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Inselkoller: Kriminalroman
Inselkoller: Kriminalroman
Inselkoller: Kriminalroman
eBook279 Seiten3 Stunden

Inselkoller: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Auf der Nordseeinsel Diekerum ist Krieg um die Feriengäste ausgebrochen. Ein cleverer, in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlicher Großinvestor will das verstaubte Eiland auf den Standard des modernen Tourismus bringen, was einem Teil der traditionellen Vermieter an die Existenz zu gehen droht. Animosität und offene Feindseligkeit schaukeln sich hoch. Bernhard Hamm, bekannt aus Wolfgang Röhls Krimikomödie Im Norden stürmische Winde (MCE Verlag) sucht eigentlich nur ein paar Tage Ruhe und Frieden auf der landschaftlich herrlichen Insel, findet aber zunächst mal die Leiche einen Mannes am Strand. Ohne es zu wollen, gerät er in den Sumpf der Insel-Zwistigkeiten und bald sogar in den Verdacht, mit dem Tod des Insulaners etwas zu tun zu haben. Gemeinsam mit Lisa, der attraktiven Wirtin der beliebten Dünenkneipe Störtebeker, und Per, dem skurrilen Betreiber eines lokalen Inselradios, versucht er das Rätsel um die Leiche aufzudröseln. Doch als er endlich, nach vielen falschen Fährten, auf die richtige Spur kommt, wird die Sache für ihn gefährlich...

SpracheDeutsch
HerausgeberMCE Verlag
Erscheinungsdatum17. Feb. 2017
ISBN9783938097458
Inselkoller: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Inselkoller - Wolfgang Röhl

    Sprüche")

    1

    Schon im Moment, als er die mit Rostflecken übersäte, einen morbiden 50er-Jahre-Charme verströmende Fähre am Festland bestieg, ahnte Hamm, dass er einen Fehler gemacht hatte. Auf der Insel würde er keinen Spaß haben. Über die klapperige Gangway, deren Bodenwülste sich seinem Rollenkoffer tückisch entgegen stellten, enterte ein gemischtes und doch seltsam homogenes Völkchen die „Diekerum I".

    Da waren gut erhaltene Frührentnerpaare. Er mit Backenbart und Anglerweste, sie mit einer ungemein praktischen, rötlich gefärbten, im Nacken hoch rasierten Kurzhaarfrisur. Beide trugen ein unsichtbares Pappschild vor der Brust, Aufschrift: MAMI UND PAPI MACHEN´S NICHT MEHR. Andere Passagiere waren hager, fast ausgemergelt. Ihre Gesichter blickten ernst, als seien diverse Apokalypsen im Anmarsch. Ihre Kleidung war demonstrativ praktisch, auf eine altbackene, unfrohe Art. Hardcore-Anthroposophen in den Sommerferien, mutmaßte Hamm.

    Paare mit Kleinkindern, unablässig in hektische Brutpflege verstrickt, gab es ebenso wie Frauen-Reiseduos; die eine Hälfte dick und freundlich dreinblickend, die andere attraktiver und kühl angebunden. In ihrem Gepäck, dem Volumen nach zu urteilen, befanden sich drei Dutzend Schundromane des Genres „Pfiffige Frauen und wie sie schusselige, aber sympathische Männer flach legen". Dazwischen tobten und kreischten massenhaft Kinder, anscheinend für ein Heim auf der Insel bestimmt.

    Zwei ältere, füllige Frauensemester in wallenden rötlichen Gewändern, umhüllt von phantasievollen Schals, dicke Ketten mit bunten hölzernen Kugeln um Hände und Hälse, hockten in einer windstillen Ecke nahe den Rettungsinseln und unterhielten sich. Ganz beieinander, symbiotisch fast.

    Gütiger Himmel! Die Poona-Generation kehrt heim, durchfuhr es Hamm.

    Er bereute, dem Tipp seines Chefs gefolgt zu sein, der ihm geraten hatte: Wenn Sie sich mal richtig fertig fühlen, fahren Sie nach Diekerum. In Diekerum tanken Sie auf. Zehn Tage Diekerum, das ist wie drei Wochen Sylt. Genau betrachtet, konnte sich Hamm nicht vorstellen, dass sein eitler, elitärer Chef, Porschefahrer und Sylt-Fan seit vielen Jahren, jemals auf einer schrottigen Fähre nach Diekerum geschippert war. Und falls doch, dann nicht ein zweites Mal. Wahrscheinlich hatte er seine Weisheit über die Insel irgendwo aufgeschnappt und ungeprüft weiter verteilt.

