, dass seine Sorgen dem gesammelten Schweiß dieses ereignisreichen Tages glichen und einfach abgewaschen und durch den Abfluss gespült werden konnten. Doch das war auch nicht gut, denn wenn man sich selbst und seine eisernen Prinzipien verriet, wurde man für immer ein anderer Mensch, und das Duschgel musste erst noch erfunden werden, das diesen Makel entfernen könnte. So wurde sogar Haarewaschen zu einer ausgemachten Heuchelei. Also war er zu allem Überfluss auch noch ein Heuchler. Er kehrte in sein Zimmer zurück, ließ das Handtuch fallen, ging ins Bett, zog die Bettdecke hoch, drehte den Kopf zur Wand und schlief ein.

    Im Traum saß er mit einem Notizblock an einem langen polierten Tisch im Rose-Lesesaal der Stadtbibliothek. Die bereits beschriebenen Seiten aus gelbem Papier waren umgeschlagen und die aufgeschlagene Seite war mit mathematischen Gleichungen und Diagrammen in Schönschrift gefüllt. Er konnte sich nicht erinnern, sie notiert zu haben, zumal alles so fein gezeichnet war, dass es unmöglich von ihm sein konnte. Er gehörte zu einem Team von Effizienz-Experten, die ausrechnen sollten, wie viele Glühbirnen in den Kronleuchtern an der Decke steckten. Als er den Blick schweifen ließ, stellte er zudem fest, dass der Raum die Wirklichkeit gewordene Facebook-Seite eines anderen Nutzers war. Daraus ergab sich die Zusatzaufgabe, den Besitzer dieses Profils zu ermitteln, indem man die vielen hundert Menschen an seinem und den anderen Tischen triangulierte. Indem er ausrechnete, wie viele gemeinsame Freunde sie und der unbekannte Nutzer hatten, konnte er den Fremden identifizieren und gleichzeitig die Anzahl der Glühbirnen bestimmen. Er ging beim Rechnen davon aus, der Nutzer sei Barack Obama, doch als er aus einem der riesigen Bogenfenster sah und einen Linienjet entdeckte, der mit der Nase nach unten auf die westliche Fassade der Bibliothek zuflog, begriff er, dass das Facebook-Profil keinem anderen als Fürst Andrej gehörte und er deshalb nie im Leben die Anzahl der Glühbirnen würde ausrechnen können. Beim Aufwachen lag er auf dem Rücken und schloss aus dem Winkel, in dem das Licht vom Hof ins Zimmer fiel, dass er nur wenige Stunden geschlafen hatte. Die Nacht war vorbei, es war tatsächlich geschehen, und plötzlich stand der neue Tag vor der Tür. Er weinte wieder, still und ohne Tränen – als müssten seine Augen trocken würgen.

    In der Zeit, in der er geschlafen hatte, war der Boiler angesprungen; die alte Heizung fauchte und klirrte und im Zimmer war es zu eng und zu warm. Wes stand unvermittelt auf und öffnete das Fenster am Fußende. Dann legte er die Hände aufs Sims und reckte den Oberkörper ins Freie. An diesem frischen Spätherbsttag lag ein Hauch von Holzfeuer und Wald in der Luft. Der Himmel war nunmehr wolkenlos und hatte das Magenta der Stunde vor Sonnenaufgang bewahrt. Kühl hing die Sonne in den kahlen Ästen. Von hier konnte Wes alle Hinterhöfe ihres Häuserblocks sehen sowie das Durcheinander aus Dächern, Schornsteinen und Wassertürmen von halb Greenwich Village. Einige Höfe waren heruntergekommen, verwahrlost und verschandelt von verlotterten Schuppen, kaputten Ziegelsteinen oder Schieferplatten, überwuchert von skelettartig verheddertem Stacheldraht und kräftigem Efeu, schiefen Balken aus Kalkstein und bröckelndem Putz. Diese Häuser gehörten den Alteingesessenen wie Wes’ Familie, die schon vor der Sanierungswelle hier gewohnt hatten. Es gab aber auch andere Hinterhöfe, die mit neuen rückwärtigen Fassaden aus Dickglas mit massiven Drehtüren aus gebürstetem Stahl, mit neuer Stuckverzierung und Terrassen, Übertöpfen aus Zedernholz und teuren Gartenmöbeln ausgestattet oder von sorgsam gestutzten Hortensienhecken einer alten Sorte gesäumt waren, wenn sie nicht gleich als japanische Steingärten daherkamen. Diese Häuser waren im Besitz von Bankern, Hegde-Fonds-Managern und Medienmogulen.