    Es war aber ganz allein seine eigene Schuld, fand Hamm. Er hätte niemals den Urlaubstipp eines Fremden in die Realität umsetzen dürfen. Urlaub war, wie Bücher oder Filme oder Musik, eine hoch individuelle Angelegenheit. Hamm selber wurde manchmal von Bekannten, die seinen jetzigen Beruf kannten, als vermeintlicher Experte um Ferienziele angegangen, verweigerte sich aber stets. Wie alle anderen hatte er Lieblingsplätze, ja, aber die funktionierten allein in seinem eigenen Koordinatensystem. Nur wer einen anderen Menschen wirklich kannte, konnte ihm vielleicht Ratschläge geben, die für ihn passten.

    Hamm wusste niemanden, der ihn gut kannte.

    Außer Clarissa, vielleicht. Aber an die konnte er sich schwerlich wenden. Nicht mehr.

    Er spürte plötzlich heftigen Hunger. Er war mit der Bahn angereist, da die Insel autofrei war und er seinen Wagen nicht auf einen der teuren Stellplätze auf dem Festland parken wollte. Doch die Fahrt hatte sich als mühsam erwiesen. Er musste in verschiedene, immer verwahrloster wirkende Regionalbahnen umsteigen, die an jeder Milchkanne hielten, bis ein betagter Triebwagenzug endlich mit infernalisch kreischenden Bremsen direkt am Fähranleger stoppte. Zuletzt hatte Hamm ein Croissant im Bahnhof gegessen. Vom Oberdeck ging er über einen Abgang in den hinteren Passagierraum, wo ein Kiosk untergebracht war. Er nahm zwei Würstchen und ein Wasser und setzte sich im hinteren Teil der Kabine ans Fenster.

    Unten war es deutlich leerer und ruhiger als auf dem Oberdeck. Hier saßen, wie es schien, mehrheitlich Geschäftsleute und Bewohner der Insel, die sich für Ausblicke über das Wattenmeer und auf Sandbänken räkelnde Robben nicht interessierten. Darunter waren ein paar knorrige Watt-Eichen, die jeden Shantychor geschmückt hätten, aber auch Männer mit Halbglatzen, farblich schwer verunglückten Schlipsen und Wildlederjacken. Sie studierten Papiere oder hackten auf ihren Laptops herum.

    An einem abgewetzten Tisch vor dem Kiosk saß ein breitschultriger, untersetzter Mann mit fettigen Haaren, die er nach Art einer Elvis-Tolle nach hinten gekämmt hatte. Seine Lederjacke war zu auffällig geschnitten, die Schuhe zu spitz, mit hohen Hacken und aus Leder in zwei Sorten. Die Goldketten, die vom Hals und an beiden Handgelenken baumelten, wogen viel zu schwer, um schick zu wirken. Überhaupt, Goldketten ... wer trug so was noch?

    Vor dem Goldmann standen drei leere Korn-Flachmänner. Russe, kombinierte Hamm spontan, der den Typus öfter in türkischen Themenhotels wie dem „Kremlin Palace" erlebt hatte. Dort tauchte er allerdings nur als Mitglied von Familienclans oder Männerrudeln auf, niemals allein. Was wollte so einer an der stillen Nordsee?

    Zwei Reihen vor Hamm saß eine Frau, deren Halbprofil Hamm interessant fand. Nicht unbedingt schön, aber interessant. Halblange blonde Haare, schmales Gesicht, volle Lippen und eine Stupsnase, die sie jünger machte, als sie sein mochte. Hamm schätzte sie auf Anfang bis Mitte dreißig. Sie saß vor einem Kaffeebecher, vertieft in ein Buch.

    Bücher waren eine Zeitlang Hamms Beruf gewesen. Seine Passion waren sie geblieben. Er fand, sie verrieten viel über ihre Leser; mehr als Wohnungseinrichtungen oder Kleider. Als er die Würstchen gegessen hatte, stand er auf und ging zu einem Abfalleimer, der in ihrer Nähe stand. Auf dem Rückweg zu seinem Platz konnte er den Titel des Buches erkennen, das sie vor sich hielt. Der Himmel von Hollywood. Leon de Winter, assoziierte er. Geht in Ordnung, junge Frau. Sehr in Ordnung. Sie schaute nicht auf, als er vorbei ging.

    Vom Oberdeck führte eine perforierte Eisentreppe zu einer Art Galerie, die sich um den Schornsteintrakt erstreckte. Am linken Ende befand sich eine Tür, darauf ein Schild, das allen außer Mitgliedern der Crew den Eintritt untersagte. Vor der Tür standen zwei Männer voreinander wie Kampfhähne und brüllten sich an. Hamms Blick wischte über sie hinweg. Zwei ältere Zeitgenossen; der eine ein großer, schwerer Mann mit einer gewaltigen Wampe unter einem langen Übergangsmantel. Der andere deutlich kleiner, untersetzt, in einer braunen Wildlederjacke. Hamm wandte sich dem Meer zu, konnte aber Satzfetzen aus dem Geschrei destillieren.

    „... den Schaden bezahlst du mir, jeden Cent, sag ich dir, sonst erlebst du ..." (dick an untersetzt).

    „... leg dich doch gehackt, ich war das nicht ... hast dir genug andere Feinde ..." (untersetzt an dick).

    „... weil du die Insel gegen mich aufhetzt, überall rum lügst ..." (dick an untersetzt).

    „... du machst die Insel kaputt. Du allein! Aber nicht mehr lange. Wir werden dir ..." (untersetzt an dick, übertönt von der mächtigen Schiffströte, die ein quer aufkommendes Segelboot warnte).

    Der Kleine versuchte den Dicken am Mantel vor der Brust zu packen, wurde aber mit Wucht zurück gestoßen und hielt sich, vor Wut und Anstrengung keuchend, an der Reling fest. Hamm verspürte keine Lust, einer Schlägerei unter Fischköppen beizuwohnen und stieg die Eisentreppe zurück aufs Deck. Sie hatten längst die kleine Plattform mit der Wetterdaten-Messstation passiert, die neben der Fahrrinne aus dem Wasser ragte. Eine Eisenleiter führte hoch zu ihren technischen Eingeweiden. Daneben war – ebenfalls flutsicher – eine Art Rettungskorb angebracht. Wer mit dem Segelboot kenterte oder sich bei einer Wattwanderung verschätzt hatte und vom Wasser überrascht worden war, konnte sich mit etwas Glück dorthin flüchten und Hilfe herbei telefonieren. Möwen, die sich auf der Überfahrt rar gemacht hatten, umkurvten jetzt die Fähre; untrügliches Zeichen, dass ein Hafen in der Nähe war.

    Hamm sah die Insel langsam näher kommen. Eine pfannenflache Angelegenheit mit ein paar Hügeln, hell-grün-braun in Abstufungen, wie der Sand, die Wiesen, die mit Heide bewachsenen Dünen. An ihrer Westseite dominierte ein schlanker, sich nach oben verjüngender, rot-weiß gestrichener Leuchtturm das Bild. Das Wahrzeichen der Insel, verewigt auf zahlreichen Fotos, die in Kalender und Bildbände eingegangen waren. Er galt als die Mutter aller Leuchttürme an der Nordseeküste, wegen seiner Höhe von über 50 Metern und der klassischen Form.

    Über allem wölbte sich der blassblaue Himmel mit seinen Schäfchenwolken. Es roch nach Salzluft und Tang, ein wildes Aroma. Die Annäherung an die Insel war wie ein Zwischenhoch auf der Achterbahnfahrt, die er in den kommenden Tagen erleben würde. Gleich darauf ging`s wieder jäh bergab. Als Hamm die Insel betrat und den Hafen betrachtete, sank ihm der Mut. Ausgerechnet hier sollte er Urlaub machen? Später pflegte er zu räsonieren, wenn die Rede auf die Diekerumer Affäre kam: Hätte ich damals meinem Instinkt getraut und wäre stantepede mit derselben Fähre zurück gefahren, was wäre mir alles erspart geblieben ...

    Nach Tische ist der Mensch bekanntlich schlauer.