    Wes blickte in den eigenen Hinterhof. Unter der uralten Platane ganz hinten konnte nichts wachsen, dort war nur Schmutz, das Stück Erde, wo der Hund hinpinkelte, wenn alle zu faul waren, mit ihm rauszugehen. Weiter vorne standen ein alter windschiefer Schreibtisch und ein Stuhl, auf dem sein Vater an sonnigen Tagen saß. Durchs Kellerfenster schlängelte sich eine weiße Verlängerungsschnur dorthin. Der Hof hatte im Laufe der Jahre mehrere utopische Bauprojekte über sich ergehen lassen müssen, zum Beispiel ein Baumhaus, einen Hühnerstall, Kaninchenställe und einen holzbefeuerten Backofen zum Brotbacken. Diese Vorhaben waren alle bis zu einem gewissen Grad vorangetrieben worden, doch am Ende wurden alle aufgegeben und wieder zerstört. Nichts war geblieben außer ein paar schlappen Beeteinfassungen mit Taglilien und Frauenfarn, einer Sitzgruppe aus Gusseisen, die mit grünem Gummi überzogen war, und einem alten Kugelgrill, der sich mühsam auf seinen drei Beinen hielt. Und Nora war da – sie saß mit angezogenen Knien auf der Bank, die den Stamm der Platane einrahmte, hielt eine Mädchenzeitschrift in der linken Hand und lutschte an ihrem rechten Daumen. Beim Lesen wiegte sie sich hin und her, nicht irgendwie gestört, sondern eben vertieft.

    «Hey, Mäuschen!», rief Wes zu ihr hinunter.

    Nora hob den Kopf und lächelte. «Hi Großer.»

    «Was machst du da?»

    «Ich lerne alten Slang auswendig.»

    «Ist Mom schon wach?»

    «Mmmm.»

    «Schon gefrühstückt?»

    «Mmmm.»

    «Und der Hund?»

    «An die Liane, Tarzan.»

    Wes lächelte sie noch mal an und pustete ihr einen Kuss zu. Er konnte gar nicht anders. Immer wenn er seine Schwester ansah, überflutete ihn eine Woge der Liebe. Sie war das fröhlichste, lockerste, verlässlichste, freundlichste und intelligenteste Kind auf diesem Planeten, und er wollte sie vor allem auf der Welt beschützen und dafür sorgen, dass sie nicht zu schnell und schon gar nicht in schlechter Gesellschaft heranwuchs. Sie sollte bis in alle Ewigkeit «Großer» zu ihm sagen, doch dann fiel ihm ein, dass auch er jetzt kein guter Umgang mehr für sie war, sondern die schlechte Gesellschaft, vor der kleine Schwestern beschützt werden mussten. Vielleicht musste sie auch vor ihm beschützt werden. Er rutschte ins Zimmer zurück, ging wieder ins Bett, legte sich auf den Rücken und deckte sich zu. Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und betrachtete den abblätternden Putz an der Decke.

    «I’m fixing a hole where the rain gets in and stops my mind from wandering.» Als Kind hatte Wes diese Zeile nie verstanden. Warum sollte ein Loch ihn davon abhalten, seine Gedanken schweifen zu lassen? Im Gegenteil: Er brauchte ein Loch, um dadurch in die Außenwelt zu flüchten. Doch jetzt, da er älter war und an seiner eigenen Zimmerdecke einen Riss entdeckt hatte, verstand er den Satz besser. Durch seinen Riss regnete es nicht herein, doch er musste immer wieder konzentriert hinsehen, was ihn davon abhielt, in endlose Tagträume abzuschweifen. Falls es irgendwann doch durchregnen sollte, würde es richtig stören, weil er sich dann noch intensiver darauf konzentrieren müsste. Wenn Geist und Verstand sich frei entfalten sollten, möglichst noch produktiv, brauchten sie einen abgeschlossenen Ort, wo man sich sicher und zufrieden fühlte und einen niemand ablenkte. Darum hatte Wes es immer schon für einem Fehler gehalten, dass Paul McCartney sein Zimmer bunt gestrichen hatte,

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