    Der Hafen entpuppte sich als Betonkonstrukt von ozeanischer Einfallslosigkeit. Vor dem Empfangsgebäude parkten Bollerwagen der Hotels und Pensionen, die Namen wie Seebär oder Meerjungfrau oder Störtebeker oder Inselruhe trugen. Ehrwürdige Vehikel darunter, manche bestimmt 20, 30 Jahre alt. Ein kleiner Zirkuswagen des Kinderzirkus Hotzenplotz war auch dabei. Das Gebäude selber schien leer zu stehen, bis auf ein Fahrkartenbüro an einer Seite. Es gab einen kleinen, kaum belegten Yachthafen und eine Mole für Saisonschiffe. Container für Müll standen herum, ebenso Getränke und Lebensmittel auf Paletten.

    Man sah, alles, was die Insel verbrauchte, kam vom Festland. Auch der Fisch, der in großen Kühlboxen angeliefert wurde. Schlemmerfrost nannte sich die Marke. Hamm konnte keine Fischkutter im Becken entdecken. Nahe der Hafenmeisterei an der Fahrrinne zum Festland, die bei Ebbe wie ein Fluss erschien, lagen zwei Motoryachten. Hauptsächlich diente der Hafen als Müllplatz. Ausrangierte Schienen einer Inselbahn, die es mal gegeben haben musste, Steine zur Uferbefestigung, geschreddertes Holz, dazwischen Berge von Flaschen-Leergut – der Platz zog jeden Ankömmling unvermeidlich herunter.

    Da das Fährschiff nur zur Hälfte besetzt gewesen war, zerstreuten sich die Passagiere rasch. Die meisten wurden von Elektrokarren abgeholt, dem Hauptbeförderungsmittel auf der Insel. Hamm wurde nicht abgeholt. Als er sich aufs Geratewohl, mehr auf das Foto achtend als auf Details, ein Hotelzimmer für die ersten Tage im offenbar hübschen Hotel Inselruhe buchte, dem laut einer Internetseite „führenden Haus der Insel", hatte er keine Ankunftszeit angegeben. Es gehörte zu seinen Reisegewohnheiten, niemals komplizierte Arrangements oder Treffs auszumachen, sondern sich bei Bedarf einfach ein Taxi zu schnappen.

    Hier gab es keine Taxis. In halsbrecherischem Tempo jagten E-Karren die Auffahrt vom Hafen über den Deich hoch, die Koffer der Angekommenen an Bord. Hamm streckte den Arm aus und winkte. Ein Karrenfahrer hielt an.

    „Moin, wie weit ist es von hier zum Dorf?"

    „Vier Kilometer. 40 Minuten."

    „Können Sie mich mitnehmen?"

    Der Fahrer, ein kurzer, breiter Bursche in einem blauen Overall, musterte Hamm widerwillig. „Wo wüllt Se denn hin?"

    „Hotel Inselruhe", sagte Hamm.

    Damit schien der Kurze zufrieden zu sein. Er nickte. „Geiht kloar. Gepäck hinten auf." Hamm konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass, hätte er ein anderes Ziel genannt, er gnadenlos stehen gelassen worden wäre. Er wuchtete seinen Koffer, der schwer wog allein wegen seiner Last aus Computer, iPhone, diversen Ladegeräten, Kamera und einem großen, lichtstarken Steiner-Feldstecher, auf den schmalen Anhänger. Der Fahrer drückte einen Hebel zur Seite. Ruckartig schoss der Karren nach vorn.

    Nicht nur der Hafen sah schlimm aus. Noch schlimmer war der dazugehörige Ort. Er bestand aus rund 50 identischen Holzhäuschen, die man, vermeintlich putzig, in blau, gelb und rosa angepinselt hatte. Die Farben waren verblichen, das Holz zum Teil verrottet. Ungeachtet des grassierenden Verfalls stand das Ensemble seit den 50er Jahren, als es erbaut worden war, unter Denkmalschutz. Irgendwelche Stubenhocker in Hannover, welche die Insel wahrscheinlich nur von Fotos kannten, hatten entschieden, es sei einmalig in Deutschland. Ein ganzes Dorf im selben Baustil zur selben Zeit hochgezogen – das musste unbedingt geschützt werden!

    Hintergrund war, dass die Briten nach der deutschen Kapitulation die Insel, deren Bewohner die Nazis schon Ende 1944 evakuiert hatten, über Jahre hinweg besetzt hielten. Während sie das Dorf im Inselinneren verschonten – ihre Offiziere hatten sich dort einquartiert –, funktionierten sie den Hafenort zur Zielscheibe für ihre Artillerie um. Als sie 1949 nach internationalen Protesten abzogen, war kein Gebäude am Hafen mehr höher als ein halber Meter. Ein Architekt hatte das Ganze aus einem Guss neu errichtet, damals eine Leistung. Heute waren die winzigen, überdies auch noch gegen jeden Aus- und Umbau geschützten Gebäude Gift für den Fremdenverkehr. Hamm hatte darüber in einem Magazinartikel unter der Schlagzeile „Wenn Denkmalschutz Irrsinn wird" gelesen.

    „Viel los auf der Insel?", wollte er wissen. Der Kurze schwieg, als hätte Hamm ihm eine Frage nach dem Urknall oder nach der Gefährlichkeit von Nanopartikeln gestellt.

    „Ich meine, sind viele Leute hier?, insistierte Hamm. Nach längerer Bedenkzeit emittierte der Kurze ein knappes „Warn schon ma mehr da.

    Hamm fragte nicht weiter. Auf die Jammerei speziell der Leute vom Transportgewerbe konnte er gut verzichten. Immerhin dankte er dem kurz Geratenen freundlich lächelnd, als er vor dem Hotel ausstieg. „Jo", brummte der und schoss davon, fast einen Hund überfahrend.

    Die Villa Inselruhe, 13 Zimmer, schneeweiß, zweigeschossig, auf einem angedeuteten Friesenwall gebaut, sah zauberhaft aus mit ihren Erkern und Holzveranden, den um das Haus verstreuten Strandkörben und dem grün gestrichenen Wintergarten, der das Restaurant beherbergte. Jetzt, am Nachmittag, lag das Haus wahrhaftig in Ruhe da. Eine freundliche Matrone mit schwerem slawischen Akzent, die auf sein Klingeln hin zur Rezeption eilte, gab Hamm einen Zimmerschlüssel.

    Das Zimmer lag im Obergeschoß. Hamm hatte Mühe, seinen nicht besonders großen Koffer über die verwinkelten Flure zu rollen. Das Zimmer unter dem Dach war klein und besaß schräge Wände, wie Jugend- oder Kinderzimmer. Blümchentapeten waren aufgeklebt, wie in einem Miss-Marple-Film. Das Bad hatte die Ausmaße einer Telefonzelle, und den Mini-Fernseher auf dem winzigen Schreibtisch nahm man besser auf den Schoß, wollte man etwas auf dem Bildschirm erkennen.

    Hamm blickte um sich. Wo den PC hinstellen? Es gab einfach keinen Platz. Doch das Problem erledigte sich von selber. Er fand nämlich auch keinen Zugang ins Telefonnetz. Das Telefonkabel verschwand in der Wand, und auch am Handapparat war keine Buchse für den PC-Anschluss. Hamm seufzte. Dies also war das führende Haus auf Diekerum. Es war auf seine Bedürfnisse zugeschnitten wie ein Heuhotel auf Allergiker. Er würde sich bald eine andere Unterkunft besorgen. Das konnte nicht schwierig sein. Die Insel schien nicht im Gästestrom zu ersaufen.

    Er duschte kurz, zertrümmerte dabei fast die Plastikschiebetür der klaustrophobisch engen Nasszelle und verließ die unwirtliche Stätte. Unten war es altmodisch-gemütlich, mit Seestücken an den Wänden, einem Leseraum mit Kamin sowie einer hübschen Bar mit viel Holz und Messinglampen. Das Hotel lag mitten im Ort, der sich hinter dem Deich duckte gegen den ewigen Nordwestwind, gut geschützt durch Baumreihen und Heckenrosenbüsche und viel wärmer als das umstürmte Vorland am Hafen. Alle lebten vom Fremdenverkehr, ohne Ausnahme. Es gab kein Gymnasium, weshalb die helleren unter den jungen Insulanern aufs Festland gingen, um nie mehr dauerhaft zurückzukehren. Daher stammten fast alle Kellner, Zimmermädchen und Verkäufer, die in der Saison zwischen Mai und Oktober auf der Insel waren, aus Ostdeutschland, Polen, Tschechien, manche auch aus Russland.

    Wie in Dubai, dachte Hamm. Die Einheimischen sitzen da, drehen Däumchen und lassen die halbe Welt für sich schuften. Bis das Öl weg ist. Respektive die Besucher. Doch während die Dubaiis mittlerweile große Anstrengungen unternahmen, sich auf eine neue Welt einzustellen, ging hier offenbar alles weiterhin seinen verpennten Gang. Nicht mal das Internet hatte es in die Gästezimmer geschafft.

    Er musste allerdings zugeben, dass der Ort, für seine Lage auf einer Frieseninsel ungewöhnlich dicht bebuscht und bewaldet, ein wahres Schmuckstück war. Im Zentrum reihte sich ein hübsches Restaurant an das nächste, die Konditorei an einen Buchladen, ein Eiscafé an ein Schmucklädchen. Es gab das Kurmittelhaus, das Haus des Gastes, die Kurverwaltung mit Leseraum, das Inselbad, eine Mehrzweckanlage, ein Kinderspielhaus, eine Minigolfanlage, die Strandkorbvermietung, eine kleine Pferdebahn, ein Buddelmuseum, was immer das war, mehrere Bio- und Naturkostläden, ein Reformhaus, einen Laden nur für Gesundheitssandalen. Ferner das Restaurant Kap San Diego, die Klöndeel, die Strandklause, die Friesenstuv, eine Cafe-Galerie und die Pizzeria Don Antonio, die Kneipen Blonder Hans und Klabautermann, der „original irische Pub" Shannon.

    Wie von vorvorgestern, dachte Hamm, der die letzthin etwas abgeflaute Irlandseligkeit der Deutschen nie geteilt hatte. Er sah Familienväter in dreiviertellangen Cargohosen Bollerwagen schieben, worin der Nachwuchs randalierte, hörte überprotektive Mütter ihren Kindern hinterher kreischen, bemerkte viele junge Alte um die 60, teils mit Nordic Walking-Stöcken armiert. Greise schien es nicht zu geben, nicht unter den Gästen. Dazu war die Insel zu kompliziert zu erreichen, und es war wohl auch zu unkommod, sich auf ihr zu bewegen.

    Die Insel ernährte zwei Buchhandlungen. Neben Krimis und Küstenkundlichem verkauften sie jede Menge esoterische und astrologische Ratgeber-Literatur. Hamm hatte geglaubt, der Höhepunkt des New Age-Booms, der in den 90er Jahren begann, sei längst überschritten, wurde aber eines Anderen belehrt. „Sieben geheime Reiki-Techniken, „Wissende Kristalle, „Botschaften aus der Engelwelt, „Qi Gong Energieheilung, „Channel werden für die Lichtsprache, „Das Handbuch der übersinnlichen Wahrnehmung, „Handbuch des Handlesens, „Ohana-Lichtsprache, „Goj, die alternative Superfrucht, „Das Pendel-Handbuch, „Die Energietore des Himmels öffnen, „Das Ayurveda-Handbuch der Energietypen. Willkommen im Mittelalter, dachte er.

    Gleich drei Läden, zwei davon von der Evangelischen Kirche betrieben, hatten sich der Dritten Welt verschrieben. Mit der müsse „fairhandelt werden, kalauerte ein Schild. Der „Weltladen bot nicht nur Nica-Kaffee und Tansania-Tee feil, sondern auch Buschtrommeln aus Mali und Hirsemörser aus dem Senegal. Hamm stellte sich die Urlauber vor, wie sie nach der Rückkehr versuchten, das Gerümpel in ihre Wohnung zu integrieren, darob schier verzweifelten und es schließlich, unbetrommelt und unbestampft, auf dem Dachboden „der nagenden Kritik der Mäuse" überließen. Wie es Karlchen Marx so schön formuliert hatte.

    Wo sich die Straßen Nordwai und Westerloog kreuzten, befand sich in einem hinreißenden weiß getünchten Friesenhaus die Filiale einer Großbank. Hamm blieb für einen Moment stehen und überlegte, ob er genug Bargeld hatte. Mit Karte zu bezahlen, war auf der Insel nicht

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